Johannes Richard zur Megede
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Johannes Richard zur Megede

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Sechsundzwanzigstes Kapitel.

Seit dem Brande waren drei Tage vergangen. Natzfeld mied die Menschen seinem versengten Schnurrbart zuliebe. Die Comtesse sollte schwer krank vor Aufregung sein, wenigstens schlich man in den Korridoren des Lorscher Herrenhauses auf Fußspitzen umher, und den Knechten wurde das Peitschenknallen verboten. Marie lag auf der Chaiselongue, wollte niemand sehen, auch den Bräutigam nicht; nur wenn der Vater leise hereinkam und ihr das Gesicht streichelte, küßte sie ihm wortlos die Hand.

»Soll ich wirklich nicht den Arzt holen lassen, Töchterchen? . . . Oder wenigstens die Tante?«

Sie schüttelte energisch den Kopf: »Nur allein will ich sein.«

Der Alte schlich gedrückt hinaus. Am vierten Tage war ihr Geburtstag. Sie stand wider Erwarten mittags auf, freute sich über den Geschenktisch, scherzte mit dem Vater. Er war ganz glücklich, daß sie so schnell genesen. Als Gampeschs Jagdwagen über das Pflaster rollte, zitterte sie – aus Freude des Wiedersehens, wie der Graf dachte. Aber als er die Brautleute allein lassen wollte, bat sie ihn mit den Augen, zu bleiben. So kam's, daß das Wiedersehen ein wenig vernünftig war; formell bei ihm, frostig bei ihr. Irgend etwas 192 lastete auf der Stimmung. Seine Lustigkeit klang gemacht, und sie redete geflissentlich, oberflächlich und viel. Da fühlte der Graf doch, daß er zu viel sei.

Als die beiden im Geburtstagszimmer allein waren, wollte Arthur die Braut ans Herz drücken. »Und nun kommt mein wirklicher Geburtstagswunsch, Mieze.«

Aber sie wehrte ihn ruhig mit der Hand ab, so daß er das Ende des Satzes vergaß. »Laß lieber . . . meine Nerven ertragen keine Berührung.«

»Dann wollen wir an die Luft gehen,« riet er galant.

»Meinetwegen.«

Auf dem Flur setzte sie sich mit träger Hand das Filzhütchen auf und steckte die Nadel ins Haar, ohne in den Spiegel zu sehen. Als sie draußen waren, wollte er ihr den Arm geben. »Erlaub.«

Sie wich aus und sagte nichts.

Er kniff die Augen etwas zusammen: »Hm . . . hm . . .« Eine braune Kastanie fiel vom Baume vor der Thür. Da bückte er sich langsam, wog die glänzende Frucht in der Hand und schleuderte sie dann aufs Pflaster, daß sie zersprang.

»Hat dir die Kastanie etwas gethan, Arthur?« fragte sie kühl.

»Nein, die Kastanie nicht! . . . Aber . . .« Und er sah an der Comtesse vorbei auf das gackernd zusammengelaufene Hühnervolk, das die Wirtschafterin gerade fütterte . . . »Der Hühnerstall ist mir auch 'runtergebrannt. Das interessiert dich aber wohl nicht . . . Wollen wir unsern alten Weg gehen?«

»Wenn's sein muß, auch den alten Weg.« Der ungewohnte Ton schloß ihm den Mund.

Sie gingen schweigend an dem Kuhstalle, dem Hofteiche vorbei. Die Kühe brüllten nach Futter, 193 die Enten schwammen gemächlich auf dem kaltblitzenden Wasser. Sie bogen auf den breiten Feldweg ein. Die Comtesse hatte die Ränder vor zwei Jahren mit Obstbäumen bepflanzen lassen und überschwengliche Hoffnungen auf künftige Ernten gesetzt. Die Hasen verstanden die Absicht falsch, nagten die junge Rinde im strengen Winter an, und der Gärtner erhielt seine Kündigung, weil die Strohumwicklung mangelhaft. Die Comtesse pflegte sich bei jedem Spaziergang an ihrer trostlos kränkelnden Schonung aufzuregen: »Dieser Gärtner . . . dieser Gärtner!« und Arthur mußte sie mit Liebkosungen beruhigen. Heute gingen die beiden hüben und drüben auf den schmalen Fußpfaden getrennt, nachdenklich wie zwei Menschen, die nicht zu einander gehören. Zuweilen haschte er nach einem Blatt in den niedrigen Kronen, blieb stehen, betrachtete die verharschenden schweren Wunden im jungen, schon moosigen Holze – schielte zu Marie hinüber. Wie merkwürdig die heute war! Müde und doch entschlossen; die schönen Augen glitten über die weite Ebene – über die gelbe Kleestoppel, von der ein Volk Hühner im schnarrenden Fluge aufging, über die schwarzen Brachen, die der Altweibersommer mit dichtem, feinem Gewebe besponnen, in der Herbstsonne blinkend wie ein silbergrauer Schleier. Und doch war Arthur überzeugt, daß sie von all dem gar nichts erblickte. Sie träumte wohl – aber was sie träumte, war kein guter Traum. Ihm wurde das Schweigen unheimlich. »Geht der Gärtner am ersten Oktober, Mieze? – Er ist übrigens ein Schwager von dem Domat, dem im Frühjahr das Kind starb . . .«

»Ich weiß . . . er bleibt auch . . .«

Gampesch räusperte sich scharf. »Weißt du das 194 Neueste,« fuhr er in einer andern Tonart fort, »dein Vetter Natzfeld kommt in den Reichstag . . . Ja, die Wühlereien von dem! Das hat alles der Loja auf dem Gewissen. An den Minister ist äußerst ungünstig über den Sasser berichtet worden . . . Man munkelt von einer ganz ungnädigen Aeußerung an allerhöchster Stelle. So fabelhaft vornehme Familie – Johanniter – Berufung ins Herrenhaus selbstverständlich – und der haut jetzt nach rechts und nach links, nach oben und nach unten! Die anständige Presse tobt gegen ihn. Er benimmt sich aber auch in einer Weise. Neulich wieder auf dem Provinziallandtage die Scene mit dem Gerguhn! Der widerspricht seinen Auseinandersetzungen sehr taktvoll, rät zur Mäßigung, und da sagt ihm Natzfeld in seiner infamen Manier so übers Handgelenk weg: ›Sie haben so viele Wandlungen zum Bessern durchgemacht, Herr v. Gerguhn, daß Sie wohl wissen müssen, was zur Zeit das Beste ist.‹ Sein Schwiegersohn Domat hat nachher den Sasser zur Rede stellen müssen, und da antwortet er dem ganz freundlich: ›Aber Herr Domat, das sollte ja doch eine Anerkennung sein.‹ Mit der windigen Erklärung gab man sich auch zufrieden. Denn Natzfeld ist heutzutage thatsächlich eine Interpunktion, über die man bei der Rechtschreibung leicht stolpern kann. Es giebt viele Besitzer, die noch vor einem halben Jahr auf ihn schimpften und jetzt auf ihn schwören wie aufs Kruzifix.«

Sie war stehen geblieben und sah ihn mit einem bösen Lächeln an: »Hasso hat Mut und reißt die andern mit. Und daß er den Mut auch ohne Befehl hat, könnt ihr ihm wohl nie vergeben?«

Sie wollte weiter gehen. Er aber vertrat ihr 195 den Weg, faßte ihre Hand. »Mieze!« Sie versuchte sich loszumachen, er aber ließ sie nicht, und ohne sich um ihr widerstrebendes, unwilliges Gesicht zu kümmern, sagte er in zärtlich besorgtem Tone: »Das mir? Heute an deinem Geburtstag? Hat denn der Weg für dich gar keine Erinnerungen? Wir sind ihn so oft gegangen, haben hier innerlich so viel erlebt!« Er zeigte auf das graue Massiv des Gampeschkeimer Kirchturms, der durch die Waldlücke herüberschaute. »Schämst du dich vor dem alten Burschen gar nicht? Er hat uns so oft glücklich gesehen, so glücklich!«

Sie aber antwortete mit kalter Vernunft: »Es ist ein Weg wie viele andre – ich finde gar nichts Besonderes an ihm. Ich wundre mich nur, daß ich ihn so oft gegangen bin. Und der Turm? Alle Ordenskirchen sehen so aus. Ich habe ihn zum letztenmal bei dem Brande gesehen, und seitdem habe ich ihn gar nicht mehr gern, wenn ich ihn überhaupt je gern gehabt habe.«

Da ließ er langsam ihre Hand los. »Ja, wenn wir so weit sind, Mieze . . .«

»Ja, so weit sind wir, Arthur.«

Sie gingen weiter. Auch er sah von der Gegend nichts mehr. Er grübelte. Er suchte den inneren Grund zu dieser Scene, die kaum einer Laune entsprungen, und fand ihn nicht. Die Braut war wohl kühler gewesen in den letzten Monaten, aber auch gesetzter, älter. Und ihn freute diese Wandlung. Es war ja die Klärung des köstlichen Mostes, der sich zuweilen recht ungezogen gebärdet und sein Taktgefühl auf bedenkliche Proben gestellt hatte. Die häßlichen Leidenschaftswallungen schwanden, die schöne korrekte Liebe blieb – und er hatte sie ja 196 bei aller Leidenschaft immer so korrekt geliebt! Und je schärfer er darüber nachdachte, je schuldloser er sich fühlte, er, der ewig Gleichmäßige, Liebenswürdige, Unentwegte – umsomehr fühlte er seinen Aerger, seine Energie wachsen diesen rätselhaften Nerven gegenüber, die krankhaft vibrierten in einem Augenblick, der ihnen auch nicht einen Schatten von Grund gab. ›Nerven, Nerven, – natürlich diese verwünschten Nerven, denen eine große Aufregung willkommen, weil sie so lange thatenlos geruht.‹

Darüber hatte er gar nicht gemerkt, daß sie lange im Walde waren, in dem herbstlichen Walde mit ganz leisen Vogelstimmen, wehmütigen Sonnenlichtern und Moosgeruch. Plötzlich blieb sie stehen – er mechanisch mit. Die uralte Grenze zwischen den Gütern zog sich hier als gewundener Birschpfad durch den Wald, nur von Förstern und Holzfällern respektiert. Ein kleiner Teich lag da noch auf Lorscher Gebiet mitten im Holze. Die Gutsleute weichten hier ihren Flachs ein. Das Wasser war stumpfschwarz, tief, ein strenger Pflanzengeruch entströmte dem bewegungslosen Weiher. Es war ein melancholischer Ort, so still, so tot, als läge ein böser Zauber über der Flut.

»Wollen wir uns hier verheiraten?« fragte er mit etwas bissigem Humor.

»Ich gehe nicht weiter,« antwortete sie kurz.

»Warum, Mieze?«

»Weil ich nicht will!«

Da riß ihm die Geduld. »Nun aber Klarheit, Kind!«

»Bist du noch nicht klar?« fragte sie ruhig zurück.

»Klar insofern, als deine Launen aufhören müssen – Was habe ich dir gethan, bitte?«

197 »Nichts.«

»Das ist doch keine Art!« fuhr er zornig fort. Sein hübsches Gesicht entstellte sich dabei merkwürdig. »Ich habe keine Lust mehr, mich um Nerven zu kümmern. Wenn das so weiter geht, dann wirst du einfach der Skandal der Gegend. Ich habe dich mit meiner Engelsgüte verwöhnt, Mieze.«

»Wirklich? Meinst du?«

»Ja, was soll denn das heißen, Kind?! Ich stehe ja hier vor dir wie der dumme Junge von Meißen . . . Deine Wahrheitsliebe, dein Pflichtgefühl in allen Ehren – aber dein ganzes Leben ist ja eine fortwährende Brüskierung der Gesellschaft. Dir beginnt dabei das Taktgefühl bedenklich abhanden zu kommen. Von mir will ich gar nicht sprechen, obgleich meine Liebe doch auch nicht alle Püffe verträgt. Selbst die einfachste Schicklichkeit läßt du außer acht: du bist bei dem Brande dabei, läufst zu Fuße weg, ohne mich überhaupt gesehen, gesprochen zu haben.«

»Gesehen doch, Arthur.«

»Um so schlimmer! Ich verzeih' dir das vielleicht, aber die Gegend: Doerstedts, Gerguhns, Nellenburgs, mein Pfarrer, die Hofleute, das Gesinde, das dich in der Unglücksnacht gesehen – die sagen sich nicht, was ich natürlich weiß: ›Die Gräfin ist weggelaufen, weil sie Loja und den Natzfeld nicht riechen kann und weil sie mal wieder ihre Nervenattacke hat.‹ Ich höre die Leute tuscheln: ›Haben Sie nicht gehört? . . . Weggelaufen . . . in so einer Unglücksnacht . . . bei der Brautschaft muß verschiedenes faul sein.‹«

»Und wenn das nun wirklich wäre?« antwortete sie, ohne sich zu rühren, mit kaltem Gesicht.

198 Darauf stieß er durch die zusammengepreßten Zähne: »Red doch nicht noch Sachen, die du nicht verantworten kannst!« Mit starker Selbstbeherrschung fuhr er fort: »Man muß eben zuweilen von seiner absoluten Gräflichkeit etwas zurückstehen, auf seine berechtigten oder unberechtigten Abneigungen verzichten, wenn's der Anstand erfordert! Die Gesellschaft hat Rechte, sehr große sogar. Gut . . . wir können beide den Loja nicht ausstehen, uns ist Natzfeld unsympathisch – er hat mir zum Beispiel bei dem Brande gar nicht gefallen! Aber seine Leute wie er waren nun einmal zum Löschen. Natzfeld hat in meiner Abwesenheit Erstaunliches geleistet, Loja wollte meinen Knecht retten und wäre dabei um ein Haar ums Leben gekommen. Ja . . . Ja, da hat man eben Pflichten, da erkundigt man sich nach denen, die sich für uns aufgeopfert, ob wir sie nun lieben oder nicht. Dem Sasser sind bei der Gelegenheit nachträglich zwei wertvolle Sattelpferde eingegangen, Loja hat einen halben Tag besinnungslos gelegen. Und von dem ganzen Brand erzählst du dem Vater überhaupt nicht ein Wort. Ich muß zufällig den andern Tag 'rüberfahren und die ganze Geschichte noch einmal erzählen . . . Dein Vater war wie aus den Wolken gefallen, schickt sofort einen reitenden Boten nach Schwolmen, wo es zu spät und Loja schon wieder halbwegs auf Deck war. Da wäre es deine Pflicht gewesen, noch am Abend jemand hinüber zu schicken und Natzfeld tags darauf einen dankbaren Brief zu schreiben. So krank, daß du nicht wenigstens diktieren konntest, warst du doch nicht! Das ist Mangel an Delikatesse. Ich bin am andern Morgen mit dem frühesten selbst nach Schwolmen gefahren, nicht allein weil 199 mich Lojas Aufkommen interessiert, sondern weil das eben gesellschaftlich unumgänglich ist. Ich wurde freilich nicht angenommen . . . aber man sieht doch den guten Willen . . .«

»Heuchler!« Sie trat auf ihn zu mit einem so kalten Blitz ihrer dunkeln Augen, daß er unwillkürlich zurückwich, mehr vor der unerbittlichen Kühle, dem Ton. »Ja, du . . . du!« wiederholte sie.

»Marie?« Das Kosewort verging ihm.

»Weißt du, was du bist? Ein korrekter . . . Mann.« Sie hatte Schurke sagen wollen. »Ich habe hinter dir gestanden bei dem Brande . . . als er hineinstürzte, verloren gewesen wäre . . . wenn nicht . . . Hast du Hasso je so gesehen? Weißt du nun, was Freundschaft heißt, weißt du, was einer kann, der den Freund retten will à tout prix, und was die andern können unter so einem? Und du bist doch eigentlich sein Freund! Es war dein Knecht, den er retten wollte. Und ein einziger stand dabei, ohne die Hand zu rühren und starrte in das Loch in der Wand, das sein Grab werden sollte – du! Da riß mir der Schleier. Er sollte da drinnen umkommen: darum betetest du vielleicht. Korrekt, sehr korrekt! Aber der Mord ist anständiger.«

»Ich verstehe nicht, was du meinst,« antwortete er mit mühsamer Fassung. »Gut . . . wir beide, Loja und ich, haben etwas miteinander vorgehabt. Ich habe allerdings . . . ich hätte dir auch später gesagt . . . ich will dir jetzt alles sagen.«

Sie zuckte verächtlich die Achsel. Ein kalt-grausamer Zug legte sich um den leidenschaftlichen Mund. »Was könntest du mir Neues sagen – was? Es war ja auch nicht die Sache! . . . Einen Mord selbst könnte ich dir vergeben . . . aber du 200 hast nicht gemordet – du nicht! . . . Du stehst, du starrst in das Loch und denkst: ›Wenn er nur nicht wieder herauskommt!‹ – und dann lächelst du, etwas öde freilich – und eine Stunde später erkundigtest du dich nach dem Befinden des Patienten . . . Lag dir so viel an seinem Wohlbefinden? Oder hofftest du, doch noch zu hören, daß nachträglich der Himmel dein Gebet erhört und ihn zu sich genommen hätte? . . .«

Gampesch rührte sich nicht. Er sah auf den schwarzen Teich.

Sie aber fuhr erbarmungslos fort: »Und damit du nicht etwa denkst, es seien ›Nerven‹, ein plötzlicher falscher Impuls – ich war gar nicht krank, ich habe nur gekämpft mit einer Art Pflichtgefühl – die Liebe ist ja schon lange tot!«

Da erwachte er, und ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. »Mieze, sag alles – nur das nicht!«

Doch ihr Herz schlug keine Antwort mehr. Mochte er verbluten, sie verblutete ja auch. »Ich will fertig werden mit dir, hier auf dieser Stelle! Wir werden uns korrekt trennen, Arthur.«

Er sah sie gedankenlos an. »Korrekt?« Mechanisch wiederholte er das letzte Wort.

»Verstehst du dich selbst nicht mehr, Arthur? Korrekt! . . . Das ist ja eure Devise, unter der ihr alles dürft – lügen, trügen, stehlen. Nur morden nicht! Dazu langt's nicht . . . da müßtet ihr ja herauswachsen aus eurer Korrektheit.« Leiser fuhr sie fort: »Wenn ich du gewesen wäre, aus einem ritterbürtigen Geschlechte, mit blanker Waffe an der Seite, mit deinem lächelnden Haß – ich hätte ihn doch erstochen, dafür, daß ich ihm etwas gethan habe!«

201 Ihm mochte vor der Frauenlogik grauen: »Du bist wahnsinnig!«

»Meinst du?« lachte sie, »ich bin nur nicht korrekt! Mit der Korrektheit habe ich ja ein Jahr gekämpft . . . danke doch Gott auf den Knieen, daß er mich im letzten Augenblick erleuchtet hat! Wenn er's nun nicht gethan, wenn wir nun vielleicht zehn, zwanzig Jahre miteinander gerungen hätten, unehrlich, heimtückisch, bis wir verdarben oder verdorrten? Oder wenn mir nach zwanzig Jahren, wo nichts mehr zu ändern, die Schuppen von den Augen gefallen wären, wenn ich erkannt hätte, was ich jetzt weiß: daß die korrekte Lüge euer Leben – glatt, kühl, scheußlich wie ein Reptil – ich hätte ja als alte Frau noch in den Teich hier springen müssen! Du schweigst, du siehst mich von der Seite an und denkst: ›Sie ist nervenkrank.‹ Ich sehe dich auch an: du bist hübsch, du bist liebenswürdig – ich lasse dir alles Gute – nur das eine versteh' ich nicht mehr: daß ich dich je geliebt habe!«

Er hob die Hände, er wollte etwas sagen . . . ein paar gurgelnde Laute . . . endlich sprach eine fremde, heisere Stimme: »Laß mich allein.«

*

Sie ging. Sie hatte kein rechtes Gefühl mehr für Zeit und Ort. Nun schritt sie den schmalen Grenzpfad dahin, der seit Jahrhunderten die Güter schied – und auch sie beide fortan trennte. Erst war's ihr leicht ums Herz. War doch der Alp von ihr genommen, war sie doch frei! Aber wie sie tiefer hineindrang in den herbstlichen Wald, in die Einsamkeit, da fühlte sie wieder das alte, trostlos beklemmende Gefühl am Herzen. Sie setzte sich auf einen vermorschten Fichtenstumpf; sie war müde. 202 Hier bleiben, ohne Bewegung, ohne Gedanken, stundenlang, ewig; nur auf das dürre Waldgras starren, wo die braunen Käfer klettern, die Ameisen hasten und Hunger und Liebe denselben erbitterten Kampf kämpfen wie bei den Menschen – den Lauten des Waldes zuhören, dem Singen der Fichtennadeln, dem verschlafenen Taubengirren, dem scharfen Pfiff des Raubvogels in der Luft: und dabei nichts zu empfinden als das wunderbare Gefühl der Befreiung! Die Comtesse hoffte vergebens. Mit unheimlicher Klarheit stieg die schreckliche Scene wieder vor ihr auf, sie vernahm ihre Worte, sie sah ihn, und ihr war's, als wenn erst jetzt alles für sie Gestalt und Sinn gewänne. Sie bereute nichts. Dennoch fühlte sie sich schlecht, elend. Und ob sie auch gegen das dumpfe Gefühl rang, heiß, verzweifelt – es drang doch durch und klagte sie laut an: du bist schuldig, schuldig durch die sündige Liebe zu einem andern Mann! Sündig? Comtesse Marie preßte die Hände auf die Augen. Ihr Blut wallte heiß und begriff die Sünde nicht, aber ihr Herz schlug schwer und verdammte sie.

Sie stand auf. Der Gläubigen war eine Erleuchtung gekommen. Sie wollte zu dem alten Pfarrer nach Gampeschkeim gehen und beichten.

Die Comtesse ging querfeldein aus Angst, einem Bekannten zu begegnen. Auf den Feldern gruben Dorfleute ihre Kartoffeln, rückten an der Mütze und sahen der Einsamen verwundert nach. Hochgeladene Wagen mit Wiesengrummet schwankten über die löcherigen Wege. Knechte knallten mit der Peitsche, Mädchen sangen. Es war ein müdes, melancholisches Lied. Heuduft schwebte in der schweren Luft und der starke Geruch des Kartoffelkrautes. 203 Die Dorfstraße lag menschenleer, still; die Leute waren draußen auf der Arbeit. Nur aus dem Tischlerhause klang das scharfe Kreischen der Säge. Ein struppiger Pudel lag am Wege und sonnte sich in der matten, kraftlosen Herbstsonne. Als er die Comtesse sah, wedelte er und blinzelte sie gähnend an. Es war ein alter Hund, den sie schon seit Jahren kannte. Heute erinnerte sie sich seiner nur ganz unbestimmt und wunderte sich über seine Freundlichkeit. Es kam ihr alles fremd vor. Ein säuselnder Windstoß trug welke Blätter aus dem Gampeschkeimer Park zu ihr hinüber. Ein Blatt blieb ihr am Kleide hängen. Sie schüttelte es ab. Als das Blatt noch jung war, hätte sie's vielleicht aufbewahrt zur Erinnerung an Arthur. Die Schloßfront stieg auf, kalt, weiß, dahinter verkohltes Sparrenwerk, ein verräucherter Mauerrest – es roch scharf und unangenehm nach Brand. Die alten Weiber vom Hospital durchsuchten kopfschüttelnd den Schutt, barfüßige Flachsköpfe spielten unter den Pferdestalltrümmern »Verbrennen«.

Das Pfarrhaus lag von der Verwüstung abgewandt hinter dem Kirchturme – ein altes, gemütliches Haus inmitten einer Obstbaumwildnis hart am Fluß. Ueber die weiße Mauer des Gottesackers sahen verwitterte Eisenkreuze herüber, und das Geißblatt wucherte die rissigen Steine empor, neugierig auf die große Welt da draußen – ein wanderlustiger Leichtfuß, dem die Friedhofruhe und die Friedhofblumen zu langweilig. Aus dem Obstgarten klangen Stimmen: eine lustige, kreischende – die Comtesse erkannte sofort das plärrende Ostpreußisch der Pfarrfrau – und eine etwas salbungsvolle – sie gehörte dem Vikar. Eine Begegnung 204 mit denen reizte sie eigentlich nicht. Sie machte noch ein paar Schritte vorsichtig weiter, und da erblickte sie auch die spitze Nase der Pfarrfrau, die so gut zu ihrer Stimme paßte, nach einem Pflaumenbaum erhoben, zu dem eben der Vikar im schwarzen Rock gravitätisch, als wäre es die Kanzel, auf einer Leiter emporstieg. Die Pfarrfrau lachte, ein Pflaumenregen prasselte hernieder . . . »Stärker, Herr Kandidat, stärker!«

Auf der wackligen Holzveranda vor dem Hause stand der alte Geistliche mit Schlafrock und Pfeife. Er hatte das Käppchen gelüftet und lächelte. Der Comtesse aber fiel es auf die Seele, daß er zu ihrem Beichtiger sehr alt sei. Schon reute sie der Entschluß, sie wollte sich ungesehen davonstehlen – es war zu spät; die neugierigen Brillengläser der Pfarrfrau hatten sie noch im letzten Augenblick erfaßt: »Gräfin, Gräfin!« Auch der Pfarrer winkte, und der Vikar stieg gravitätisch die Leiterstufen wieder hinab.

Jetzt stand Marie bei ihnen.

»Vor fünf Minuten ist der Herr Rittmeister hier vorbeigekommen – soll ich jemand nach ihm schicken?« Die spitze Nase bewegte sich diensteifrig.

»Nein, nein!« wehrte die Comtesse lebhaft.

Und die weltkluge Frau zog daraus und aus dem abgespannten Zug in der Comtesse Gesicht einen sehr vernünftigen Schluß, den sie aber sofort in täuschenden Wortschwall hüllte. »Darf man auch mündlich noch gratulieren zum Geburtstag, Gräfin? Zweiundzwanzig Jahre ist doch das schönste Alter!« Und mit liebenswürdigem Vorwurf sich an den Gatten wendend, der noch immer auf der Veranda stand: 205 »Aber Karl, vergißt du ganz den Geburtstag? Komm gleich 'runter zu gratulieren!«

Der geistliche Herr aber schwenkte nur humorvoll sein Käppchen. »Darf ich's von hier oben thun, Comtesse? 'runter ginge es die wackligen Stufen wohl noch, aber wieder 'rauf, da streiken die alten Beine . . . Ich weiß Ihren Geburtstag sehr genau. Ich habe Sie ja doch getauft, konfirmiert und gedenke Sie auch mit Gottes Hilfe zu trauen . . . Aber man wird mit dem Alter egoistisch und vergißt gern die Geburtstage. Man denkt dabei immer an den eignen. Und ob der überhaupt nochmals für mich wiederkehrt, das ist doch eine sehr zweifelhafte Sache.«

Die Comtesse lachte: »Wo denken Sie hin, Herr Pfarrer, Sie werden uns alle noch überleben!« und wollte die Stufen hinauf, aber der Vikar machte gerade eine eckige Verbeugung: »Möge eine gnädige Vorsehung Sie, gnädigste Comtesse, noch lange dem Lande erhalten! Das ist das Gebet der Armen und Vedrängten – und auch meines.«

Früher hätte Marie die salbungsvolle Schmeichelei nicht ungern über sich ergehen lassen, jetzt aber streifte ihr Blick den jungen Mann mit der kräftigen Priesternase und der gedrungenen Zelotenstirne schnell, doch scharf, und sie dachte: ›Du willst dich des Gampeschkeimer Patronats versichern – wenn du wüßtest, wie wenig meine Protektion von heute ab wert ist!‹ Sie nickte ihm darum nur einen kühlen Dank und ging zu dem alten Pfarrer hinauf.

»Ich möchte Sie allein sprechen, Herr Pfarrer,« sagte sie leise zu ihm.

Er sah sie freundlich an mit seinen alten, schwachen Augen. »Wir wollen dann in mein 206 Studierzimmer gehen, liebe Comtesse.« Seine Frau, die alles gehört und noch mehr ahnte, machte einen kecken Versuch, den Beichtschauplatz in ihr blaues Zimmer hinüberzuspielen. Es sei gemütlicher dort, der Kaffee gerade fertig. Doch der geistliche Herr wies sie mit sanftem Nachdrucke ab: »Es ist besser so, Klärchen.«

In dem Studierzimmer schwebte noch der bläuliche Rauch an den bunten Gardinen. Der matten Herbstsonne ward's schwer, durch die künstliche Dämmerung bis zu den hohen Bücherregalen im Hintergrunde durchzudringen, wo das Rüstzeug des Glaubens, die streitende Theologie, in starken Folianten geborgen war, und daneben die heidnische Klassicität in verblaßter Vergoldung schimmerte – auch das Weltkind Ovid darunter. Aber auf dem braunen Kachelofen, dem riesigen Mahagonischreibtisch spielten die Strahlen vergnüglich, kletterten über ein altes Taschentuch, stiegen neugierig in den Tabakskasten und untersuchten die schwarze Tiefe der Schnupftabaksdose. Jedoch am lustigsten spiegelten sie sich in einer eisernen Brille und in einer bauchigen Kaffeetasse, die hinter einer aufgeschlagenen Handbibel den Schreibtisch zierte.

»Seien Sie mir willkommen, Comtesse,« grüßte der geistliche Herr. Dann liebkoste er mit zittriger Hand einen häßlichen Hund, der ihn winselnd umsprang, doch der Gräfin stark mißtraute. »Er ist ganz jung,« entschuldigte der Pfarrer. »Soll ich ihn 'rausbefördern? Er ist aber ganz harmlos. Nur wenn ich Freitag meine Predigt mache, will er partout mit mir spielen, und das geht doch nicht! Etwas Jugend muß man um sich haben. Und wenn's nur ein Hund ist – es bewahrt uns vor 207 dem Grämlichwerden. Meiner Frau ist der Fixköter ein Dorn im Auge, weil er Stühle annagt und immer zur Unzeit bellt. Aber haben wir uns nicht alle so unvernünftig benommen, als wir jung waren? Und wenn er mir auch manchmal die Schlafrocktroddeln zerfetzt – mag er! Dafür ist er ja jung . . . Sehen Sie, so schrumpft der ganze Horizont mit dem Alter zusammen. Früher war mir mein Pfarrsprengel viel zu klein – und jetzt ist dies Zimmer meine Welt. Vom Schreibtisch zum Tabakskasten oder zum Ofenrohr, wo ich meinen Kaffee immer stehen habe, zuweilen ein Ausflug bis ans Bücherregal . . . das sind so meine Spaziergänge . . . Ja, liebes Kind, ich bin sehr alt! – Und wenn Sie etwas Schweres auf dem Herzen haben, so weiß ich nicht mal, ob es der Rechte ist, an den Sie sich wenden. Kommen Sie, und setzen Sie sich auf meinen Arbeitsstuhl, er ist sehr bequem, und machen Sie nicht ein so trübseliges Gesicht, als wenn Sie beim Zahnarzt oder in einer Klinik wären . . . Nur Vertrauen sollen Sie haben! Eine hochnotpeinliche Angelegenheit wird's ja nicht sein.«

Die Comtesse lächelte wehmütig. »Hochnotpeinlich? Nein.« Sie wußte nicht recht, wie sie anfangen sollte. Es war ein alter guter Mann, und sie hatte ihn lieb, aber konnte er noch die Sünden der heißen Herzen verstehen?

Da setzte er sich dicht neben sie und nahm ihre jungen, schlanken Hände in seine runzligen alten. »Ist's mit Ihrem Bräutigam was, Comtesse?«

Sie atmete schwer. »Ja.«

»Etwas Schlimmes?«

»Das Schlimmste, Herr Pfarrer! Ich bin nicht mehr verlobt.«

208 Der alte Herr wurde unruhig. »Ei, ei! Es ist doch so ein prächtiger Mensch . . . hm, hm . . . und bei gutem Willen beiderseits läßt sich das alles wieder ins richtige Geleise bringen.«

Da entzog ihm die Comtesse ihre Hände. »Deswegen bin ich nicht gekommen. Ich will keine Vermittlung. Arthur und ich sind miteinander fertig. Wie's gekommen, versteh' vielleicht nur ich – jedenfalls nicht von gestern bis heute . . . Wenn der liebe Gott selbst uns wieder zusammenbringen wollte, er könnte nicht!«

»Na, na,« begütigte er, »also alles aus? . . . Aber es müßte doch . . .« Dann unterbrach er sich selbst. »Gewiß, gewiß – daß das ohne schwere Kämpfe für Sie nicht abgehen würde, das war mir gleich bei der Verlobung klar. Ich habe ja die Gampeschkeimer Jungens großwachsen sehen. Sie auch, Comtesse. Und da hat man so seine Gedanken . . .« Er zeigte aufs Herz. »Wo da der Arthur gerade vielleicht noch genug hat, da haben Sie viel zu viel. Aber ich dachte, daß sich das ergänzen müsse . . . In jeder Ehe ist's nicht viel anders, denn das, was die Jugend Glück nennt, das giebt's ja gar nicht. Man reibt sich im Guten und im Bösen gegenseitig so viel ab, bis nichts mehr da ist. Aber dann ist man ja, Gott sei Dank, alt geworden . . .«

»So ist's auch bei mir gekommen,« bestätigte die Comtesse. »Aber wenn ich in meiner Herzensnot mich an Sie wende, Herr Pfarrer, so ist keine Spur von Bedauern über den Bruch selbst dabei – er mußte kommen – weil ich –« die Worte kamen ihr hart, stoßweise aus der Kehle – »einen andern Mann liebe.«

209 Der geistliche Herr winkte unwillig mit der Hand. »Leiser, Comtesse!« Zu gleicher Zeit knurrte der Hund einen Augenblick. Er öffnete die Thür zum Nebenzimmer. »Ist jemand da?« Keine Antwort, nur ein leichtes Rascheln von Kleidern. Aber der Hund fuhr durch die Beine des Pfarrers hindurch laut kläffend nach einem Kleiderschrank.

»Ich wollte mir nur ein Tischtuch holen,« sagte etwas verlegen die spitze Stimme.

»Im Kleiderschrank, Klärchen?«

»Ja, im Kleiderschrank, lieber Karl!« Und der spitzen Stimme war jetzt anzuhören, daß die Angelegenheit damit nicht erledigt.

Darauf schloß der Pfarrer die Thür wieder, machte mit Hund und Schnupftabakdose eine längere Promenade durchs Zimmer. »Und wer ist's?« fragte er endlich nach einem langen Zuge aus der Pfeife.

Die Comtesse war aufgestanden. »Der Freiherr v. Loja,« antwortete sie hart.

Da stellte der alte Herr die Pfeife in die Ecke und ergriff wieder ihre beiden Hände. »Nicht unruhig werden, liebes Fräulein . . . Wie ist es gekommen?«

»Genau kann ich Ihnen das nicht erklären, Herr Pfarrer. Erst habe ich ihn gehaßt und ihm alles Schlechte nachgesagt . . . Da auf einmal begriff ich, daß ich mich selbst belog, daß ich ihn liebte. Und da war's zu spät! Er weiß nichts davon, er liebt mich nicht wieder.« Ihre Stimme wurde ganz leise. »Aber ich weiß, daß ich ihm trotzdem gehöre mit Leib und Seele . . . Und wenn er ein Verbrechen von mir verlangte, ich würde es thun – heute noch, auf der Stelle hier . . . So ist mir Arthur unerträglich geworden . . . ich mußte mit 210 ihm brechen, Herr Pfarrer, ich mußte! . . . Seit heute bin ich frei. Was für eine Freiheit! Ich fühle mich elender wie je . . . ich fühle, daß ich sündig, schlecht, daß ich den Schritt nie gethan hätte, wenn ich den andern Mann nicht so wahnsinnig liebte.« Sie fuhr auf. »Und doch mußte ich den Schritt thun!«

Der Pfarrer sah an ihren heißen Augen vorüber, hinaus, und nickte. Sie aber fuhr gesenkten Hauptes fort: »Ist solche Liebe eine große Sünde? . . . Und wie kann ich büßen?«

Ueber sein faltiges, verwittertes Gesicht flog ein helles Leuchten. »Sünde? Nein, das ist Jugend! Sie sehen mich verwundert an, Comtesse; Sie erkennen den alten Gampeschkeimer Pfarrer nicht mehr, der so gröblich mit seinen Beichtkindern umgeht? Meine Dorfjugend verlangt freilich ein schärferes Regiment. Mit der ist kein sentimentales Paktieren. Für die ist der Buchstabe da. Denen weise ich meinen Weg zum Himmel, und wenn einer Miene macht, abzuspringen, dem drohe ich gleich mit Hölle und Verdammnis und bin gar kein langmütiger Hirte . . . Sie, Comtesse, kann ich damit nicht schrecken. Sie wollen einen wirklichen Trost, den kein Buchstabe giebt. Solange ich Sie kenne, habe ich mich an Ihnen gefreut und habe für Sie gebangt. Sie haben ein so starkes, feines Gefühl, und wo andre halb empfinden, empfinden Sie ganz. Es ist ein schlimmes Geschenk der Vorsehung, weil's auf dieser Erde so wenig Ganzes giebt. Das Glück ist der Kompromiß, und zu dem haben Sie keine Anlage . . . Wenn Sie jetzt in Ihrer Seelennot zu mir kommen, so liegen hinter Ihnen so viele Kämpfe, so viel Herzensqual, daß der landläufige Trost, 211 welchen ich Ihnen bieten könnte, gar keinen Wert hätte. Aber ich bin ein alter Mann und habe manches erlebt. Ich habe auch meine Versuchungen gehabt und habe sie auch nicht bestanden. Dagegen half nicht, daß ich in Erlangen beinahe Tintenfässer nach dem Teufel warf und in die Mönchsklausur der Entsagung ging. Unser Versucher ist das Temperament, die Jugend – und man soll die Besserung des Alters nicht zu hoch anschlagen; das hat keinen starken Versucher mehr . . . Aber wenn ich so gar nicht mehr aus noch ein wußte, da war das verständige Bibellesen mir noch immer der beste Trost. Vielleicht hilft's Ihnen auch. Jedoch lesen Sie es nicht als das strenge Buch des Gerichts, der Vergeltung; denken Sie immer, daß der alte Gott gar gnädig ist auch in seinem Zorn, daß er, solange die Welt steht, unzähligemal verziehen hat, und daß das Verzeihen sein göttlicher Beruf ist. Die Bibel verzeiht dem reuigen Sünder alles – nur die Sünden gegen die Natur nicht. Das kann sie nicht!«

Der alte Mann hatte die letzten Worte leise, aber fest gesprochen – wie unter einem inneren Drucke, dem er nur ungern nachgab.

Der Comtesse war es seltsam zu Sinn. Wohl war es ein gemilderter, geläuterter Glaube, den der alte Mann ihr allein in dem einsamen Studierzimmer predigte. Aber es zitterte auch ein herbstlich-welkes Gefühl durch, wie das müde Niedersinken sterbender Blätter. Und nur am Schluß brach aus der Entsagung des Alters eine jugendliche Flamme empor. War der Gott, der alles vergiebt, nicht alt und kraftlos gegenüber jener ewig jungen Natur, die alles Sein in ihr unerbittliches Gesetz schlägt?

212 War das nicht Blasphemie – seine Rede, ihre Gedanken? Und dann blitzte ihr das Verständnis auf. »Was ich gethan habe, ist also nur recht – und hätte ich's nicht gethan, so hätte ich gerade gesündigt?«

Er zögerte und rückte an seinem Käppchen.

»Herr Pfarrer, ich will eine Antwort,« drängte sie.

»Ich habe die Frage gefürchtet, und meine Antwort ist sehr unchristlich: nur die stärkere Liebe hat das Recht.«

»Und doch ist mir das kein Trost, Herr Pfarrer.«

Er lächelte. »Ich weiß es. Weil die größere Liebe ja verkümmern muß . . . Besäßen Sie den Loja wirklich, wüßten Sie, daß er Sie ebenso heiß wiederliebt – Sie stünden jetzt nicht vor mir, mein Kind . . .«

Sie schwiegen lange.

Der alte Mann schien zu träumen. Endlich hub er wieder an: »Haben Sie mit Ihrem Vater gesprochen?«

»Nein, Herr Pfarrer.«

»Es ist auch besser so.« Dann schwieg er wieder. Aber die Runzeln um den bartlosen Mund zitterten in starker Erregung . . . »Ja, was an einem in siebzig Jahren alles vorübergeht . . .« sprach er kopfschüttelnd . . . »Gar nicht lange vor Ihrer Geburt stand auch Ihr Vater hier . . . ich seh' ihn noch . . . ein so schöner, energischer Mann . . . ein Jahr später war er eisgrau . . .«

»Was wollte mein Vater bei Ihnen, und warum ist Ihnen das jetzt noch so genau in der Erinnerung?« fragte die Comtesse verwundert.

»Ach, nichts – nichts von Bedeutung,« beruhigte er. »Es hat eben jeder seine 213 Anfechtungen – große und kleine . . . Auch er, der Mann mit dem eisernen Pflichtgefühl, hatte sie! . . . Ja . . . Ja . . . Ja.« Und noch immer zitterten die Runzeln um den Mund.

Ihr wurde der alte Mann unheimlich. »Ich kann wohl gehen, Herr Pfarrer?«

Da besann er sich wieder. »Bleiben Sie nur noch, Comtesse,« sagte er lebhaft, »ich habe Sie ja nur irre gemacht. Und wenn Sie so zu Ihrem Vater gingen! . . . Ich will Ihnen noch etwas sagen – es ist ein wenig ketzerhaft, und ein eifernder Amtsbruder würde mich sicher beim Konsistorium verklagen . . . Wir sitzen hier ja so hart am Ermland, und durch die Zweige da können Sie schon das weiße Haus eines katholischen ›Ausgebauten‹ liegen sehen. Früher habe ich ingrimmig die Leute wegen ihrer häßlichen Heiligenbilder auf allen Wegen götzendienerische Heiden genannt. Später habe ich hochmütig darüber gelächelt als über eine tief eingewurzelte Unart des Kultes – jetzt versteh' ich die ›Katholer‹ manchmal. Vielleicht ist es der Marasmus des Alters, die häßliche zweite Kindheit, die den Geist blöde macht, aber nicht jung. Und wenn ich auf einem recht einsamen, verwahrlosten Landwege so 'n Muttergottesbild erblicke, dann rücke ich ganz verstohlen an meiner Mütze. Der Bengel auf dem Bocke braucht's nicht zu sehen! Wir haben keine Heiligen, aber heilig ist uns die Muttergottes doch. Und wie schlecht auch manchmal das Holzbild ist, es schwebt immer ein milder Schimmer von Jugend und Glauben und schöner Menschlichkeit um die Mariengestalt. Ist es nicht etwas Wunderbares, daß in der Glaubensvorstellung der Jahrtausende sie wandellos geblieben ist: jung und schön? Und 214 so ein schmerz- und schuldbeladenes Menschenkind, das der Priester im Beichtstuhle abstößt, das in der kahlen oder überladenen Kirche seinen Gott nicht findet, das auch draußen in der lachenden Natur vergebens nach ihm sucht – warum soll das nicht vor dem Muttergottesbilde Erlösung und Vergebung finden? . . . Sie steht euch Frauen ja menschlich so nahe, sie hat den Gottessohn mit Schmerzen geboren, sie hat gezweifelt, gerungen – nicht gewaltig, stöhnend nach Mannesart, sondern lange, stumm, wie's ihre Frauennatur war . . . Ist das, was ich sage, nicht sehr schlimm für einen protestantischen Pfarrer? Ach, wenn ich alles so leicht verantworten könnte dort oben!

»Ihr Vater und ich können Ihnen nicht raten, liebes Kind. Wir sind beide alt. Wo ich zu nachsichtig bin, da würde er zu streng sein. Verstehen würden wir Sie nie ganz . . . Vielleicht hilft Ihnen die Muttergottes. Sie ist jung, wie Sie, Weib, wie Sie, und ich habe noch nie gehört, daß sie ein Gemüt verdüstert hätte. Wollen Sie, Kind?«

Da küßte Marie dem alten Pfarrer stumm die Hand und ging. 215

 


 


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