Oskar Meding
Die Saxoborussen
Oskar Meding

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Fünfzehntes Kapitel

Während so im Sonnenschein der Jugendlust die schönen Frühlingstage über die alte Neckarstadt dahinzogen in bunter Abwechslung und doch wieder in freundlicher Gleichmäßigkeit, ballten sich am politischen Horizont immer dichter die finsteren Wolken zusammen, aus denen bald die schweren Wetterschläge zerstörend in all dies frische, fröhliche Leben niederfahren sollten. In Frankfurt am Main versuchte noch die Reichsgewalt ihre Autorität aufrecht zu erhalten, die von den norddeutschen Staaten und insbesondere von Preußen tatsächlich ignoriert wurde, und die in der demokratischen Bewegung Süddeutschlands eine Unterstützung fand, die sie selbst wohl am wenigsten wünschte und die ihr ein um so schnelleres Ende bereiten mußte. Die Reichsverfassung war zu stande gebracht. Während diese in Berlin ganz bestimmte Ablehnung fand, verlangte besonders in Baden die demokratische Kammermehrheit deren unbedingte Annahme, sowie Vereidigung des Heeres und der Bürgerwehren auf das aus dem Frankfurter Parlament hervorgegangene Grundgesetz des Deutschen Reiches, dessen Kaiserkrone der König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen mit der richtigen Erkenntnis zurückgewiesen hatte, daß das Diadem der Ottonen und der Hohenstaufen nur auf einem Schlachtfelde errungen werden könne.

Die badische Armee befand sich in dem Zustande völliger Desorganisation; denn durch die Schwäche der Regierung, das jahrelange Fraternisieren der Truppen mit den demokratischen Elementen des Volks und den schlechten Geist des Offizierskorps waren die Bande der Disziplin fast ganz gelöst worden, so daß die Truppen nicht den geringsten Schutz gegen die immer höher aufschwellende revolutionäre Bewegung bieten konnten. Der Großherzog hatte sich an die Reichsregierung nach Frankfurt am Main gewendet und militärische Hilfe erbeten, um wenigstens über ein einziges wirklich zuverlässiges Regiment verfügen zu können; aber während man im Schoße des dem Boden der Wirklichkeit völlig entfremdeten Reichsministeriums über diese Bitte debattierte, nahm die Bewegung, die durch das ganze Land organisiert war, in Karlsruhe immer größere Ausdehnung an.

Am 12. Mai verlangte der Ausschuß der Volksvereine die Auflösung der Kammer, den Rücktritt des Ministeriums und eine konstituierende Versammlung mit allgemeinem Stimmrecht. Die an diesem Tage zusammentretende allgemeine Volksversammlung ging in ihren Beschlüssen aber noch weiter; sie verlangte unbedingte Anerkennung der Reichsverfassung von seiten der badischen Regierung und Aufbietung der ganzen badischen Militärmacht zur zwangsweisen Durchführung der Reichsverfassung in den übrigen deutschen Staaten, Einrichtung der Volksbewaffnung auf Staatskosten und Vereinigung der Volkswehr mit dem stehenden Heere, freie Wahl der Offiziere durch die Mannschaft, Aufhebung aller Grundlasten und freie Verwaltung der Gemeinden, sowie endlich Errichtung eines großen Landespensionsfonds, aus dem jeder arbeitsunfähig gewordene Bürger unterstützt werden sollte.

Die Regierung, die gegen die Volksbewegung keine Widerstandskraft besaß, ließ in der Tat die Beeidigung des Militärs und der Bürgerwehr vornehmen; die Truppen standen in Karlsruhe unter den Waffen, aber ihre Haltung zeigte deutlich, daß sie weit entfernt seien, gegen die wahnsinnigen Forderungen der Volksversammlung sich gebrauchen zu lassen. Von Frankfurt kam immer keine Antwort. Gegen Abend des 13. Mai fanden immer weiter ausgedehnte militärische Exzesse statt; die Offiziere, die versuchten, die Disziplin aufrecht zu erhalten, wurden insultiert und gemißhandelt, ja ein Rittmeister und ein Korporal durch Flintenschüsse getötet. Der Großherzog, der völlig ohnmächtig gegen die immer wilder drohende Revolution war, begab sich unter Bedeckung einer Abteilung treu gebliebener Dragoner, die der General Hoffmann kommandierte, nach Germersheim und von da ab weiter nach Lauterburg im Elsaß.

Alle diese Verhältnisse, die dem revolutionären Ausbruch in Karlsruhe und der Flucht des Großherzogs vorangingen, waren in Heidelberg zwar nicht unbekannt geblieben, aber sie hatten dort weniger Teilnahme erregt und weniger Einfluß auf das öffentliche Leben gewonnen als anderswo. Die alte Universitätsstadt hatte keine Garnison, es fanden also keine militärischen Unruhen und Exzesse wie in Karlsruhe dort statt; die Corps, die das Studentenleben beherrschten, kümmerten sich prinzipgemäß um keine politischen Fragen, da für sie der oberste Grundsatz maßgebend ist, daß die akademische Jugendzeit dem Lernen zur Vorbereitung für das Leben und der heiteren Freude gehören solle, daß aber die Teilnahme am öffentlichen Leben erst dem gereiften Alter zustehe, und wenn auch in den Kreisen der Rhenanen und Schwaben die demokratische Bewegung manche Sympathien fand, so blieben dieselben doch auf die ganz persönlichen Anschauungen der einzelnen Mitglieder beschränkt. Die Corps führten ihr gewohntes Leben weiter, sie paukten frisch und fröhlich auf der Hirschgasse, kneipten vergnügt und behaglich in ihren Lokalen und setzten ihren kleinen Krieg gegen die bürgerliche Ordnung und gegen die Universitätspedellen fort; das alles interessierte sie im ganzen viel mehr als die Debatten der Kammern und Volksversammlungen in Karlsruhe.

Die Saxoborussen insbesondere kümmerten sich noch weit weniger um die Politik als alle andern, sie sahen auf die demokratische Bewegung als strenge Aristokraten und loyale Royalisten von hoch oben herab; weder hatten sie Zeit, noch hielten sie es der Mühe für wert, die politischen Zeitungen zu lesen, um zu erfahren, was dieser oder jener Deputierte oder Volksredner gesagt habe, und merkwürdigerweise waren die Söhne des freien republikanischen Nordamerika noch strenger und exklusiver als ihre deutschen Freunde, die die royalistische Gesinnung aus dem Boden ihres monarchischen Vaterlandes aufgesogen hatten. Die Amerikaner blickten voll souveräner Verachtung stolz auf diese deutschen Demokraten herab, sie erklärten diese für keine Gentlemen und für ebenso große Verbrecher, als ob jemand bei ihnen in Nordamerika eine Verschwörung zur Herstellung eines Kaiser- oder Königreichs anzetteln würde, und Charles Clarke bedauerte, wenn jemals das Gespräch auf die Deutschland durchzuckende demokratische Bewegung kam, lebhaft, daß er nicht über einige hundert Mann seiner Landmiliz aus den huronischen Hinterwäldern verfügen könne, um diese jämmerlichen Locofocos, wie er die deutschen Demokraten nannte, zu Paaren zu treiben. Die Heidelberger Bürger aber lebten ausschließlich von und mit der Universität, in allen ihren Interessen mit der Studentenschaft verwachsen, und der Ausgang einer Paukerei, sowie die Schadenfreude über irgend einen einem ihrer Mitbürger zugefügten nächtlichen Streich interessierte sie weit mehr als die politischen Vorgänge in Frankfurt oder Karlsruhe, die ihnen höchstens, wenn sie davon in der Stammkneipe etwas erzählen hörten oder in dem Lokalblatt einen Artikel darüber lasen, die Befürchtung erregten, daß vielleicht abermals, wie das schon einmal geschehen, den preußischen und norddeutschen Studenten der Besuch der Heidelberger Universität verboten werden möchte.

So lag denn das liebliche Heidelberg wie eine stille, friedliche Oase inmitten des badischen Landes, über das bereits der glühende Hauch des Sturmes der Revolution dahinwehte, und der verhängnisvolle 13. Mai war herangekommen, ohne daß man in Heidelberg eine Ahnung davon hatte, wie nahe bereits das Wetter war, das sich so schwer über dem schönen badischen Lande entladen sollte.

Es war für diesen Tag ein Hoffest bei der Großherzogin Stephanie in Mannheim angesagt; die in der Mannheimer Gesellschaft verkehrenden Saxoborussen waren eingeladen und wollten schon mit dem Nachmittagszuge hinüberfahren, um noch einige Besuche zu machen und sich dann mit Muße für das Fest vorbereiten zu können. Der Vormittag dieses Tages, der bestimmt war, für längere Zeit das sorglos heitere Leben an der alten Ruperto-Carolina zu unterbrechen, sollte noch einmal in glänzender Weise die Macht dokumentieren, die der Kern der Studentenschaft in den festgeschlossenen und überall nach außen einheitlich auftretenden Corps auch über die Bürgerschaft der Stadt ausübte, eine Macht, die weit über diejenige der bürgerlichen und akademischen Behörden hinausragte.

Der Schneider Naumann, dessen Beschwerden über die Verunzierung seines Hauses bei dem Universitätsgericht vergeblich geblieben waren, da er gegen keine einzelne bestimmte Persönlichkeit eine Anklage erheben und begründen konnte, und der sich auch von der Unzulänglichkeit der Bewachung seines Hauses durch Herrn Michelmann oder einen andern der Pedellen überzeugt hatte, sah voll ingrimmiger Verzweiflung die Unmöglichkeit ein, sich gegen den Unwillen der von ihm beleidigten Studenten zu schützen. Seine Verzweiflung über die so abscheuliche und zugleich so überaus lächerliche Verunstaltung seines so sichtbar an der Hauptstraße gelegenen Hauses, vor dem die Fremden erstaunt und lachend stehen blieben, wurde noch dadurch gesteigert, daß abends in der Weinkneipe, die er täglich auf eine Stunde zu besuchen pflegte, die übrigen Philister von ihm, dem reichen und angesehenen Bürger, ängstlich fortrückten, da sie durch den Verkehr mit ihm sich ebenfalls den Unwillen der Studenten zuzuziehen fürchteten, oder daß sie in spitzen Reden und höhnischen Anspielungen sich über seinen Schaden und sein Unglück lustig machten. Eine Zeitlang widerstand er trotzig allen diesen täglich und stündlich wiederholten Qualen, allein er wagte es nicht, von neuem den kostspieligen Anstrich seiner hohen Giebelfront vornehmen zu lassen, da er fest überzeugt war, neuem Schaden und neuem Hohn zu verfallen. Endlich aber fühlte er dennoch seinen hartnäckigen Sinn gebrochen, und nachdem er noch einige Tage mit sich gekämpft hatte, beschloß er endlich, dem nachbarlichen Rat des Herrn Walz, dessen mitleidige Blicke auf sein geschändetes Haus ihn am meisten ärgerten, zu folgen und sich der unumschränkt herrschenden Macht zu unterwerfen.

Graf Kronau, als der erste Chargierte des derzeit präsidierenden Corps, erhielt ein Schreiben, in dem der widerspenstige Schneider den hohen S. C. um Schutz für sein Haus bat, und sogleich wurde der Bittsteller persönlich vor den Seniorenkonvent beschieden, um seine Sache vorzutragen. Der Seniorenkonvent, der sonst in der Wohnung des präsidierenden Chargierten stattfand, wurde an diesem Tage ausnahmsweise in dem größeren Saal des Riesensteins abgehalten, da bestimmt vorauszusehen war, daß die Corpsburschen von ihrem Recht, den Verhandlungen beizuwohnen, an diesem Tage den ausgedehntesten Gebrauch machen würden. Und in der Tat versammelten sich denn auch die sämtlichen Corps fast vollzählig auf dem Riesenstein; die Chargierten nahmen an einem großen Tisch Platz, die Corona der Corpsburschen gruppierte sich in weitem Umkreise an den Wänden, und als der Schneider Naumann, dessen galliges Gesicht heute noch gelber und giftiger aussah als sonst, in den Saal eingeführt wurde, konnte man auf den Gesichtern aller Zuschauer ein so höhnisches Lächeln, in allen Blicken eine so stolze und freudige Genugtuung sehen, daß der zu diesem demütigenden Schritt gedrängte Philister vielleicht dennoch wieder umgekehrt wäre, wenn er seine auf den Boden gehefteten Augen nur einmal aufgeschlagen haben würde.

Die Chargierten bewahrten den vollständigsten Ernst. Minos und Rhadamanthos konnten nicht würdevoller und feierlicher ihr Richteramt über die Toten ausgeübt haben, als die Vertreter der Corps in dem Seniorenkonvent hier auf den zwischen Grimm und Furcht schwankenden Schneider hinblickten.

Graf Kronau forderte ihn auf, seine Beschwerde vorzubringen, und als der Unglückliche nun, seine vor Zorn bebende Stimme immer wieder zu demütigem Ton herabdrückend, die ihm widerfahrene Unbill denjenigen erzählen mußte, die über deren Zusammenhang wohl besser unterrichtet waren als er selbst, da wirkte die ungeheure Komik dieser Situation so überwältigend, daß halb unterdrücktes Lachen ringsum ertönte und selbst über die ernsten Gesichter der Chargierten ein flüchtiges Lächeln zuckte.

Der Schneider ballte unwillkürlich die Faust und schoß einen wütenden Blick nach der Corona hin.

»Silentium!« rief Graf Kronau; sogleich trat lautlose Stille ringsum ein, und mit strengem Ton fuhr er fort:

»Ich weiß nicht, Herr Naumann, ob derartiges, wie Sie es uns hier erzählen, vorgekommen ist, wenn es aber geschehen sein sollte, so haben Sie sich eine solche Repressalie, die ich nicht verteidigen und rechtfertigen will, selbst zuzuschreiben, da Sie ganz unnützer und ungerechtfertigter Weise einen harmlosen und freundlichen Scherz, durch den einige Corpsburschen Ihnen nur ihr Wohlwollen beweisen wollten, dem Universitätsgericht denunzierten. Sie nehmen jetzt den Schutz des S. C. in Anspruch, um Ihr Haus zu schützen, ich freue mich Ihrer Anerkennung, daß der S. C. die einzige Autorität ist, die Ihnen Schutz gewähren kann; bevor Ihnen dieser jedoch bewilligt wird, müssen Sie erklären, daß Sie Ihr früheres ungerechtfertigtes, unpassendes und gehässiges Vorgehen wegen des freundlichen Scherzes mit den Laternen, die man an Ihre Tür band, aufrichtig bereuen, daß Sie deshalb um Entschuldigung bitten und daß Sie in künftigen ähnlichen Fällen sich stets nur an den S. C. mit Ihren Bitten und Beschwerden wenden wollen.«

»Ein harmloser, freundlicher Scherz!« rief der Schneider, fortgerissen von seinem aufwallenden Grimm – »aber ich bitte Sie, meine Herren, es waren zehn Laternen, meine Tür war fest zugebunden, ist das ein harmloser, freundlicher Scherz gegen einen ruhigen Bürger, der dadurch noch in den Verdacht kommen kann, als hätte er selbst eine solche Beschädigung öffentlichen Eigentums vorgenommen?«

»Sie scheinen noch nicht zur Einsicht über ihr tadelhaftes Betragen gekommen zu sein, Herr Naumann,« unterbrach ihn Graf Kronau streng.

Die übrigen Chargierten schüttelten unwillig die Köpfe, und ein allgemeines Murren der Mißbilligung ließ sich auch aus der Corona vernehmen.

»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen,« sprach Graf Kronau weiter, »daß wir die Verhandlung abbrechen müssen, wenn Sie in einem solchen Ton fortfahren und kurzsichtig genug sind, Ihr Unrecht nicht einzusehen.«

»Ich sehe es ein,« sagte der Schneider knirschend, »ich sehe es ein und verspreche den Herren, es nicht wieder zu tun – da,« murrte er grimmig, aber ganz leise vor sich hin, »die Behörden ja doch keine Macht haben, einen ruhigen Bürger gegen solche grausame Barbarei zu schützen.«

»Nun denn,« sagte Graf Kronau, »hier ist eine Urkunde, die Sie unterzeichnen müssen, hören Sie zu.«

Er las eine Erklärung vor, in der Herr Naumann in den demütigsten Ausdrücken sein begangenes Unrecht anerkannte und feierlich versprach, künftig bei allen Differenzen, die er, in was für Angelegenheiten es auch sein möge, mit den Mitgliedern der Corps haben würde, sich lediglich und ausschließlich an den Seniorenkonvent zu wenden und sich dessen Entscheidung zu unterwerfen.

»Nun unterschreiben Sie,« sagte Graf Kronau, als er die Vorlesung des merkwürdigen, in korrekt juristischer Form gehaltenen Aktenstücks beendet hatte.

Der Schneider hatte mit gesenktem Haupt, ohne ein einziges Mal aufzublicken, zugehört, nur zuweilen klang es wie ein leises Aechzen aus seiner Brust hervor. Jetzt trat er an den Tisch, nahm die ihm dargereichte Feder und unterzeichnete mit einem schnellen Zug. Wäre seine Erscheinung sympathischer und würdevoller gewesen und hätte er eine bessere Sache zu vertreten gehabt, so würde die Miene, mit der er, einen leisen Fluch unter einem scheinbaren Hustenanfall versteckend, seinen Namen schrieb, an Galilei haben erinnern können, als dieser nach dem erzwungenen Widerruf seiner Lehre grimmig in sich hinein knirschte: »E pur si muove!«

»Nun,« sagte Graf Kronau, sich zu den übrigen Chargierten wendend, »da nun Herr Naumann sein Unrecht eingestanden und abgebeten hat, so schlage ich vor, daß der S. C. diesem den von ihm erbetenen Schutz gewähren wolle.«

Die übrigen Chargierten stimmten ernst und würdevoll zu.

Graf Kronau sprach:

»Der S. C. hat Ihre Bitte gewährt, Herr Naumann, er stellt von nun an Ihr Haus unter seinen Schutz, und Sie werden von keinem Mitgliede der Corps das Geringste zu befürchten haben. Lassen Sie also ganz ruhig Ihre Gerüste wieder aufschlagen und Ihre schöne Giebelfront mit jener ausgezeichneten hellgrauen Oelfarbe wieder anstreichen, die sie zu einer Zierde der Stadt machen wird.«

Der unglückliche Schneider verbeugte sich kurz und schoß wie ein Pfeil durch den Saal zur Türe hin, verfolgt von dem jubelnden Beifallsruf der ganzen Corona; wenn in diesem Augenblick die Dämonen der Tiefe den in seine Brust zurückgedrängten Wünschen hätten Erfüllung geben können, so würde sich die Erde geöffnet und der höllische Abgrund diese ganze fröhliche, übermütige Jugend verschlungen haben.

Schnell wurden noch die übrigen laufenden Angelegenheiten erledigt, die Anmeldungen einiger neu zu rezipierenden Corpsburschen genehmigt, dann feierte die ganze Versammlung bei einem gemeinsamen Frühschoppen den Sieg, den die Autorität der Corps von neuem über das renitende Philisterium errungen hatte, durch einen donnernden Salamander auf den hohen S. C.

Am Nachmittage fuhren die zum Hoffeste der Großherzogin eingeladenen Saxoborussen in heiterster Fröhlichkeit nach Mannheim hinüber. Luiz Antonio träumte sehnsüchtig den glückseligen Stunden entgegen, die ihm so hoffnungsvoll winkten, und auch Herr von Sarkow fühlte, wie mit jedem Augenblick, der ihn dem Wiedersehen mit dem Fräulein von Herbingen näher brachte, der Zauber ihrer schönen Augen in ihm wieder mächtig wurde.

Der Zug fuhr in den Mannheimer Bahnhof ein, aber der sonst wenig besuchte Perron bot heute einen eigentümlichen und überraschenden Anblick dar. Der ganze Perron war von Menschen dicht gefüllt, man sah Bürger der Stadt, die, in Gruppen zusammenstehend, mit aufgeregten Gesichtern sich lebhaft unterhielten und nach ihren Mienen voll Schrecken und Unwillen sich einander ernste und aufregende Dinge mitzuteilen schienen. Zwischen diesen Gruppen drängten sich Männer von wildem Aussehen in Blusen, große weiche Filzhüte auf dem Kopfe und dicke Stöcke in der Hand, durch; ebenso zahlreiche gemeine Soldaten in aufgeknöpften Uniformen, deren hochgerötete Gesichter den reichlichen Genuß berauschender Getränke verrieten. Alle diese wilden, unheimlichen Gestalten sprachen ebenfalls laut miteinander, sie blickten feindlich auf die Bürgergruppen, hoben auch wohl drohend die Hand empor, man hörte hie und da Rufe wie: »Nieder mit den Reichen! – Fort mit den Tyrannen, uns gehört jetzt das alles hier, das Volk allein ist Herr, das Volk allein hat recht!«

Viele der Reisenden zögerten ängstlich, die Coupés zu verlassen, andre eilten schnell nach den Wartezimmern hin; die Saxoborussen blickten, auf dem Perron stehen bleibend, verwundert auf das sonderbare Treiben, ohne sich dessen Veranlassung erklären zu können. Da sahen sie an der Mauer des Perrons in der Nähe des Eingangs zu den großherzoglichen Wartezimmern den Grafen Schwertheim stehen, der ängstlich und unruhig die hin und her wogenden Menschenmassen überblickte; in seiner Nähe standen einige Lakaien in der Interimslivree der Großherzogin, sie hielten Reisegerät in der Hand und blickten noch unruhiger und ängstlicher als der Graf umher. Die Saxoborussen drängten sich bis zu dem Grafen durch und fragten mehr neugierig als unruhig, was dies alles zu bedeuten habe.

»Mein Gott, Sie wissen es noch nicht?« rief Graf Schwertheim; »eben ist die Nachricht hierher gekommen – die Revolution ist in Karlsruhe ausgebrochen, die Truppen haben den Gehorsam verweigert, der Großherzog ist nach der französischen Grenze entflohen, das ganze Land wird morgen in hellem Aufruhr sein.«

»Die Truppen haben den Gehorsam verweigert!« rief Herr von Sarkow ganz erstaunt, »wie ist das möglich?«

»Es sollte nicht möglich sein,« erwiderte Graf Schwertheim traurig, »aber leider steht die Tatsache fest, es ist kein Zweifel möglich. Die ganze Gesellschaft hier in Mannheim ist auseinander gestoben, Wartensteins, die Starkenburgs mit Fräulein von Herbingen, alles ist fort, teils nach Frankfurt, teils nach ihren Gütern; die Großherzogin will mit dem nächsten Zuge nach Frankfurt gehen, das notwendigste Gepäck ist bereits hier, aber sehen Sie diese drohenden Haufen, man wird sie erkennen, sie wird nicht abreisen können, ich fürchte das Aeußerste.«

Die Saxoborussen wurden plötzlich ernst, die Nachrichten waren geeignet, selbst ihren unverwüstlichen Humor zu zerstören; Luiz Antonio starrte bleich vor sich nieder, die Revolution, die sich gegen die deutschen Fürstenthrone aufrichtete, stellte sich ja zugleich zwischen ihn und die Frau, die seine ganze Seele erfüllte, und machte es ungewiß, ob er sie jemals wiedersehen würde.

Während man noch hin und her sprach und den Grafen Schwertheim nach den Einzelheiten der so überraschenden und so verhängnisvollen Vorgänge fragte, hörte man von der andern Seite des Bahnhofs ein brausendes Murren, das in lautes Geschrei ausartete.

»O mein Gott!« rief Graf Schwertheim, »die Großherzogin wird angekommen sein, sehen Sie, dort fährt bereits der für Heidelberg bestimmte Zug am Perron vor; man hat den Salonwagen eingehängt, das ist unvorsichtig, Ihre Königliche Hoheit hätte ja in dem ersten besten Coupé fahren können. Kommen Sie mit, meine Herren, kommen Sie mit, wir müssen alle beisammen bleiben.«

Er eilte durch einen Nebengang nach den fürstlichen Wartezimmern hin; hier war bereits die Großherzogin mit ihrer Hofdame, der Gräfin Felderbach, eingetreten. Draußen nach dem Eingange von der Stadtseite her hörte man brausendes Stimmengewirr und einzelne drohende Rufe. Die Großherzogin war bleich, aber ruhig und gefaßt. Die Lakaien flüsterten ängstlich mit den Kammerfrauen, die sich mit in die fürstlichen Zimmer geflüchtet hatten.

»Nun, meine Herren,« sagte die Großherzogin, die Saxoborussen begrüßend, »ich bedaure, Sie heute nicht bei mir empfangen zu können. Der Großherzog hat der Gewalt weichen müssen, ich will nach Frankfurt gehen. Ich fürchte mich nicht,« fuhr sie mit blitzenden Augen fort, »aber es wäre unpassend für mich, hier zu bleiben, solange die Revolution im Lande herrscht.«

»Eure Königliche Hoheit wollen über uns befehlen,« sagte Graf Kronau; »da diese elenden Truppen den Dienst versagen, so wird es uns eine hohe Ehre sein, Ihnen als Leibwache zu dienen.«

»Ich danke Ihnen, meine Herren,« erwiderte die Großherzogin, »und nehme Ihren Schutz an, obgleich ich nicht glaube, dessen zu bedürfen; ich habe diesem Volk nur Gutes getan und kann es nicht für möglich halten, daß man mich bedrohen sollte.«

Wildes Geschrei klang jetzt auch von dem Perron herab.

»O mein Gott,« sagte Graf Schwertheim, »hören Sie dort, wir sind eingeschlossen von allen Seiten; ich fürchte, es wird unmöglich werden, abzureisen.«

Die Signalglocke hatte bereits zum zweitenmal geläutet.

Während Graf Kronau hinter den Vorhängen der großen Glastüren hervorspähte, war ein wüst aussehender Mensch in einer blauen Bluse, eine rote Schärpe über der Schulter und einen alten Kavalleriesäbel an der Seite, auf den Perron geeilt.

»Hört,« rief er, »hört, ihr Bürger, die Großherzogin will entfliehen, wir dürfen die Tyrannenbrut nicht fortlassen – wenn sie entkommt, so wird sie die Söldnerscharen der fremden Fürstenknechte gegen das Volk zu Hilfe rufen – sie muß hier bleiben, wir müssen sie als Geisel behalten, um ihren Kopf den Tyrannen entgegenzuschleudern, wenn sie gegen unsre Grenze rücken sollten.«

In einem Augenblick war der Redner von einem dichten Haufen von Blusenmännern und Soldaten umgeben.

»Ja, ja,« brüllten alle, »ja, ja, sie darf nicht fort, sie soll hier bleiben, sie ist die Gefangene des Volks, das Volk wird die Tyrannen richten!«

Entsetzt stoben die Bürger auseinander. Immer lauter wurde das Geschrei, die wilden Haufen drängten gegen die fürstlichen Wartezimmer und versuchten durch die Vorhänge hineinzublicken, während die Gruppen der Bürger sich entsetzt in die äußersten Winkel des Perrons flüchteten, da alle Zugänge von drohenden Haufen besetzt waren.

Die Glocke ertönte zum drittenmal, die Türen des Salonwagens waren geöffnet, der Zugführer stand bleich und zitternd daneben; aber der ganze Perron war dicht mit Menschen gefüllt, es schien unmöglich, bis an den Zug zu gelangen.

Da öffneten sich die Türen der fürstlichen Wartezimmer, einen Augenblick wichen die Zunächststehenden zurück, aber dichter schloß sich die menschliche Mauer vor dem Zuge, man hörte nur laute, drohende Rufe, man sah nur wildblickende Augen und erhobene Arme mit geballten Fäusten, dicken Knitteln und blanken Klingen. Aus der geöffneten Flügeltür trat Graf Kronau hervor, sein Haupt war hoch und stolz aufgerichtet, seine Augen schleuderten Blitze, ein spöttisches Lächeln spielte um seine Lippen. Herr von Sarkow und Luiz Antonio folgten ihm; hinter ihnen erschien die Großherzogin, von dem Grafen Schwertheim geführt und von den übrigen Saxoborussen dicht umringt. Langsam ging Graf Kronau einige Schritte vorwärts, die Zunächststehenden wichen vor dem so sicher und fest auftretenden jungen Mann zurück, aus dessen Augen der siegesgewisse Mut und die unbeugsame Entschlossenheit der alten Paladine aus der ritterlichen Märchenzeit hervorflammte. Die Großherzogin blickte mehr schmerzlich als unwillig auf die dichten Volkshaufen hin. Herr von Sarkow war bis an die geschlossenen Reihen gekommen, die sich vor dem Zuge zusammengedrängt hatten. Eine tiefe, atemlose Stille trat ein, alle Welt schien ängstlich gespannt, wie sich diese unerwartete Scene entwickeln werde. Mit fester, klarer Stimme, die weit über den Perron hinschallte, sagte Graf Kronau:

»Platz, meine Herren, für die Damen, der Zug geht ab, die Herrschaften müssen einsteigen!«

Noch flammender blitzten seine Augen, noch höhnischer lächelten seine Lippen. Er ging weiter vor, und wie von seinen Blicken verzaubert, traten die Zunächststehenden seitwärts; nur noch eine Menschenreihe trennte ihn von dem geöffneten Salonwagen des Zuges. Da sah er sich plötzlich fast Brust an Brust und Stirn gegen Stirn dem Blusenmann gegenüber, der vorher die Menge aufgefordert hatte, sich der Abreise der Großherzogin zu widersetzen.

»Halt, nicht weiter!« rief der Mensch mit rauher Stimme, »jene Weiber werden hier bleiben, sie gehören dem Volk, das Volk wird über sie richten.«

»Die Damen werden abreisen,« erwiderte Graf Kronau, ohne auch nur um eines Haares Breite zurückzuweichen, »sie werden von der Freiheit Gebrauch machen, die jedermann zusteht; nur elende Feiglinge werden es wagen, Frauen zu bedrohen.«

»Unverschämter Bube!« rief der Blusenmann, »ich werde dich lehren, die Majestät des Volkes zu achten und seinem Willen zu gehorchen!«

Er hob seinen schweren Säbel empor und schwang ihn über Graf Kronaus Haupt; Luiz Antonio und Herr von Sarkow drängten sich an die Seite des Freundes, die Hofdame stieß einen ängstlichen Schrei aus, und die Großherzogin sagte ruhig:

»Wir müssen umkehren und der Gewalt weichen.«

Aber schnell wie der Blitz hatte Herr von Sarkow, gegen den Blusenmann vordrängend, dessen Handgelenk erfaßt, mit eiserner Kraft drehte er dessen Arm herum, so daß der Mensch, vor Schmerz brüllend, den Säbel fallen ließ. Im Nu hatte Graf Kronau die Waffe aufgehoben, er führte einen flachen Hieb mit ihr gegen den Kopf des Angreifers, dieser taumelte betäubt zur Seite; Graf Kronau schwang die Klinge so schnell, so sicher und fest vor sich her, daß ihre Spitze einen glänzenden Kreis bildete, indem er mit donnernder Stimme rief:

»Wem sein Leben lieb ist, der weiche zurück, wer den Weg vertritt, ist des Todes!«

Erschrocken sprangen die nächsten seitwärts – der Weg war geöffnet, Graf Kronau blieb neben der Coupétür stehen, den Arm mit dem gezückten Säbel ausgestreckt. Luiz Antonio und Herr von Sarkow hoben die Großherzogin und die fast ohnmächtige Hofdame in den Wagen, Graf Schwertheim und die Saxoborussen folgten ihnen; Graf Kronau, immer die Säbelklinge im Kreise vor den Gesichtern der Blusenmänner schwingend, stieg als der letzte ein, die Tür wurde geschlossen, in diesem Augenblick gab der Zugführer das Zeichen, die Lokomotive pfiff, und der Zug brauste mit voller Dampfkraft aus der Bahnhofshalle.

Ein wildes, furchtbares Geschrei erhob sich, die Massen drängten gegen die letzten Wagen heran, aber niemand wagte es, sich dem pfeilschnell dahinrollenden Zuge zu nähern, der in wenigen Sekunden bereits den Bahnhof verlassen hatte.

Nur von weither, immer leiser verhallend, drang das drohende Gebrüll noch zu dem Salonwagen, in dem die Großherzogin ernst und traurig saß, während Fräulein von Felderbach krampfhaft schluchzte und Graf Schwertheim den Saxoborussen stumm die Hände schüttelte.

»Meine Herren,« sagte endlich die Großherzogin, »dies ist ein schmerzlicher, trauriger Tag; er hat mich gelehrt, daß die Fürsten vergebens, wie ich es getan, ihre Liebe dem Volk bieten, das, dem wilden Raubtier gleich, immer wieder vom Rausch des Blutdurstes erfaßt wird. Und doch, meine Herren, wird mir dieser Tag eine schöne Erinnerung bleiben, denn er hat mich gelehrt, daß ritterlicher Mut und ritterliche Treue noch nicht ausgestorben sind auf Erden.«

Sie reichte jedem der Saxoborussen ihre Hand, und alle drückten tief bewegt ihre Lippen ehrfurchtsvoll auf die Hand der edeln Fürstin, deren Worte ihre Herzen in stolzer Freude aufwallen ließ.

»Die Gefahr ist noch nicht vorbei,« sagte Graf Kronau, »in Heidelberg wird inzwischen bekannt geworden sein, was geschehen, man wird uns dort erwarten. Eure Königliche Hoheit müssen die Gnade haben, unsre Begleitung bis Frankfurt anzunehmen.«

»Es würde mir kaum etwas nützen, diese Begleitung abzulehnen,« erwiderte die Großherzogin, »ich weiß ja, daß Sie in diesem Fall nicht gehorchen und mich dennoch nicht verlassen würden.«

Man fuhr in den Heidelberger Bahnhof ein. Graf Kronaus Besorgnis war nicht unbegründet gewesen. In der kurzen Zeit, seit die Nachricht von den Vorgängen aus Karlsruhe eingetroffen, hatte auch in Heidelberg die Revolution ihr Haupt erhoben; der ganze Perron war angefüllt mit Blusenmännern, die rote Schärpen über der Brust, Säbel an der Seite und Pistolen im Gürtel trugen; doch schien alles hier bereits fester organisiert zu sein, als es in Mannheim der Fall gewesen. Die Blusenmänner bildeten eine Art von militärischer Aufstellung, in langer, geschlossener Reihe den Perron absperrend.

Drohendes Geschrei empfing den einfahrenden Zug. Kaum stand er still, als ein großer, schlanker Mann mit einer roten Schärpe, eine rote Feder auf dem weichen, breitkrämpigen Hut, einen Schleppsäbel an der Seite, an den Salonwagen herantrat, aus dessen Fenster sich Graf Kronau weit hinausgelegt hatte. Herr von Sarkow, der durch das Seitenfenster blickte, erkannte in dem Herantretenden den gleichen jungen Mann, den er mit Langenberg in dem Treubergschen Hause gesehen hatte und dem er dann mit einem andern Unbekannten bei Fräulein Klara Schönfeld begegnet war.

»Halt,« sagte Graf Kronau, indem er die Hand auf den Griff der Coupétür legte, die jener öffnen wollte, »halt, wir fahren weiter und wünschen nicht auszusteigen.«

»Sie haben volle Freiheit, weiterzufahren, mein Herr,« war die kurze Antwort; »allein es sind Damen in diesem Wagen, die hier bleiben müssen.«

»Und mit welchem Recht wollen Sie diese Damen zurückhalten?« fragte Graf Kronau mit kaltblütiger Ruhe, aber mit funkelnden Augen und dem gleichen höhnischen Lächeln, das er den Drohungen in Mannheim entgegengesetzt hatte, »wer sind Sie?«

»Mein Name ist Schlöffel,« erwiderte der andre, »ich bin Student und habe vorläufig die Zivilverwaltung in Heidelberg übernommen, bis die provisorische Regierung in Karlsruhe endgültig darüber verfügen wird; in meinen Händen ruht also in diesem Augenblick die oberste Autorität hier in der Stadt, und alle diese Männer da, die für die Freiheit die Waffen ergriffen haben, sind bereit, meine Autorität zu unterstützen. Sie sehen, daß jeder Widerstand vergeblich ist. Lassen Sie also die Damen aussteigen, ich bürge für ihre persönliche Sicherheit.«

Graf Kronau blickte umher, die Blusenmänner standen dicht gedrängt mit gezogenen Säbeln zu beiden Seiten des Coupés, ihre Mienen zeigten deutlich, daß sie nur auf den Wink ihres Führers warteten, um dessen Befehl Nachdruck zu geben. Graf Kronau dachte nach, die Partie war ungleich, es handelte sich nicht bloß darum, wie in Mannheim einen kurzen Weg durch einen Volkshaufen zu bahnen – hier befand man sich einer bereits organisierten und geschlossenen Macht gegenüber, die die Gewalt hatte, die Abfahrt des Zuges zu verhindern, denn einige der Blusenmänner standen bereits unmittelbar neben der Lokomotive, bereit, auf sie hinaufzusteigen und den Führer festzunehmen, wenn er, Herrn Schlöffels Befehlen entgegen, die Abfahrt versuchen sollte.

Die Lage war schwierig und ernst; die Saxoborussen besaßen als einzige Waffe nur den dem Blusenmann in Mannheim entwundenen Säbel, ein Widerstand war kaum denkbar. Hinter den Reihen der Blusenmänner sah man verschiedene Heidelberger Bürger, die ängstlich nach dem Coupé hinsahen, denn in der Stadt war die Nachricht bereits verbreitet, daß die Großherzogin auf dem Bahnhof angehalten werden sollte.

»Ich bitte Sie, meine Herren,« sagte die Großherzogin, »lassen Sie mich diesmal aussteigen, ein Widerstand ist vergeblich, ich muß die Folgen meiner fürstlichen Stellung auf mich nehmen und kann dies um so ruhiger tun, als ich mir bewußt bin, alle ihre Pflichten gewissenhaft erfüllt zu haben.«

Schon wollte Graf Kronau, der in der Tat keinen Ausweg mehr sah, sich seufzend von der Tür des Coupés zurückziehen, als er plötzlich einen Freudenruf ausstieß, denn in der Tür des Wartezimmers tauchten weiße Mützen auf. Nach wenigen Augenblicken hatten sich die sämtlichen Saxoborussen, die in Heidelberg zurückgeblieben waren, mit allen Mitkneipanten und allen Studenten, die sich zum Corps hielten, bis zum Coupé hindurchgedrängt. Charles Clarke ging ihnen voran und schleuderte mit mächtigen Boxerstößen jeden zur Seite, der den Weg versperren wollte; alle trugen Dolche, Hirschfänger und Revolver – auch der florentinische Dolch der Katharina von Medici war aus Herrn von Sarkows Wohnung geholt, dagegen war der Säbel des Sultans Soliman als zu schwerfällig zurückgelassen; jeder hatte noch einige Reservewaffen bei sich, die schnell den Freunden durch die Coupéfenster gereicht wurden.

Dies alles war so schnell geschehen, daß Herr Schlöffel, ehe er den Vorgang nur bemerkt hatte, sich bereits von den Saxoborussen umgeben sah, die sich zwischen ihn und die neben dem Coupé aufgestellten Blusenmänner gedrängt hatten. Auch der rote Schiffer hatte sich auf dem Perron eingefunden und stand hinter den Saxoborussen; zugleich sah man Nürnberger aus einer der Gruppen der Bürger heraus winken und grüßen.

»Ah, mein Herr!« rief Graf Kronau, indem er den Hahn eines achtläufigen Revolvers knacken ließ, »das war Hilfe zur rechten Zeit, Sie sehen, das Blatt hat sich gewendet, die Partie ist ein wenig gleicher geworden!«

»Ich bitte Eure Königliche Hoheit untertänigst,« sagte Graf Kronau, sich einen Augenblick nach dem Innern des Coupés zurückwendend, »ganz ruhig zu bleiben, nun bürge ich für alles, mein Corps ist da, und wir haben Waffen in den Händen – wenn der Teufel selbst uns gegenüberträte, jetzt würden wir ihn in den Abgrund zurückschleudern.«

Die Großherzogin schüttelte zwar etwas bedenklich den Kopf, aber doch leuchteten ihre schönen schwarzen Augen höher auf bei diesen kühnen Worten; sie setzte sich wieder in ihren Fauteuil nieder, während Herr von Sarkow, Luiz Antonio und ihre in dem Wagen befindlichen Freunde die Plätze an den Fenstern einnahmen, ihre Dolche und Revolver in der Hand.

Schlöffel blickte finster umher. Die Blusenmänner waren ein wenig zurückgewichen, sie hielten ihre Waffen ebenfalls bereit, aber ihre Säbel waren schwer und unbehilflich, und ihre Pistolen waren meist alte Kavalleriegewehre, zum Teil noch mit Feuerschlössern.

»Der Widerstand gegen die Autorität des Volks,« sagte Schlöffel drohend, »ist Hochverrat, meine Herren. Blicken Sie um sich, sehen Sie die Zahl der Mannschaften, über die ich hier gebieten kann; ich warne Sie, lassen Sie von Ihrem frevelhaften Beginnen ab, die Rache des Volkes ist unerbittlich.«

»Wenn Sie diese Farben kennen, mein Herr,« erwiderte Graf Kronau, auf das weißgrün-schwarzweiße Band deutend, das seine Brust umzog, »so werden Sie wissen, daß Drohungen ganz überflüssig sind, daß unter diesem Bande die Furcht keinen Platz findet. Ihre Autorität erkennen wir ebensowenig an, als uns die Rache Ihres sogenannten Volkes schreckt, – auch wir gehören zum Volk und nehmen die Freiheit in Anspruch, zu gehen, wohin wir wollen, und zu tun, was wir wollen.«

»Sie zwingen mich, Gewalt zu gebrauchen!« rief Schlöffel, indem er Miene machte, seinen Säbel zu ziehen und den Blusenmännern einen Wink zu geben.

»Gut, mein Herr!« rief Graf Kronau, indem er seinen Revolver schußfertig erhob, »tun Sie, was Sie verantworten können, aber seien Sie gewiß, daß Sie nicht so leichten Kaufs mit uns fertig werden – vielleicht kann Ihre Uebermacht uns erdrücken, ich glaube es nicht, aber jedenfalls können Sie zwanzig der Ihrigen auf jeden von uns rechnen, unsre Kugeln und unsre Dolche werden sicher treffen, und beim allmächtigen Gott, dieser Bahnhof wird eine Leichenhalle sein, ehe Sie noch Zeit gehabt haben, sich zu besinnen.«

»Auf die Mensur!« rief er mit lauter Stimme, »fertig!«

Die Saxoborussen schlossen sich fest aneinander, um bereit zu sein, sobald das verhängnisvolle »Los!« von den Lippen ihres Seniors erschallen würde. Nürnberger drängte sich durch die Gruppen zu den Saxoborussen hin, seine dunkeln Augen funkelten in heller Begeisterung.

»Hurra!« rief er laut, »die Saxoborussen sollen leben! Ich bin ein armer Kerl und habe nicht gelernt, mich zu verteidigen und mit den Waffen umzugehen, aber mit den Saxoborussen will ich stehen und fallen, mag's kommen, wie es will.«

Er blickte trotzig und herausfordernd auf die Blusenmänner, während er hinter Charles Clarkes breiter Gestalt Deckung suchte.

»Nun, mein Herr,« sagte Graf Kronau zu dem nachdenklich dastehenden Schlöffel, gegen dessen Brust sich die Mündungen der Revolver senkten, »Sie sehen, es bedarf nur eines einzigen Wortes noch, und der Kampf auf Leben und Tod beginnt; bevor ich aber dies Wort spreche, biete ich Ihnen noch einmal die Hand. Ich bin gewohnt, Gegner zu achten, ich setze voraus, daß Sie aus ehrlicher Ueberzeugung einer Sache dienen, die ich freilich für töricht und verderblich halte; ich appelliere an Ihre Ehre, Sie müssen einsehen, welch traurige Rolle Sie hier spielen, Sie wollen wehrlose Damen, gleichviel, wer sie sein mögen, mit roher Gewalt angreifen, – wir verteidigen die Schwachen, wie es die Pflicht jedes ehrenhaften und ehrlichen Mannes ist; fragen Sie Ihr eignes Gewissen, ob Sie eine solche Rolle spielen wollen – vielleicht werden Sie uns überwältigen; aber ich schwöre Ihnen, daß, wenn ich hier fallen sollte, mein letztes Wort ein Pfui der Verachtung für Sie und Ihre Helfershelfer sein wird.«

Schlöffel sah ihn mit großen Augen an, eine gewisse Beschämung lag auf seinen Zügen, dennoch schien er unschlüssig.

»Sie werden glauben, daß ich mich fürchte,« sagte er.

»Ich setze nie bei einem Manne die Furcht voraus,« sagte Graf Kronau, »und die Worte, die ich eben zu Ihnen sprach, sollen durch keine Drohung unterstützt werden. Laßt Herrn Schlöffel zurücktreten, meine Freunde,« sagte er, und sogleich öffneten die Saxoborussen einen Weg, indem sie die Mündungen ihrer Revolver aufwärts richteten.

»Ich glaube, Sie haben recht, mein Herr,« sagte Schlüssel, der mit dem Ausdruck sympathischer Bewunderung auf seine Gegner blickte; »es ist heute der erste Tag der anbrechenden Freiheit, er würde entweiht und befleckt werden durch eine Gewalttat gegen schwache Frauen und durch das Blut ihrer ritterlichen Verteidiger. Sie haben recht, und ich glaube, ich muß Ihnen dankbar sein, daß Sie mich zurückgehalten haben, zu tun, was ich hätte bereuen müssen. – Der Zug soll abfahren!« rief er mit lauter Stimme über den Perron hin dem ängstlich harrenden Lokomotivführer zu, und so groß war vielleicht auch die Scheu vor einem Kampf mit den so wirksam bewaffneten Saxoborussen, daß der Befehl in den Reihen der Blusenmänner keinen Widerspruch fand.

Im nächsten Augenblick ertönte das Signal, die Lokomotive pfiff, und der Zug setzte sich langsam in Bewegung. Graf Kronau streckte Schlöffel aus dem Coupéfenster die Hand hin, und ein wenig zögernd legte der Revolutionsführer seine Hand in die des Seniors der Saxoborussen, auch die übrigen grüßten Herrn Schlöffel artig, der sich an der Spitze der Blusenmänner nach der Stadt zurückbegab, um die republikanische Zivilverwaltung zu organisieren.

»Haben Sie gesehen, meine Herren,« sagte Nürnberger, »wie der Herr von Sarkow hat gleich an sich genommen den florentinischen Dolch, den er von mir hat gekauft – Gott, was für 'ne Waffe, was für 'ne Waffe; wenn es wäre gekommen zur Schlacht, was hätte er für ein Blutbad angerichtet mit dem Dolch der Katharina von Medici. Haben Sie irgendwo gesehen den schlechten Säbel von Rauchthaler, nirgends haben Sie ihn gesehen, was hätte man auch sollen machen mit einem solchen schlechten Säbel, der niemals ist angerührt worden von dem untersten Mameluken des großen Sultans Salomon.«

»Nürnberger,« sagte Charles Clarke, »Sie sind doch ein braver Kerl, und es soll Ihnen nicht vergessen werden, daß Sie heute hier bei uns gestanden haben.«

Er schlug den kleinen, schwächlichen Handelsmann so kräftig auf die Schulter, daß dieser zusammenknickte, aber sogleich richtete er sich ganz stolz wieder auf und zog inmitten der Saxoborussen nach der Stadt zurück; sie begleiteten ihn durch die unruhig belebten Straßen sicher nach seiner Wohnung hin und begaben sich dann auf den Riesenstein, um ihre Freunde zu erwarten, die mit dem späten Abendzuge von Frankfurt zurückkehrten und berichteten, daß die Frau Großherzogin ohne weiteren Unfall dort angelangt sei.


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