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Zu den Täuschungsquellen, die aus der erotischen Anziehung entspringen, gesellt sich überdies noch eine, die ihren Ursprung in der Ichvorstellung als solche hat.
Nur ein kleiner Teil der Vorgänge, die aus einem Menschen ein individualisiertes Wesen machen, wird durch das reflexive Bewußtsein beleuchtet. Daher bleibt jedem seine Eigenart, soweit sie aus dem unbewußten Gebiet seines Seelenlebens stammt, notwendigerweise verborgen. Was davon als sein reflexives Ich in seinem Bewußtsein erscheint, stimmt meistens nicht ganz mit dem überein, was er als reale Person, als Summation der in ihm tatsächlich enthaltenen Antriebe und Fähigkeiten ist. Nur unvollkommen, nur auf einem langwierigen Weg, nur durch vielerlei Erfahrungen können jene Teile des eigenen Wesens, die dem primären Gebiet angehören, in das Bereich der Selbsterkenntnis gelangen.
Im Tun und Handeln eines Menschen tritt seine reale Person hervor; in dem, was er über sich selbst denkt und aussagt, sein reflexives Ich, das nur dann, wenn es durch einen gewissen Grad von Einsicht in das primäre Wesen, von Selbsterkenntnis kontrolliert ist, einige Zuverlässigkeit besitzt.
Bei den meisten Menschen aber besteht dauernd ein Abstand zwischen ihrem reflexiven Ich und ihrer realen Person, ohne daß sie es merken. Auf der Stufe des naiven Bewußtseins hat jeder unmittelbar die Gewißheit, daß niemand ihn besser kennt als er sich selbst, daß die Vorstellung, die er von sich hat, die zutreffende, die erschöpfende, die allein richtige ist. Auf der nächsten Stufe der Erkenntnis findet er sich als Doppelwesen: als das, was er in seinem eigenen Bewußtsein an sich erlebt, und als das, was er in der Vorstellung der anderen ist. Den Abstand zwischen diesen beiden Vorstellungskreisen bekommt er zuweilen empfindlich zu fühlen; er deutet ihn als Unrecht, das ihm widerfährt, als Verkennung seines »wahren Wesens«. Erst auf der dritten Stufe, der eigentlichen Selbsterkenntnis, vermag man den Abstand zwischen dem reflexiven Ich, dem Vorstellungsbild, das man von sich selbst hat, und der realen Person im eigenen Bewußtsein zu ermessen – übrigens eine so seltene Erscheinung, daß sie im menschlichen Getriebe keine Rolle spielt.
Viel häufiger geschieht es hingegen, daß die Phantasie die Selbstbeobachtung völlig vereitelt und das reflexive Ich ganz nach dem subjektiven Geschmack mit allen erwünschten Eigenschaften ausstattet. Dann wird das reflexive Ich völlig zum imaginativen Ich. Dieses phantastische Bild trägt oft kaum einen Zug der realen Person mehr an sich; bei allen Zusammenstößen mit der Wirklichkeit führt es infolgedessen zu unentwirrbaren Händeln. Solche Menschen glauben sich einer dunklen Schicksalsgewalt unterworfen; ihre Erlebnisse haben in ihren Augen etwas Unerklärliches, als wären sie durch höhere Mächte – durch die »Vorsehung« im günstigen Fall, durch dämonische im ungünstigen – geleitet, weil sie vermöge der überwiegenden Phantasie gar nicht in der Lage sind, den Abstand zwischen dem imaginativen Ich und ihrer realen Person wahrzunehmen und seine Wirkungen in ihrem Leben abzuschätzen.
Trotzdem übt das imaginative Ich eine große suggestive Gewalt aus. Nicht die reale Person, die erst durch vielfältige Erfahrungen im Verkehr erkannt werden kann, ist es, durch die ein Mensch wirkt; er erobert seinen Platz mittels des Bildes, das er von sich selbst hat – damit überredet er, imponiert er, reißt er hin. Und all dies am stärksten in den erotischen Beziehungen. Da wird das imaginative Ich noch durch die Anmutung befeuert, die von der geliebten Person ausgeht. Die erotische Anmutung steigert das Ichgefühl und damit auch das imaginative Ich, und diese Steigerung erhöht die Macht der Anziehung. Es entsteht eine Wechselwirkung; eine Person empfängt einen Eindruck von einer anderen, dieser Eindruck verstärkt deren imaginatives Ich so sehr, daß es den empfangenen Eindruck mit verdoppelter Macht zurückgibt.
Durch das imaginative Ich wird das erotische Ereignis vollends eine Verkleidungskomödie; die handelnden Personen halten sich gegenseitig für etwas anderes, als sie in Wirklichkeit sind: sie gehen in Masken, aber ohne es selbst zu wissen. Jede trägt als Maske ihr imaginatives Ich zur Schau und erblickt die geliebte Person in der Maske des Idols, das sie aus der laterna magica ihres eigenen Innern auf sie projiziert. Eine verwickelte Intrige von längerer oder kürzerer Dauer spielt sich ab, bis die beiden sich demaskieren; die Tragikomödie endet zwar nicht mit dem Tode der Helden, aber der Tod der Masken pflegt auch der Tod der Liebesanziehung zu sein.
Das Illusionäre seiner Vorstellungen über das Objekt wird dem Verliebten erst dann sichtbar, wenn sie sich an die unrechte Person geheftet haben; inwiefern seine Illusion über sich selbst daran beteiligt war, bleibt ihm auch dann verborgen.
Je weiter der Abstand zwischen der realen Person und dem reflexiven Ich, desto größer die Gefahr der Täuschung. Man kann sagen, die innere und die äußere Harmonie des Lebens ist für den Einzelnen proportional dem Verhältnis, in dem sein reflexives Ich zu seiner realen Person steht. Je mehr sich beide decken, desto einheitlicher und zuverlässiger wird die Persönlichkeit sein, desto weniger Anlaß zu Enttäuschungen wird sie geben. In Dingen der Liebe vor allem bedeutet Übereinstimmung zwischen dem reflexiven Ich und der realen Person einen der größten Vorzüge; wo jenes Idol des eigenen Wesens, das imaginative Ich, gänzlich fehlt, und damit auch die Selbstverblendung, die so viele Mißgriffe verschuldet, ist die Gefahr der Täuschung um ein beträchtliches vermindert. Freilich auch die erotische Anziehung. Schlichte, kühle, phantasielose Menschen sind nicht die Helden schwunghafter Liebesabenteuer; und neben der vis erotica, die beispielsweise Casanova besaß, war es wohl das üppig ausgestattete imaginative Ich, durch das er sein Glück machte.
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Vergegenwärtigt man sich die vielen Täuschungsmöglichkeiten der Liebe, so kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, daß die Liebe in der Tat ein illusionärer Zustand ist, ein Rausch der Seele, dessen Wert und Bedeutung in den menschlichen Beziehungen bei weitem überschätzt worden ist. Woher aber kommt es dann, daß unser Selbstbewußtsein die unbegründete Liebesneigung, die uns entgegengebracht wird, um soviel höher wertet als die vernunftmäßig begründete Hochschätzung? Beruht diese Wertung nur auf Unkenntnis des wahren Wesens der Liebe? Wiegen wir uns in dem trügerischen Glauben, mit unserem tiefsten und eigensten Wesen diese mächtige Wirkung ausgeübt zu haben, indes wir nur durch nebensächliche und zufällige Merkmale ein Idol in der Seele desjenigen erweckt haben, der sich uns daraufhin zu eigen gibt?
Wie unzuverlässig die erogenen Kennzeichen auch sind, wie zahlreich die Irrtümer, die bei ihrer subjektiven Deutung unterlaufen – es ereignet sich trotz alledem, daß die Erfahrung sie bestätigt. Die Bestätigung der erogenen Kennzeichen, das bedeutet, in dem geliebten Menschen wirklich jene Eigenschaften finden, die wir kraft unserer eigenen Beschaffenheit in ihm voraussetzen. In demselben Maß, als er uns in diesen Voraussetzungen enttäuscht, wird unsere Zuneigung erkalten oder selbst nach dem Gesetz der Reaktion sich in entgegengesetzter Richtung zum Haß steigern; in demselben Maß aber, als sich diese Voraussetzungen bestätigen, wird die Zuneigung in einem dauernden Verschmelzungsprozeß wachsen und sich vertiefen. Ja, wenn es geschieht, daß die reale Person das immanente Bild in den entscheidenden Stücken noch übertrifft, dann kann das Zusammensein eine unerschöpfliche Quelle immer erneuter Anziehung bilden und alles, was die Liebe verspricht, zur Wahrheit machen.
Ihrem Wesen nach ist die Liebe auf ein Objekt gerichtet, das als ein Teil des eigenen Ichs erscheint und zugleich über das eigene Ich durch Ergänzung hinausführt. Das Verhältnis unserer Person zu diesem Objekt ist somit festgesetzt durch seine Beschaffenheit im Verein mit der unseren. Was der Liebende vor allem sucht, was ihn am höchsten beglückt, ist die Bestätigung der vorausgesetzten Eigenschaften in der Person des Objektes; und je stärker das Gefühl der inneren Verbundenheit durch solche Bestätigungen wird, desto eher tritt die reale Person an die Stelle des Idols. Die wunderbare Fähigkeit des Liebenden, das innerste verborgene Wesen der geliebten Person zu erraten und zu verstehen, beruht auf dem prästabilierten Verhältnis, in dem er durch seine eigene Wesensbeschaffenheit zu ihr steht, auf einer Intuition, die er vermöge der eigenen Wesensbeschaffenheit als das Bedürfnis nach seiner ergänzenden Wesenshälfte besitzt.
Daß diese uns als reale Person aus der Außenwelt entgegenkommt, ist von der gleichen entscheidenen Bedeutung in der Liebe, wie die Verwirklichung bei jedem anderen Streben; und so wenig wir uns mit einer bloß erträumten Erfüllung in der Verfolgung eines Zieles begnügen, so wenig können wir in der Liebe an dem bloßen Idole Befriedigung finden. Die Vorstellung, daß wir unsere Gefühle nicht an eine reale Person, sondern nur an ein Erzeugnis unserer Phantasie heften, würde das Beglückende, das die Liebe mit sich bringt, völlig zerstören. Um den Preis der Verwirklichung nimmt der Liebende die Mängel des geliebten Objektes hin und erträgt sie eben um der Zugehörigkeit zu der realen Person willen. Man darf also sagen: Das Ziel der Liebe als Seelenvorgang ist die Identifizierung mit einer realen Person – das Mittel dazu aber ist die Idolbildung, die nur durch die Mitwirkung der Phantasie zustande kommt. Ohne Idolbildung kann das Gefühl der inneren Verbundenheit und wesenhaften Zusammengehörigkeit nicht entstehen, weil nur durch sie die Schranken überwunden werden, die das egozentrische Ich von allen anderen Personen abgrenzen. Die bloße Hochschätzung, bei welcher keine Idolbildung stattfindet, bewirkt auch keine Überschreitung der Ichgrenze, keine Identifizierung.
Dieses Verhältnis zwischen dem Idol und der realen Person des Objektes in der Psyche des Liebenden ist allerdings ein schwer zu entwirrendes.
Wer vermöchte zu sagen, wieweit in dem Liebesbündnis zweier Menschen die genaue Kenntnis, die sie voneinander haben, oder die Illusion, die sie sich voneinander machen, überwiegt! Wenn wir aber die Tendenzen der Liebe in ihren höchsten Äußerungen betrachten, werden wir sehen, daß ihr Streben auf eine so innige Nähe, auf eine so völlige Hingebung gerichtet ist, wie es nur durch die seelische Gemeinschaft mit einer realen Person zu befriedigen ist.