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Jeder Besucher meines Hauses sieht sich, sobald er den Flur betritt, mitten unter fremdartigen Reiseerinnerungen, von denen ihm zunächst ein arabischer Sattel auffällt, den ich als den eigentlichen Urheber der vorliegenden Erzählung zu bezeichnen habe. Er ist aus rotem, morgenländischem Samt gefertigt und mit reichen Goldstickereien verziert, ein sogenannter »Paschasattel«, mit bequemen Bügelschuhen und jener fürchterlichen Art von Gebißstange, mit der man den Widerstand auch des stärksten Pferdes bezwingt.
Zu diesem Sattel kam ich durch meinen Freund, den reichen judarabischen Händler Mustafa Bustani in Jerusalem, dessen Geschäft im Suk el Bizar liegt. Wenn man nach dem heutigen Haram eseh Scherif geht, ist es rechter Hand, wo früher der Tempel des Salomo gestanden hat. Unter Judarabern sind diejenigen Araber des Heiligen Landes zu verstehen, die im Zusammenleben mit den Juden den überlieferten Haß gegen die Hebräer nach und nach aufgegeben haben und sich den streng alttestamentlichen Ansichten des »ausgewählten Volkes« mehr zuneigen als dem Christentum. Ein Christ zu werden, ist bei diesen Leuten keine geringere Schande als der Übertritt zum Judentum, aber dies betrifft nur die innere Anschauung. Auf den persönlichen oder gar geschäftlichen Umgang hat diese Ansicht keinen Einfluß gehabt. Trotz der religiösen Verschiedenheit war ich Mustafa Bustanis Freund. Ich kaufte, sooft ich in Jerusalem war, möglichst nur bei ihm, doch bevorzugte ich ihn nicht nur als Kaufmann, sondern noch viel mehr als Menschen. Er wußte das und vergalt es mir durch eine derartig freundschaftliche Zuneigung, daß ich mich im Besitz seines ganzen Vertrauens fühlte. Darum kehrte ich oft auch dann in seinem Laden ein, wenn ich nichts kaufen wollte. Dann saßen wir stundenlang auf einer großen, mit einem Teppich belegten Kiste nebeneinander, tranken unaufhörlich Kaffee, den Bem, der Neger, bereitete, und unterhielten uns in einer Weise, als ob wir Brüder wären und keine Spur von Geheimnis voreinander zu haben brauchten. In solchen Stunden ließ er sich nur durch vornehme Käufer stören; die gewöhnlichen fertigte der Gehilfe ab, auf den er sich ebenso wie auf sich selbst verlassen konnte. Dieser Gehilfe hieß Habakek, war ein höchst gutmütiger Mensch und einer jener Hexenmeister und Allerweltskünstler, die alles machen können, was ihre Augen sehen.
Mustafa Bustani war ein großer Märchenfreund. Am liebsten aber hörte oder erzählte er jene Art von Märchen, in denen der Wunderglaube oder die Verbindung zwischen Verstorbenen und Lebenden eine Rolle spielt. Doch war er keineswegs das, was man abergläubisch im gewöhnlichen Sinn nennt, sondern ein gebildeter Mann, der außer Arabisch auch noch Türkisch und Persisch sprach und sich mit Abendländern leidlich in Französisch und Englisch verständigen konnte. In Beziehung auf den Glauben zeigte er eine anerkennenswerte Duldsamkeit; früher aber schien das Gegenteil der Fall gewesen zu sein, denn er hatte einen Bruder gehabt, der von der Familie verstoßen worden war, weil er sich hatte taufen lassen, und Mustafa Bustani verheimlichte es nicht, daß er mit dieser Verstoßung damals einverstanden gewesen sei. Nun aber schien er hierüber doch anders zu denken. Ich erfuhr jedoch weiter nichts, als daß dieser Bruder sich nach dem Ostjordanland gewendet und dort eine Christin geheiratet habe. Deshalb seien dann alle seine Aussöhnungsversuche zurückgewiesen worden. Hierauf war er verschollen, aber man weiß ja nur zu gut, daß Familienbande niemals ganz zerrissen werden können. Dazu kam, daß der »Harem« Eigentlich Frauenwohnung; hier Umschreibung für Frau meines Freundes von weicheren Gesinnungen beseelt zu sein schien, denen er sich nicht ganz hatte verschließen können.
Harem? Gewiß! Unsere gegenseitige Vertraulichkeit war nämlich so hoch gestiegen, daß wir uns nicht scheuten, ganz offen von seinem und meinem »Harem« zu sprechen, was unter Mohammedanern doch eigentlich verpönt ist. Unter meinem Harem war natürlich nur meine Frau zu verstehen. Kinder habe ich nicht. Der seinige bestand auch nur aus einer Frau, einem elfjährigen Söhnchen und einer schwarzen Köchin. Die andere Dienerschaft wurde nicht zum Harem gerechnet. Der Sohn, der den bedeutungsvollen Namen Thar hatte, war ein aufgeweckter Junge, und gar nicht so langsam und überernst, wie orientalische Kinder bei uns beschrieben werden. Er kam oft aus der Wohnung, die nicht in der inneren Stadt lag, herein in den Laden, und wenn er mich traf, so wurde er nicht müde, mir durch die unglaublichsten Fragen meine sämtlichen heimatlichen Verhältnisse rund über den Haufen zu werfen. Ich erfuhr von ihm jede Neuigkeit aus dem Harem seines Vaters, jeden zerbrochenen Topf und jede gefangene Maus; dafür hielt er mich für unbedingt verpflichtet, ihm nun auch aus dem meinigen alle Geheimnisse zu berichten, und weh mir, wenn er einmal glaubte annehmen zu müssen, daß es mir in dieser Beziehung an Vertrauen zu ihm fehle!
Dieses freundschaftliche Verhältnis zwischen Vater, Sohn und mir hatte zur Folge, daß ich als Gast geladen wurde und bei dieser Gelegenheit auch die Mutter zu sehen bekam. Das wiederholte sich. Ich brachte des öfteren ganze Abende im Hause Mustafa Bustanis zu und mußte, als ich mich nach meiner letzten Anwesenheit verabschiedete, versprechen, meine Frau mitzubringen, sobald ich wiederkäme.
Nomen est omen Frei übersetzt: Der Name hat seine Vorbedeutung. Es war in der Familie Mustafa Bustanis seit Menschengedenken Brauch gewesen, daß immer ein Angehöriger Thar geheißen hatte. Das stammte aus ihrer nun längst verflossenen Nomadenzeit. Der jetzige Träger dieses Namens nun war der Bub, und er war Tag und Nacht bemüht, ihm soviel wie möglich Ehre zu machen. Thar heißt Vergeltung, Wiedervergeltung, Rache, Blutrache. Es ist das alte, fürchterliche Gesetz, das die Forderung stellt: Blut um Blut, Auge um Auge, Zahn um Zahn! Das hatte im Altertum seine guten Gründe, mag sie bei gewissen wilden Völkern in der Gegenwart noch haben, ist aber unter zivilisierten Verhältnissen nicht nur verwerflich und sträflich, sondern einfach lächerlich. Der Bub aber befand sich, seit er auf die Bedeutung seines Namens aufmerksam geworden war, so ganz unter dem Einfluß der Vorstellung, die er sich davon machte, daß er immer auf eine Rache sann, und wenn es keine gab, so machte er sich eine. Alles, was er hörte und was er sah, mußte ihm zum Grund einer Wiedervergeltung dienen. Doch er fand leider niemals die Anerkennung, die er erwartete. Das Schicksal verstand ihn falsch. Die Rache nahm zwar stets ihren köstlichen Verlauf, machte aber zum Schluß meist eine dumme Wendung und fiel auf die falsche Stelle, nämlich auf ihn selbst, und zwar dorthin, wo die Vergeltung am deutlichsten empfunden wird, ohne daß sie dem übrigen Körper schadet. Das hinderte ihn aber nicht, seinem Namen und seiner Bestimmung treu zu bleiben und immer wieder von neuem zu beginnen.
Diesen notwendigen Bemerkungen füge ich hinzu, daß ich von Sumatra nach Ägypten gekommen war, um dort mit meiner Frau zusammenzutreffen. Ich hatte sie durch das Land der Pharaonen und durch die arabische Wüste geführt, und nun befanden wir uns im Gelobten Land. Wir waren tags zuvor von Jaffa nach Jerusalem gereist, wollten einige Wochen bleiben, um Ausflüge in die Umgebung bis zum Toten Meer zu machen, und dann nach Damaskus gehen. Hierzu waren zwei Sättel nötig, ein Herren- und ein Damensattel, und da verstand es sich denn von selbst, daß ich meinen Freund Mustafa Bustani aufsuchte, um diesen Bedarf bei ihm zu decken. Meine Frau begleitete mich. Er und die Seinen waren ihr aus meinen Berichten fast ebensogut bekannt wie mir selbst, er, der nach orientalischen Begriffen hochgebildete, edle Mann, der nur in der Erziehung seines Söhnchens auf falschem Wege ging; seine Frau als ein überaus lebhaftes, liebes, gütiges Wesen, in der Vergötterung ihres Kindes mit dem Vater zusammentreffend; und endlich der Bub selbst, der die Eigenschaften der Eltern derart in sich vereinigte, daß er die heitere, scherzhafte Mutter sehr ernst und den ernsthaften Vater sehr spaßhaft nahm und darum fast immer in der Lage war, ihn und sie und alle Welt umzukehren.
Wir gingen durch das Jaffator nach dem Suk el Bizâr und fanden Mustafa Bustani anwesend. Er war damit beschäftigt, einen Kunden zu bedienen, der sich einen neuen Fes samt Turbantuch kaufen wollte, und sah und beachtete uns nicht sogleich. In der Mitte des Ladens stand ein Kamel, das aber eigentlich Habakek, der Gehilfe, war. Er hatte sich auf alle Viere niedergelassen und war genau wie ein zu einem Festzug hergerichtetes Kamel geschmückt. Die Kopfriemen waren mit Klingeln und Federbusch, die Vorderbeine mit Schellen behangen, die Seitenteile bestanden aus baumwollenen Netzen mit Glasperlentroddeln, und hinten herab hing ein ziegenlederner Wasserschlauch, damit man in der Wüste nicht zu verdursten brauche. Daneben stand Thar, der Bub, nur in das übliche blaue Hemd gekleidet, das gerade bis zum Knie und bis zum Ellbogen reichte, das Gesicht, die Arme und die Beine dunkelbraun angepinselt. Er rief soeben, als wir kamen, dem in der Kaffee-Ecke kauernden Neger Bem die Worte zu:
»Ich bin Beduinenscheik und füttere mein Kamel!«
Dabei schob er dem Gehilfen eine Handvoll Lattichsalatblätter, die von den Händlern draußen weggeworfen und von Thar aufgelesen worden waren, in den gehorsam geöffneten Mund. Dieser kaute und verschlang das »Futter« in so lauter und ergötzlicher Weise, daß man hätte glauben sollen, er sei wirklich nicht nur ein Dromedar, sondern sogar ein ganz ausgesprochenes baktrisches Kamel. Übrigens ergab sich nur aus dem Folgenden, daß er der Gehilfe Habakek war; erkennen konnte man es nicht, denn sein Gesicht war derart mit allerlei farbigen Kreuz- und Querstrichen bemalt, daß es vollständig unter ihnen verschwand. Deshalb fragte der Neger:
»Warum hast du ihn denn angestrichen?«
Da erklang die verwunderte Antwort:
»Das weißt du nicht? Das ist das Fell, was ich gemalt habe. Ein Kamel hat doch Haare im Gesicht!«
Es ist noch zu bemerken, daß vor dem Nachbarladen ein reich geschmückter Esel stand. Sein Herr, jedenfalls kein gewöhnlicher Mann, war abgestiegen und dort eingetreten, um irgend etwas zu kaufen.
Da erblickte mich der Neger. Er war damit beschäftigt, Kaffeebohnen in einem Mörser zu Mehl zu zerstoßen, warf vor Überraschung Kaffee und Mörser weg und erhob vor Freude ein Geheul, als ob er gepfählt werden solle. Hierdurch wurden die anderen auf mich aufmerksam. Mustafa Bustani war so verwundert, mich plötzlich vor sich zu sehen, daß er stillstand und nichts sagte. Um so mehr zeigte sich Thar der Sachlage gewachsen. Er tat einen Luftsprung, stieß einen Jubelruf aus, deutete auf meine Frau und fragte:
»Ist das die, die du uns versprochen hast?«
»Sie ist es«, antwortete ich.
Da verneigte er sich dreimal vor ihr, winkte nach dem Kamel und bat sie:
»Setze dich darauf; es ist für dich geschmückt!«
Jetzt erhob sich das Dromedar auf die Hinterbeine, wischte sich mit den Händen das »Fell« aus dem Gesicht und sagte:
»Dazu habe ich keine Zeit, denn nun muß ich den Dienst des Ladens übernehmen.«
Er warf den Kamelschmuck von sich und widmete sich dem Käufer, den Mustafa Bustani nun seinem Schicksal überließ, um sich mir und meiner Frau zuzuwenden.
Seine Freude war ebenso groß wie aufrichtig. Er begrüßte mich durch die üblichen Verneigungen und zog mich an sein Herz:
»Welch ein Heil widerfährt mir heute! Allah sei Dank! Laß dich bei mir nieder, du liebster meiner Freunde; du weißt, daß du mir hochwillkommen bist!«
Dann machte er meiner Frau dieselben drei Verbeugungen; aber als er zu ihr sprechen wollte, versagte ihm die Stimme, und es stürzten ihm Tränen aus den Augen. Er legte beide Hände aufs Gesicht und schluchzte leise. Da weinte auch Thar, griff in die Falten des weißen Reisekleides meiner Frau, wischte sich mit ihnen die Tränen ab, dann auch die braune Beduinenfarbe aus dem Gesicht und von den Armen, und erklärte ihr:
»Er weint darüber, daß du nun da bist und sie dich doch nicht sehen kann.«
»Warum kann sie mich nicht sehen?« fragte meine Frau, die natürlich erriet, daß er seine Mutter meinte.
»Sie ist gestorben«, antwortete er. »Weißt du das noch nicht?«
Wir erschraken beide und fanden nicht gleich Worte. Der Bub aber fuhr fort:
»Sie freute sich so sehr auf dich; denn dein Effendi, den wir alle so lieb haben, hatte stets nur Gutes über dich gesagt. Da kam die Krankheit und schloß ihr die Augen. Man trug sie fort. Nun weint der Vater stets, wenn er an sie denkt, und ich muß mir fast alle Tage eine neue Rache aussinnen, damit er wieder lacht. Aber er lacht nicht mehr und prügelt auch nicht mehr, und das ist beides falsch.«
Er ließ bei diesen Worten sein Auge durch den Laden schweifen. Es fiel auf den Käufer, der sein rundes Turbankäppchen vom Kopf genommen und zur Seite gelegt hatte, um sich einen passenden Fes auszusuchen, was nach morgenländischer Weise immer lange dauert und mit vielen Reden und Gegenreden verbunden ist. Sein Kopf war kahl, glänzend blank und glatt. Da zuckte ein schelmischer Gedanke über das drei Viertel ausgewischte Gesicht des Knaben und er fügte hinzu:
»Da kommt mir gleich wieder eine Rache! Ich bitte euch, stört mich nicht, sondern schaut lieber dorthin, wo ich nicht bin!«
Er schlängelte sich behutsam nach der Ecke, wo der Kochherd für den Kaffee stand und verschiedene Geräte für allerlei Zwecke dabei. Dort war auch der Platz des Negers, der ihn aber verlassen hatte, um auf einen Wink seines Herrn aus einigen Warenballen und einem Teppichtuch einen Diwan für meine Frau herzurichten. Mustafa Bustani half ihm dabei, um seiner Trauer Meister zu werden, und hatte also auf das, was sein Sohn zu uns sagte, nicht geachtet. Als der Diwan fertig war, setzten wir uns. Ich bekam meinen von früher her gewohnten Platz auf der Kiste und einen Tschibuk dazu. Infolge der Trauerbotschaft wollte die Unterhaltung nicht in Gang kommen. Glücklicherweise bot uns das Geschäft, das uns herbeigeführt hatte, einen Notbehelf. Leider hatte Mustafa Bustani keine Sättel im Vorrat liegen, doch bat er uns, morgen wieder vorzusprechen, er werde inzwischen für die Befriedigung unserer Wünsche sorgen.
Hier störte uns der Käufer, ein Landbewohner aus Ain Karim. Er hatte sein altes Käppchen nebst Kopftuch wieder aufgesetzt und zeigte die gewählten neuen Sachen vor, einen Fes nebst buntem Turbantuch, deren Preis er wissen wollte. Im Orient geht selbst ein so unbedeutender Handel nicht schnell vonstatten; diesmal aber gab Mustafa Bustani, um den Mann nur loszuwerden, so schnell und so viel im Preis nach, daß der Käufer schleunigst zahlte und sich dann entfernte.
Diese Unterbrechung hatte aber doch die Wirkung, daß das Gespräch jetzt mehr Leben gewann. Bustani ergriff dabei fast jede Gelegenheit, auf Thar zurückzukommen und irgendein Lob über ihn zu sagen. Wir sprachen nicht etwa leise, und so mußte der Bub das also hören. Der hockte beim Neger in der Ecke und schien irgendeine Art von Verwandlung mit sich vorzunehmen, die uns aber zunächst noch verborgen war. An Stoffen zu solchen Verwandlungen fehlte es im Laden nicht, wo fast alles nur Denkbare, sowohl Altes wie auch Neues, zu kaufen war. Als er das große Werk mit Hilfe des Negers vollendet hatte, kam er aus der Ecke herbeigeschritten, langsam, stolz und würdevoll, um sich uns vorzustellen. Er hatte sich als Held gekleidet, um also wahrscheinlich wieder eine Blutrache auszuüben. Sein Helm bestand aus einem halben tönernen Wasserkrug. Den Brustpanzer bildete ein blecherner Lampenschirm von der Sorte, die man senkrecht vor das Licht zu stellen pflegt. An die nackten Waden hatte er sich zwei alte, riesige Rittersporen gebunden, die aus der Zeit der Kreuzzüge stammten. In einem Strick, der den Gürtel bildete, steckten die fürchterlichsten Waffen, die man sich denken kann, nämlich drei Messer, zwei Scheren, zwei Korkzieher und vier Lichtputzen, die rund um den Leib geordnet waren. Außerdem hatte er sich eine Mausefalle und einen Köcher mit Pfeilen und Bogen umgehängt. Die übrige Bewaffnung, die er in den Händen trug, bestand aus einer Sichel, einer Säbelscheide und einem Flintenlauf. Die hierzu gehörige Kriegsbemalung zeigte zwar nur zwei Farben, machte aber den Eindruck, auf den sie berechnet war. Der rechte Arm und das linke Bein waren grün bemalt, der linke Arm und das rechte Bein aber blau. Blau waren auch die beiden Backen und die Schnurrbartgegend, das Kinn aber grasgrün. Da konnte man unmöglich ernst bleiben. Wir lachten, und Mustafa Bustani lachte mit.
»Wer bist du denn?« fragte er den Gewappneten.
»Ich bin Gideon, der Held«, antwortete dieser in grimmigem Ton und rasselte mit den Waffen.
»Er nimmt seine Helden stets aus dem Alten Testament«, erklärte uns sein Vater. Und zum Sohn gewendet, fuhr er fort:
»Was hast du als Gideon heute vor?«
»Ich habe die Baalspfaffen zu erschlagen und die Midianiter umzubringen.«
Neues, noch stärkeres Rasseln! Leider war es unmöglich, über diese kühnen Absichten etwas Weiteres zu erfahren, denn wir wurden von dem Mann aus Ain Karim unterbrochen, der in diesem Augenblick nach dem Laden zurückgelaufen kam, und zwar in einer Aufregung, wie sie nur eine Folge des höchsten Zorns ist. Er sprach so schnell und so empört, daß man ihn zunächst gar nicht verstand. Man unterschied nur die Worte Fes – Turban – Barbier – Kopf – blau – Seife – Wasser – Scham und Schande! Als wir aber baten, sich zu beruhigen und langsam zu erzählen, tat er es, und so erfuhren wir, daß er von uns aus zum Barbier gegangen war, um wie stets, wenn er sich in der Stadt befinde, nach Haupt und Bart sehen zu lassen, denn diese Reinlichkeit des Hauptes sei vom Propheten vorgeschrieben. Als er dabei sein Haupt entblößt habe, was eigentlich nur vor dem Barbier, vor keinem anderen Menschen geschehen dürfe, hätten alle Anwesenden vor Lachen laut auf gebrüllt, denn das Haupt seines Alters sei nicht mehr weiß wie immer, sondern blau wie der Himmel gewesen, und es habe sich herausgestellt, daß diese Bläue aus der Kopfbedeckung stamme, die er hier abgenommen habe und worein die Farbe von irgend jemand heimlich geschüttet worden sei. Der Barbier habe zwar versucht, sie Ihm vom Kopf zu waschen, wodurch die Sache aber nur noch schlimmer geworden sei, denn das Blau des Himmels habe sich durch das Wasser aufgelöst und nur noch tiefer und fester in den Schädel eingefressen; Allah erbarme sich!
»Hier, seht mich an!« rief er zum Schluß und nahm Käppchen und Tuch vom Kopf. »Der Verbrecher trete vor, daß ich ihn bestrafen lasse!«
Ein vollständig haarloser Schädel, von glänzend himmelblauer Farbe! Dazu der Gedanke, daß der Mann nicht etwa den neuen Fes, sondern gerade die alte abfärbende Kappe wieder aufgesetzt hatte! Man brauchte den übrigen Anblick und das im Zorn unbehilfliche Gebaren gar nicht hinzuzufügen, um dem Lachreiz nicht widerstehen zu können. Meine Frau brach zuerst los. Es war ihr unmöglich, sich zu beherrschen. Der Neger folgte, dann Habakek, hierauf ich und schließlich auch Mustafa Bustani, Es gab ein schallendes aufrichtiges Gelächter, das aber die sonderbare Wirkung hatte, daß es den Mann aus Karim nicht zorniger, sondern kleinlaut zu machen schien, wahrscheinlich durch das Eigengefühl seiner Lächerlichkeit.
Nur einer lachte nicht: der Bub. In seinem Gesicht rührte sich kein Zug. Er trat auf ihn zu und sagte laut und ernst:
»Ich bin es gewesen, ich!«
»Du?« fragte der Mann erstaunt. »Wie kann ein Kind es wagen, das entblößte Haupt eines Moslem zu beschimpfen?«
»So entblöße es nicht! Ich tat es aus Rache, denn ich hieße Thar; daß du es weißt.«
»Thar?« fragte der andere verständnislos.
»Ja, Thar! Hast du nicht selbst gesagt, daß der Gläubige sein Haupt nur dem Barbier entblößen darf? Du hast es aber auch hier, auch uns gezeigt. Deshalb habe ich dich bestraft, indem ich dir die blaue Vergeltung in die abgenommene Hülle deines Kopfes schüttete.«
»Ist so etwas denn möglich?« fragte der Blauköpfige erstaunt. »Dieser Knabe spricht davon, daß ich zu bestrafen sei, nicht er. Was sagt sein Vater dazu?«
Diese Frage wurde an Mustafa Bustani gerichtet, doch bevor dieser antworten konnte, tat es der Bub:
»Brauchst du hier einen Vater, so hole deinen; den meinen borge ich dir nicht. Ich bin Gideon, der Held aus Manasse. Leb wohl!«
Er nickte ihm würdevoll zu, ging stolzen Schrittes zum Laden hinaus, stieg, so wie er war, in seiner ganzen Waffenrüstung, auf den draußen stehenden fremden Esel und ritt im Trab davon. Man weiß ja, daß orientalische Knaben von frühester Jugend an den Rücken eines Esels als besten Spielplatz betrachten. Nur selten findet man einen, der den Mut zu reiten nicht besitzt.
Der Mann aus Karim wußte jetzt wirklich nicht, was er denken sollte. Sein Mund stand offen. Er schaute hinter dem Knaben drein, ohne ein Wort zu sagen.
»Das ist ja prächtig«, rief meine Frau, noch immer lachend.
Ich hatte keine Zeit, ihr zu antworten. Die Angelegenheit verwickelte sich. Der Besitzer des Esels war nämlich auf die Entfernung seines Tieres aufmerksam geworden. Er hatte sich erkundigt, wer der sonderbar ausgerüstete Knabe sei, und kam nun aus dem Nachbarladen heraus und zu uns herüber, um der Sache entweder zivilrechtlich oder strafrechtlich näherzutreten,
»Wer von euch ist Mustafa Bustani?« erkundigte er sich.
»Ich«, antwortete mein Freund, rutschte von der Kiste herab und verneigte sich rief.
»Kennst du mich?«
»Ja. Wer sollte dich nicht kennen? Du bist Osman Achyr, der Ferik-Pascha des Großherrn. Allah segne ihn!«
»Dein Sohn hat meinen Esel gestohlen.«
»Er hat ihn nicht gestohlen, sondern nur entliehen. Er bringt ihn sicher wieder.«
»Bin ich etwa ein Eselverleiher? Und wäre ich einer, so hätte man mich erst zu fragen.«
»So verzeih!«
Der Mann aus Karim war beim Nahen des Generals, dem man seine Vornehmheit ansah, obwohl er schlichte Bürgerkleidung trug, bescheiden zur Seite getreten. Jetzt, da es sich um einen zweiten Beschädigten handelte, bekam er Mut, seine Stimme von neuem zu erheben.
»Nein, verzeih es nicht!« sagte er. »Der Knabe hat dich bestohlen und mich geschändet. Ich fordere, daß er bestraft werde!«
Da drehte sich der Pascha zu ihm um und fragte:
»Wer bist du? Was hat er dir – – –«
Er sah den Mann, den blauen Schädel, hielt mitten im Satze inne, machte Augen, die immer größer und immer glänzender wurden. Das hielt der Blaue für den geeigneten Augenblick, loszubrechen und die Missetat nochmals zu berichten. Aber er kam nicht weit damit, denn die Himmelsbläue wirkte auf den General genauso, wie sie auf uns gewirkt hatte; er konnte sich nicht halten und begann zu lachen, und zwar so zu lachen, daß wir anderen alle wieder mit einstimmten. Und mitten in dieses Gelächter hinein, was geschah – –? Da kam der Bub zurückgeritten, ein ganzes Schock von Kindern hinter ihm her. Die Erwachsenen kannten ihn schon; die kümmerten sich schon längst nicht mehr um seine sonderbaren Streiche. Er hielt den Esel genau an derselben Stelle an, auf der er vorher gestanden hatte, stieg ab und kehrte mit demselben Ernst und derselben hoheitsvollen Würde zu uns zurück, wie er uns vorhin verlassen hatte. Das machte einen so unwiderstehlichen Eindruck auf uns alle, daß das Lachen einen Augenblick schwieg, dann aber in doppelter Stärke wieder losbrach und gar nicht enden wollte. Auch der Blaue lachte mit: er war sogar der letzte, der zum Aufhören kam. Thar kannte den General auch. Er stellte sich gerade vor ihn hin, richtete sich stramm auf und machte genauso eine Ehrenbezeigung, wie er bei Soldaten gesehen hatte, die einem Offizier begegnen.
Da fragte ihn der Pascha:
»Du weißt, wer ich bin?«
»Ja«, erwiderte der Knabe.
»Nun, wer?«
»Du bist Benaja, der Feldhauptmann des Königs Salomo!«
»Brav!« lachte der Offizier. »Du bleibst in deiner Rolle! Was aber sind das hier für Waffen?«
Er deutete dabei auf die Scheren, Korkzieher und Lichtputzen. Aber der Bub war nicht aus der Fassung zu bringen. Er hatte unzähligemal dem Mund der Geschichte, der Sage und des Märchens gelauscht und kannte die Vergangenheit Jerusalems besser als gar mancher deutscher Junge die Geschichte seiner Vaterstadt. Auch war er sich der sinnbildlichen Bedeutung seiner Waffen wohl bewußt. Er antwortete also schnell und ohne sich zu besinnen:
»Das sind die ›Skorpione‹, mit denen der König von Juda seine Leute in die Ohren kniff, wenn sie nicht gehorchen wollten. Und ich bin Gideon, der Held ans dem Stamm Manasse. ich habe mir dein Streitroß geborgt, weil ich eine Blutrache gegen die Midianiter habe; aber es ist zu dick und hat keinen Atem; darum bin ich wieder umgekehrt, um es dir zurückzubringen. Ich danke dir, aber es ist wirklich nicht zu gebrauchen.«
Er wiederholte die Ehrenbezeigung. Da lachte der Pascha, daß ihm die Tränen in die Augen traten. Er schien überhaupt ein sehr leutseliger Herr zu sein.
Mustafa beeilte sich, diese gute Stimmung für die Straflosigkeit seines Knaben auszunützen. Er sprach die Bitte aus:
»Verzeih ihm, was er tat! Er ist klug und gut.«
Er erreichte genau das Gegenteil von dem, was er beabsichtigt hatte. Das Gesicht des Pascha wurde im Nu wieder ernst. »Von Straflosigkeit kann keine Rede sein«, sagte er; »dein Sohn hat doppelt gesündigt, an mir und an diesem da.« Dabei deutete er auf den Mann von Ain Karim. Dann fuhr er fort: »Und damit er nicht etwa Lohn statt Strafe erntet, werde ich die Züchtigung in meine eigenen Hände nehmen. Ist ein Stock vorhanden, der sich für solche Zwecke eignet?«
Der Neger, der diese Frage hörte, brachte ans seiner Ecke ein dünnes, knotiges Spazierstöckchen herbei, das allerdings gut zu jenen erziehlichen Handlungen zu verwenden war, von denen die Jugend zu schweigen pflegt. Der General nahm das Rohr, schwippte es zur Probe einigemal hin und her und auf und ab, nickte befriedigt mit dem Kopf, blinzelte den Blauen verschmitzt von der Seite an und fragte ihn:
»Du bist doch damit einverstanden, daß der Sünder verurteilt wird?«
»Ja«, nickte der Gefragte schnell.
»Soll ich das Urteil gleich in deinem Namen mitsprechen und ausführen?«
»Wohlan, so soll er zehn Streiche erhalten, fünf für mich und fünf für dich, und zwar von meiner Hand.«
»Ist das nicht zu wenig?« fragte der Mann enttäuscht.
»Nein, es ist nicht zu wenig, sondern gerade genug«, erwiderte der Bub.
»Du hast zu schweigen«, fuhr ihn der Blaue an.
»Wer bekommt die Prügel? Ich oder du?«
»Du!«
»So kannst doch du nicht fühlen, ob es zuwenig ist oder zuviel!« Und sich an den Pascha wendend, fügte er die Frage hinzu: »Ist es dein Ernst, das mit den zehn Streichen?«
»Ja«, bestätigte dieser. »Für einen Gideon ist es eigentlich keine große Ehre, mit dem Stock gezüchtigt zu werden.«
»Das meine ich auch«, stimmte der Knabe bei. »Aber ich habe nun einmal das Unglück, die Rache nicht bloß auszugeben, sondern auch wieder einzunehmen. So bitte ich dich wenigstens um die Erlaubnis, erst mein Heldentum ablegen zu dürfen.«
Das wurde ihm gestattet. Er ging in die Kaffee-Ecke, entledigte sich dort seiner kriegerischen Ausrüstung und kehrte dann zurück, um sich der freihändigen Strafrechtspflege zur Verfügung zu stellen.
»Halte ihn!« befahl der Pascha dem Vater. Dieser gehorchte. Er bog sich nach vorn, schob das linke Knie vor und legte den Inhaber der Blutrache quer darüber, in jener uns allen wohlbekannten Weise, in der die Rückseite des Empfängers nach oben kommt. Thar ließ es mit sich geschehen, ohne sich zu sträuben und ohne ein Wort zu sagen. Der Pascha stellte sich quer dazu, holte aus und zählte die Hiebe, die er gab:
»Eins – – – zwei – – – –!«
Er kam nicht weiter, denn jetzt stand meine Frau von ihrem Sitz auf, stellte sich mitten zwischen die handelnden Personen, so daß der Strafvollzug unterbrochen wurde, und bat um Gnade. Der Pascha fragte, wer sie sei. Sie sagte es. Er besann sich einen Augenblick, verbeugte sich dann und antwortete, daß er ihre Bitte zwar mit Vergnügen erfülle, aber unmöglich von der Zahl zehn, die er als Urteil ausgesprochen habe, abgehen könne, denn er pflege unter allen Umständen Wort zu halten. Die zwei bereits gegebenen Streiche freilich könne er nicht mildern, aber die noch ausstehenden acht möge nun sie so verabreichen, wie es ihr Herzensbedürfnis sei. Dabei reichte er ihr den Stock, trat zurück und winkte fortzufahren. Sie tat es so, daß wir alle, den Sträfling mit eingeschlossen, wohl zufrieden waren. Als sie sich dann nach dem Pascha umwendete, sah sie ihn nicht mehr. Er war inzwischen in den nebenanliegenden Laden zurückgekehrt. Der Mann aus Ain Karim schickte sich zwar an, Einspruch zu erheben, doch Mustafa Bustani forderte ihn auf, in einer Stunde wiederzukommen und sich ein Geschenk zu holen. Es fielen nur noch einige kurze Worte hin und her, dann ging der Landmann einstweilen befriedigt fort. Inzwischen flüsterte, da sein Vater es nicht hörte, der Bub uns beiden zu:
»Er hat gelacht! Habt ihr es gesehen? Wie mich das freut!«
Seine lieben, guten Augen leuchteten. Nun küßte er meiner Frau die Hand und sagte:
»Ich danke dir für die acht, die du mir gegeben hast! Sie waren zart und mild wie Zuckergebackenes, in dem kein Pfeffer ist. Ich werde dir das nie vergessen. Du weißt, ich bin ein Held. Ich bitte dich, in jeder Not auf mich zu rechnen.«
Hierauf zog er sich wieder in die Kaffee-Ecke zurück, um unter Beihilfe des Negers irgendeine neue Veränderung mit sich auszuführen. Sein Vater setzte sich wieder zu uns, und wir nahmen unsere unterbrochene Unterhaltung von neuem auf. Den Schelmenstreich seines Lieblings tat er lächelnd mit den Worten ab:
»Er war der ›Auserwählte‹ seiner Mutter. Die sah ihm alles nach.«
»Wie ist er nur zu dieser sonderbaren Liebe zur Farbe gekommen?« erkundigte ich mich. »Oder war das früher schon?«
»Nein«, antwortete er. »Mein Kaffeeneger und meine schwarze Köchin sind Eheleute. Die haben einen Jungen, der seit einiger Zeit zu einem Tüncher in die Lehre geht. Daher die lebhafte Zuneigung meines Knaben für das bunte Reich der Farben. Mir scheint, er ist zum Künstler geboren. Natürlich sind vorerst nur die Anfänge zu sehen, aber die verraten schon so viel, daß ich denke, mein schönes einträgliches Geschäft wird einst in fremde Hände übergehen müssen. Der Islam ist zwar der Ab- oder Nachbildung des menschlichen Körpers nicht zugeneigt, doch bietet die übrige Schöpfung soviel des Großen und Schönen, daß für Thar und seine Kunst genug vorhanden ist, berühmt zu werden. Alle meine Bekannten sind der Meinung, daß Bedeutendes in ihm steckt. Ist es da nicht meine Pflicht, ihn zum großen Mann zu machen?«
Er sprach nicht etwa leise; der Knabe hörte jedes Wort. Infolgedessen kam er aus der Ecke zu uns hervor und sagte zu mir:
»Du mußt das richtig erfahren, Effendi; der Vater teilt es dir nicht vollständig mit. Es ist nämlich so: der Vater sagt: er war der ›Auserwählte‹ der Mutter; die sah ihm alles nach; aber er hat Talent zum Künstler und wird ein großer Mann. Die Mutter sagte immer: er ist der ›Auserwählte‹ des Vaters; der sieht ihm alles nach; aber er hat Talent zum tapferen Helden und wird ein großer Mann. Und der Lehrer, zu dem ich in den Unterricht gehe, der sagt stets: er ist der ›Auserwählte‹ seines Vaters, seiner Mutter und seiner ganzen Verwandtschaft; die sehen ihm alles nach; aber er hat nicht die geringste Begabung zu irgend etwas Großem und ist nur zum Handel und Schacher und zum Schwindel bestimmt. So, nun weißt du es, Effendi!«
Er sagte das ernst, und es war auch ernst, und nicht nur das, sondern sogar wichtig. Sein Vater ahnte nicht den tiefen Sinn, der in den ehrlichen Worten des Kindes lag. Meine Frau aber verstand ihn, denn sie sah mich an und nickte mir bedeutungsvoll zu. Der Bub hatte sich inzwischen äußerlich verändert, wenn auch nicht in den Farben, so doch in Beziehung auf ihre Anordnung. Was nämlich vorher grün gewesen war, das war nun blau, und was erst blau gewesen war, das war nun grün. Also grün waren jetzt das rechte Bein, der linke Arm und die beiden Backen, und blau waren das linke Bein, der rechte Arm, die Schnurrbartgegend und das Kinn. Darum erkundigte ich mich zunächst:
»Wer bist du denn jetzt?«
Er antwortete sofort:
»Ich bin Judas Makkabäus und habe eine Blutrache gegen die Syrer. Aber das lasse ich einstweilen noch ruhen, weil ich gehört habe, was der Vater über mich sagte. Ich habe dir mitgeteilt, wie er über mich denkt, wie die Mutter über mich dachte und wie der Lehrer über mich denkt. Nun möchte ich gern auch wissen, wie du über mich denkst, Effendi?«
»Sag mir vorerst deine Meinung darüber, wer recht hat, der Vater, die Mutter oder der Lehrer!«
Er errötete, warf dem Vater einen um Verzeihung bittenden Blick zu und erwiderte:
»Den Vater habe ich lieb, die Mutter habe ich lieb; aber sie haben beide unrecht. Den Lehrer habe ich nicht lieb, aber er hat recht.«
Da konnte ich nicht anders: ich zog den Jungen an mich und küßte ihn auf die frei von Farbe gebliebene Stirn. Das Herz wollte mir überquellen, und ich sah, daß auch meine Frau innerlich ergriffen war.
»So gib mir eine Frist«, bat ich Thar. »Wir sehen uns zum erstenmal wieder, und du bist anders geworden, als du früher warst. Ich treffe dich jetzt oft. Da mache ich mir meine Meinung über dich, und die sage ich dir, bevor ich Jerusalem verlasse.«
»Wirklich?« fragte er bittend.
»Ja, wirklich«, antwortete ich.
Da strich er mir mit der Hand leise und zärtlich über die Wange und beteuerte:
»Ich liebe auch dich; aber du wirst nicht unrecht haben, das weiß ich bestimmt. Willst du dir einmal anschauen, was ich gemalt habe?«
»Ja.«
»Wann kommst du wieder?«
»Morgen um dieselbe Zeit.«
»Also schon am Vormittag. Da muß ich die Bilder heute nachmittag beginnen und vollenden.«
Er sann einige Augenblicke nach. Ein schalkhaftes Lächeln zuckte über die grünen Backen und über die blaue Schnurrbartgegend. Dann fragte er seinen Vater:
»Darf ich dich bitten, mir für heute unser Gartenhaus zu überlassen?«
»Was willst du drin?« erkundigte sich der Gefragte.
»Zwei Bilder malen und sie morgen dem Effendi zeigen.«
»Gut, ich bin einverstanden.«
»Aber es darf mich niemand stören. Es ist keinem Menschen erlaubt, zu mir hereinzukommen, wenn ich nicht will.«
»Auch mir nicht?«
»Auch dir nicht.«
»Das ist ja prächtig! Aber ich hoffe, daß es dir gelingen wird, dem Effendi etwas wirklich Gutes zu zeigen, und so habe ich nichts dagegen.«
»Allah sei Dank!« rief der Bub. »Gleich geht es los.«
Er schlug vor Entzücken einen Purzelbaum und schoß dann zum Laden hinaus.«
»Nun, was sagst du zu ihm?« fragte Mustafa Bustani nach einer Minute des Schweigens. »Was für ein Knabe! Nicht wahr, ein Künstler?«
»Warten!« antwortete ich. »Erst sehen! Solche Urteile wollen überlegt und wohl betrachtet sein. Ich habe um Frist gebeten. Morgen treffen wir uns ja schon wieder.«
Wir gingen. Es war gegen Mittag, wo die heißeste Zeit des Tages beginnt, die man am liebsten im kühlen Zimmer verbringt. Als die Mittagshitze vorüber war, wanderten wir nach dem Ölberg, um nach Bethanien hinauf zu spazieren und dann über die Stätte Bethanien und Kafr et Tur nach der Stadt zurückzukehren. Wir nahmen das photographische Gerät mit, ohne das meine Frau nie verreist. Was mich betrifft, so befasse ich mich auf Reisen nicht mit solchen Dingen, weil sie viel Zeit und Mühe in Anspruch nehmen und die persönliche Selbständigkeit und Beweglichkeit in hohem Grade beeinträchtigen. Meine Frau aber liebt es, Erinnerungsbilder mit nach Hause zu bringen und sich und andere später damit zu erfreuen. So machte sie auch heute in Bethanien einige Aufnahmen, die die Eigenartigkeit der dortigen Stein- und Mauerreste zeigen. Dann stiegen wir zur vollen Höhe des Ölbergs hinauf. Da gibt es Stellen, von denen man nicht nur die ostjordanischen Berge, sondern sogar einen Teil des Toten Meeres sehen kann. Während wir diese reiche Fernsicht genossen, sprachen wir über unseren heutigen Besuch bei Mustafa Bustani. Ich hob hervor, daß er gegen früher leidend aussehe und mehr gealtert sei, als die Jahre eigentlich mit sich brachten. Der Tod seiner Frau hatte ihn viel tiefer ergriffen, als man einem Mohammedaner sonst zuzutrauen pflegt. Oder sollte ihn noch etwas anderes bedrücken?
Nachdem wir unsere Aufmerksamkeit bisher ausschließlich nach Osten gerichtet hatten, wendeten wir uns nun dem Westen, also der Stadt zu. Da gewahrten wir in abgeschiedener Gegend einen einsamen Mann, der in der Nähe eines Johannisbrotstrauchs saß und, die Hände wie zum Gebet gefaltet, unbeweglich gegen Morgen starrte. Das war einige Zeit vor der Abenddämmerung. Wir mußten an ihm vorüber. Als wir näherkamen, erhob er sich. Es war Mustafa Bustani, unser Freund, von dem wir soeben erst gesprochen hatten. Wir sagten ihm das. Er aber schien über dies unbeabsichtigte Zusammentreffen verlegen zu sein.
Es war, als ob er sich über etwas ertappt fühle, was niemand wissen solle. Seine Worte, die sich an die Begrüßung schlossen, klangen wie eine Verpflichtung, sich entschuldigen zu müssen.
Er teilte uns mit, daß die Stelle, an der wir uns befanden, seit einiger Zeit sein Lieblingsplatz sei, den er fast täglich aufsuche, um gegen Osten hinzuschauen. Ich mußte dabei unwillkürlich an seinen verstoßenen Bruder denken, der ja gegen Osten hin verschwunden und verschollen war. Wir setzten uns bei ihm nieder und erkannten bald, daß er sich in einer eigenartigen Stimmung befand, deren Grundton als eine weiche Hilflosigkeit herauszufühlen war. Er leitete das Gespräch bald auf seinen schon erwähnten Lieblingsgegenstand, nämlich auf den Zusammenhang der sichtbaren mit der unsichtbaren Welt und auf die biblische Behauptung, daß es Wunder gebe. Hierauf gestand er uns, daß ihn ein Traum herauf an diese Stelle treibe, ein Traum, der so bestimmt und deutlich gewesen sei, als ob er im Wachen stattgefunden habe. Diese Deutlichkeit sei so überzeugend gewesen, daß er sich den Tag des Traumes aufgeschrieben habe, den fünfzehnten Tag des Monats Adar März. Halb sich entschuldigend und halb fragend fügte er hinzu, daß er uns wohl nicht zumuten dürfe, uns mit seinen Träumen zu beschäftigen. Wir versicherten ihm, daß alles, was sein Seelenleben betreffe, unsere Teilnahme habe, und so erzählte er:
»Du weißt, Effendi, daß mein Bruder verstoßen wurde, weil er Christ geworden ist, und daß wir alle seine Aussöhnungsversuche zurückwiesen, weil er sodann noch eine Christin zur Frau genommen hatte. Hierauf ist er verschollen. Niemand konnte erfahren, wohin er sich später gewendet hat. Aber du weißt nicht, daß die Verstoßung die vollständige Enterbung zur Folge hatte und daß er alles verlor, worauf zu rechnen er ein ebenso großes Recht besaß wie ich selbst. Ich wurde der einzige Erbe; er aber war arm wie ein Bettler!«
»Eine Folge eurer Gesetze und der herrschenden Familienrechte«, versuchte ich zu entschuldigen.
»Du bist Christ und denkst also anders, als du mir zuliebe sprichst!« wies er mich zurück. »Ich fühlte jahrelang keine Spur der Ungerechtigkeit, die wir gegen ihn begangen hatten. Aber Besitz und Religion sind doch ganz verschiedene Dinge. Darf ich etwa aus der Reihe der Gläubigen gestoßen werden, wenn sich mein Reichtum in Armut verwandelt? Nein! Ebensowenig darf man mich aus dem Kreise der Besitzenden stoßen, weil ich nicht Moslem bleiben, sondern Christ werden will. Dieser Gedanke aber ist nicht von mir, sondern er kam von meinem Weibe. In ihrem Herzen wohnte eine Liebe und eine Güte, die es in dem meinigen nicht gab. Diese Güte begann eine schwere Arbeit an mir, doch sie gelang. Meine Härte wurde immer weicher, und als sie, die Mutter meines Sohnes, starb, da starb sie als Siegerin. Ich versprach ihr, meinen Bruder aufzusuchen und alles, was ich besitze, mit ihm zu teilen. Sie dankte mir, segnete mich, schloß die Augen und – verschied.«
Er verhüllte das Gesicht mit den Händen und schwieg eine Weile, um seine Bewegung zu meistern; dann fuhr er fort:
»Ich suchte und ließ suchen, doch vergebens. Der Bruder war verschwunden. Ich dachte stets an ihn, fast ebenso oft wie an sie, deren Tod mir mehr genommen hat, als du, Effendi, wahrscheinlich denkst. Mir kam die Frage, ob mein Bruder wohl gar gestorben sei und ob er und sie sich jenseits dieses unseres Lebens finden, sehen und sprechen. In solche Gedanken vertiefte ich mich. Mit ihnen wachte ich und mit ihnen schlief ich ein. Da, am fünfzehnten Tag des Monats Adar, träumte mir, daß ich in der Moschee knie und bete. Plötzlich öffnete sich die Wand in der Kiblah Gebetsrichtung nach Mekka, und mein Bruder erschien und forderte mich auf, mir zu merken, was er mir sage. Und das lautete: ›Ich bin gestorben, aber ich lebe. Nicht ihr habt mir, sondern ich habe euch zu verzeihen. Ich werde dir diese meine Verzeihung senden. Sie naht von Osten her. Schau täglich nach ihr aus und mach an ihr wieder gut, was ihr an mir verbrochen habt!‹ So lauteten seine Worte. Dann verschwand er. Die Wand schloß sich wieder, und ich erwachte aus dem Traum. Der erschien mir so deutlich und so wahr, daß ich mein Lager verließ, um mir den Tag anzumerken. Seitdem treibt es mich täglich hier herauf, um gegen Osten auszuschauen, ob der Traum in Erfüllung geht. In Bethanien aber verweile ich stets für kurze Zeit, um das Grab des Lazarus zu besuchen; warum, das weiß ich nicht; aber es ist mir, als ob ich mit dem Boten meines Bruders gerade dort zusammentreffen werde. Was sagst du zu diesem Traum, Effendi?«
»Er ist sonderbar«, erwiderte ich. »Doch dein eigenes Gefühl leitet dich da richtiger als jede noch so klug erscheinende Auskunft, die ein anderer dir geben kann.«
»So meinst du, daß Ich meine täglichen Spaziergänge nach dieser Stelle hier herauf fortsetzen soll?«
»Werden sie dir durch irgend jemand oder durch irgend etwas verboten?«
»So ist auch kein Grund vorhanden, sie zu unterlassen.«
»Ich danke dir! Erst wurde es mir schwer, zu euch von dieser Angelegenheit zu sprechen; nun ich es aber getan habe, fühle ich, daß mir das Herz davon leicht geworden ist. Doch kommt! Es beginnt bereits zu dämmern. Wir müssen gehen, sonst überrascht uns die Dunkelheit noch unterwegs.«
Er hatte recht; der Abend senkte sich hernieder, und so beeilten wir uns heimzukommen.
Unterwegs teilte er uns mit, daß er inzwischen geschäftlich für uns besorgt gewesen sei. Er wisse in El Chalil Hebron einen köstlichen Paschasattel, der aus Arabien stamme und verkauft werden solle. Er werde einen Boten senden, ihn holen zu lassen, und ihn mir dann zeigen.
»Ich muß ja selbst nach El Chalil«, fiel ich da ein. »Ich will meiner Frau das Grab Abrahams und den berühmten Hain Mamre zeigen, wo die drei Engel dem Patriarchen erschienen sind.«
Da rief er fröhlich aus:
»So begleite ich euch, wenn ihr es erlaubt! Ich habe dort so viel Wichtiges zu erledigen, daß ich, nun der Gedanke einmal da ist, am liebsten gleich morgen reisen möchte.«
»Das können wir! Uns ist jede Zeit recht, die dir paßt!«
»Wirklich? Auch morgen schon?«
»Ja.«
»Und darf ich Thar mitnehmen, meinen Sohn, für den es die größte aller Wonnen sein wird, mit euch und mir in einem schönen Wagen zu sitzen und in die unbekannte Welt hinauszufahren? Er ist nach dieser Richtung hin nicht weiter als nur bis Bethlehem gekommen.«
»Wir freuen uns, daß du ihn mitnimmst.«
»Gut, es sei beschlossen, wir fahren; den Wagen besorge ich. Und da euch euer Weg jetzt an meinem Haus vorüberführt, so ersuche ich euch, für einige Augenblicke bei mir einzukehren. Ihr sollt die Freude sehen, die ihr dem Knaben durch eure Erlaubnis bereitet.«
Es wurde dunkel, ehe wir ans Ziel gelangten. Mustafa Bustani klopfte an das von innen verriegelte Tor. Schlürfende Schritte nahten; die schwarze Köchin kam uns zu öffnen. Sie hatte eine orientalische Windlaterne in der Hand, bei deren Schein wir sahen, daß sie ihre ganze Gestalt in ein ursprünglich weißes Laken gehüllt hatte, das jetzt aber so voll blauer, grüner, roter und gelber Wischflecke war, daß man den ursprünglichen Untergrund fast gar nicht mehr erkennen konnte.
»Maschallah! Wie siehst du aus?« rief der Hausherr, als er das sah.
»Das ist die Kunst!« entgegnete sie stolz, und ein höchst befriedigtes Grinsen verbreiterte ihr Gesicht fast um das Doppelte.
»Die Kunst? Wieso?«
»Wir malen das Rote Meer. Gleich nach dem Mittagessen haben wir angefangen und sind noch nicht fertig.«
»Du – – – du malst mit?« fragte er, indem gewisse, nicht ganz frohe Ahnungen in ihm wach wurden.
»Ja, ich!« versicherte sie im Ton sehr hochgestiegener Selbstzufriedenheit. »Der ›Auserwählte‹ malt nur das Wasser, die Luft und die Sonne; ich aber male das grüne Land; das bringt er nicht fertig.«
»Das grüne Land? Worauf malt er denn? Hoffentlich doch nur auf Papier?«
»Auf Papier: o nein! Das wäre doch viel zu klein. Wir malen auf die Wand.«
»Auf die Wand? Wo denn?«
»Im Gartenhaus!«
»Allah, Allah! Im Gartenhaus! An die Wand! Das ist ja fürchterlich. Was werde ich da erblicken! Ich muß gleich hin, sofort!«
Er eilte vom Tor weg, unter dem er bisher gestanden hatte. Daher bemerkte uns die Köchin erst jetzt. Sie leuchtete uns an und erkannte mich.
»Der Effendi!« rief sie aus. »Schon heute! Der ›Auserwählte‹ sagte doch, daß du erst morgen kommen werdest. Eile und folge mir! Du darfst es sehen; das hat der ›Auserwählte‹ gesagt. Aber dem Herrn ist es noch verboten. Wir müssen ihm schnell nach. Er darf nicht hinein.«
Sie trabte mit ihrer Laterne von dannen. Wir folgten langsamer. Es war nicht weit, kaum zwanzig Schritte. Das Wohnhaus lag in der Mitte des Gartens, das Gartenhaus aber an der Gartenmauer. Mustafa Bustani war nicht mehr einzuholen. Er hätte sich auch nicht abhalten lassen, die Stätte, in der die »Kunst« jetzt weilte, zu betreten. Ich kannte sie. Oft war ich in dem Häuschen gewesen. Es bildete ein Geviert, die Türseite nach dem Garten, die anderen drei Seiten ohne Fenster, also mit keinem Blick in die Außenwelt, elfenbeingelblichweiß gestrichen und mit goldenen Koransprüchen verziert. In dieser Abgeschlossenheit, Sauberkeit und künstlerischen Bescheidenheit hatte es stets einen wohltuenden Eindruck auf mich gemacht. Und jetzt?
Jetzt war die Tür weit aufgerissen. Vor ihr stand Mustafa Bustani. Er war noch nicht eingetreten, weil sein Sohn sich dagegen sträubte. Von der Decke hing eine Ampel, deren Lampe mit heller Flamme brannte. Im Innern sah man den Künstler, dessen Gestalt und Hemd nicht mehr wie am Vormittag in zwei, sondern in vier Farben getaucht erschien, nämlich in azurnes Blau, in giftiges Grün, in leuchtendes Gelb und in glühendes Rot. So schreiende Farben regen auf, zumal wenn man künstlerisch zartbesaitet ist. Was Wunder, daß da der Junge nicht gerade bei guter Laune war. Noch ehe wir das Gartenhaus erreicht hatten, hörten wir seine zornige Stimme, mit der er dem Vater zurief:
»Nein! Du hast es mir versprochen! Du darfst nicht herein! Ich bin auch noch nicht fertig! Der Effendi ist der erste, der es sehen darf, nicht du!«
»Aber er ist ja da, der Effendi!« antwortete Mustafa Bustani.
»Wo?«
»Hier!« meldete ich mich und schob den Vater zur Seite, um mich dem Sohn zu zeigen.
»Schon heute?« wunderte sich dieser. »Du wolltest doch erst morgen kommen! Aber es ist trotzdem schön, daß du schon jetzt da bist. Tretet also ein, ihr beiden und – –«
»Nun, und ich?« unterbrach ihn sein Vater.
»Ich will so gütig sein und auch dir es erlauben, weil die beiden Hauptpersonen doch zugegen sind. Das tu ich aber nur, weil auch du zuweilen nachsichtig mit mir bist.«
»Leider! Allah weiß, daß ich das bin!«
So schickten wir uns denn an, das Kunstwerk zu genießen, und ich muß der Wahrheit gemäß feststellen, daß mir weder vorher noch nachher wieder so etwas so hoch in der Tiefe Aufgefaßtes und so tief in der Höhe Ausgeführtes vor die Augen gekommen ist. Wir standen vor einer so erstaunlichen und in ihrer Wirkung so beispiellosen Leistung, daß ich wenigstens einige Erklärungen geben muß. Denn eine Beschreibung ist, genauso wie bei einem Raffael Santi oder einem Rembrandt van Rijn, unmöglich.
Das Gartenhaus konnte also nur nach dem Garten hin geöffnet werden, dem morgenländischen Gebrauch entsprechend, sich von der Außenwelt abzuschließen. Trat man durch die geöffnete Tür, so stand man vor drei geschlossenen Wänden, vor sich eine und je rechts und links eine. Diese Wände waren früher, wie bereits erwähnt, weißgelb gewesen, mit goldenen Koransprüchen verziert. Das gab es jetzt nicht mehr. Denn die Wände waren mit grüner, blauer und roter Farbe angestrichen. Und hoch oben an der Decke, da, wo die Ampelschnur befestigt war, saß ein großer, gelber Fleck, der erst wahrscheinlich rund gewesen, dieser Form aber nicht treu geblieben, sondern mit dem Blau zusammengelaufen war. Außerdem konnte man mit einiger Einbildungskraft zur rechten und zur linken Seite zwei Häuser in den grünen Flächen erkennen.
»Da steht ihr nun alle und staunt!« sagte Thar und ließ seinen Blick in überlegener Weise über uns gleiten. »Wißt ihr, was das bedeutet? Weißt du, Effendi, was es ist?«
Da er sich gerade an mich wendete, sah ich mich gezwungen, der Sache auf die verwischte Spur zu kommen. Ich war aber so diplomatisch, keinen Gegenstand zu nennen, den das Bild hätte vorstellen können, denn ich wollte mir die Hochachtung des Künstlers auf alle Fälle erhalten. Darum antwortete ich nur so im allgemeinen, aber möglichst kunstbegeistert:
»Es ist das reine blaugrünrotgelbe Wunder!«
»Richtig!« stimmte er mir bei. »Du sagst nie etwas falsch! Es hat uns auch Mühe und Farbe genug gekostet. Schau nur her!«
Er deutete auf den Boden nieder, wo halb- und ganz leere Farbentöpfe standen und Pinsel bis zur äußersten Größe lagen, die Abreibe-, Wisch- und Scheuerlappen gar nicht gerechnet.
»Das haben wir vom Tüncher geholt«, fuhr er fort. »Und weil die Zeit zu kurz war und ich nicht allein fertig werden konnte, hat mir die Köchin helfen müssen. Sie hat aber nur das Land gemalt; das ist leicht. Das übrige mußte ich selber machen; dazu hat sie keine Begabung!«
Sein Vater fragte mit mühsam beherrschter Stimme: »Wer hat dir denn erlaubt, diese Wände und die köstlichen Sprüche zu übermalen?«
»Doch du! Ich fragte dich, ob ich im Gartenhaus zwei Bilder malen dürfe, und du hast es mir erlaubt.«
»Habe ich da etwa annehmen können, daß du sie an die Wände malst, anstatt auf Papier? Wir sprechen noch hierüber, mein Sohn.« Er machte die Gebärde, als habe er einen Stock in der Hand, und fügte hinzu: »Übrigens sehe ich nur ein Bild, nicht zwei.«
»Ich habe mich anders besonnen. Es gibt noch mehr als zwei. Das hier ist das erste. Die anderen kommen nach. Der Effendi will doch sehen, was ich kann, und da muß ich ihm soviel wie möglich zeigen.«
»Noch mehr Bilder? Derartige Bilder? Bist du toll? Welche denn?«
»Morgen malen wir im Harem.«
»Was?«
»Die Posaunen von Jericho und wie die Mauern einstürzen.«
»Allah erbarme sich? Und übermorgen?«
»Übermorgen malen wir im Schlafzimmer!«
»Aber was?«
»Den Untergang von Sodom und Gomorra, mit lauter Rauch und Feuer, Blitz und Donner. Die Farben sind schon bestellt.«
»Schon bestellt! Auch das noch! Im Schlafzimmer Blitz und Donner, Rauch und Feuer! Für deine Kunst scheint es nichts Unmögliches zu geben. Ich sehe ein, daß ich ihr Grenzen ziehen muß. Was stellt denn dies hier vor? Da ist keine Spur von Gedanken drin.«
Er hatte bei dem Worte »Grenzen« eine Bewegung gemacht, als ob er ihn wieder, wie heute am Vormittag, über das Knie nehmen wolle. Trotz dieser Drohung mußte der Knabe lachen, als er jetzt entgegnete:
»Keine Gedanken? Da steckt das ganze Volk Israel und der König Pharao mit allen seinen Ägyptern drin!«
»Wieso?« erkundigte sich der Vater. »Man kann doch nichts von ihnen sehen!«
»Weil sie eben im Wasser sind! Dieses Bild ist der Durchgang der Kinder Israels durch das Rote Meer. Erkennst du denn nicht das Rote Meer, da gerade vor dir? Und darüber ist die blaue Luft und ganz oben, geradeüber dem Kopf, die gelbe Sonne, denn es ist genau Mittagszeit. Hier links, das grüne Land, das ist Ägypten, und das Haus, das ist der Palast des Pharao. Und hier rechts, das grüne Land, das ist Palästina, und in dem Haus, das darinsteht, wohnt der König der Jebusiter. Dazwischen liegt das Rote Meer. Die Kinder Israels waren Sklaven in Ägypten. Moses hat ihnen losgeholfen. Er floh mit ihnen in das Rote Meer. Jetzt eben stecken sie alle drin. Pharao eilte ihnen nach mit seinem ganzen Heer. Schau her! Soeben ist der letzte von ihnen verschwunden. Man sieht nur noch seine Ferse, die noch nicht im Wasser ist. Und drüben, auf der anderen Seite, da kommen die Kinder Israels soeben wieder aus dem Wasser heraus. Man sieht schon die Fußzehen des ersten von ihnen, die außerhalb des Wassers sind. Sind das etwa keine Gedanken?«
Er stellte sich breit vor seinen Vater hin und sah ihm überlegen in das Gesicht. Und da erklang hinter uns die vorwurfsvolle Stimme der Negerköchin, die mit ihrer Wandlaterne noch an der Tür stand und alles gehört hatte: »Und das ganze, grüne Ägypten und das ganze, grüne Palästina, das stammt von mir. Morgen male ich Jericho.«
Da konnte sich der gute Mustafa Bustani nicht länger beherrschen. Sein Zorn brach los.
»Was du morgen malst, das wird sich finden«, donnerte er sie an: »Marsch! Fort mit dir! Ins Haus!«
Ihr fuhr der Schreck in die Glieder. Sie ließ die Laterne fallen, daß sie verlöschte, und rannte davon, so schnell ihre Füße sie trugen. Aber diese Wirkung seines Grimms gab dem Händler sofort seine Selbstbeherrschung zurück, und er entschuldigte sich bei uns:
»Verzeiht! Der Zorn tut nie das Richtige. Erlaubt, daß ich euch begleite!«
Wir verstanden und begriffen ihn sehr wohl. Er führte uns bis ans Tor, durch das wir gekommen waren. Es stand noch offen. Dort sagte er:
»Es bleibt bei unserer Fahrt, morgen früh. Ich hole euch ab, um sieben Uhr nach europäischer Zeit. Ob ich den Knaben mitnehme, weiß ich noch nicht,«
»Wirst du ihn strafen?« erkundigte sich meine Frau, die den Jungen auch liebgewonnen hatte.
»Wer hier, in diesem Fall, die Strafe verdient, darüber werde ich nachdenken«, antwortete er in ungewöhnlich ernstem Ton: »Es ist, als ob mir mit euch ein Licht gekommen sei. Mir scheint, ich habe seit heute vormittag andere Augen und Ohren. Wie kam es, daß ihr, ohne allen sichtbaren Grund, denselben Weg nach der Höhe des Ölbergs gegangen seid, den ich täglich einzuschlagen pflege? Und genau zur selben Zeit?«
»Zufall!« warf ich leicht hin.
»Das sagst du, ohne es selbst zu glauben! Ich weiß recht gut, daß du das Wort Zufall für eine Verlegenheitserfindung hältst. Doch das ist für jetzt nebensächlich. Hauptsache für heute abend ist mein Sohn, Ich habe nachzudenken. Ich habe allein zu sein. Und – – euch beiden kann ich das sagen, ohne mich schämen zu müssen – – ich habe zu beten! Mir ist der Gedanke gekommen, daß ich mich mit der Seele meines Kindes auf falschem Wege befinde. Nur Allah allein kennt die verborgenen Tiefen unseres Innern, Er wird mir zeigen, was recht ist und was falsch. Ich bitte, sorgt euch nicht um den Knaben! Er erhält keine Strafe, die er nicht verdient. Gute Nacht!«
»Gute Nacht!« sagten auch wir, reichten ihm die Hände und gingen, gespannt darauf, wie sich die Angelegenheit morgen entwickeln werde.
Nach Hebron!
Welche Erinnerungen knüpfen sich an den Namen dieser alten berühmten Königs- und Levitenstadt! Man sagt, sie sei die älteste der Städte des Gelobten Landes. Laut 4. Mose 13, 23 bestand sie schon dreitausend Jahre vor Christi Geburt. Zufolge der Überlieferung des Mittelalters lag in ihrer Nähe die Stelle, wo Gott den Adam schuf. Sie hieß früher Kiriath Arba, wo sagenhafte Riesen wohnten, und war später die Hauptstadt der Hethiter, deren Fürsten da herrschten. Nach der Eroberung von Kanaan durch die Kinder Israels fiel sie der Familie Kaleb zu. Später verlebte König David hier die ersten sieben Jahre seiner Regierungszeit. An ihren Toren wurde Abner von Joab ermordet, und die Männer, die Isboseth, den Sohn Sauls, getötet hatten, wurden auf Davids Befehl hier aufgehängt. Von Hebron ging die Auflehnung Absaloms gegen seinen Vater aus. Die Stadt fiel während der babylonischen Gefangenschaft den Edomitern in die Hände, die aber von Judas Makkabäus wieder vertrieben wurden. Die Römer zerstörten sie und verkauften ihre Bewohner in die Sklaverei. Die Kreuzfahrer machten Hebron zur Bischofstadt, die auch den Mohammedanern immer heilig gewesen ist, weil sie der Wohnsitz der Patriarchen war. Schon Abraham wohnte da, und Jakobs Zug nach Ägypten begann von Hebron aus. Die Moslemin nennen Abraham Chalïl er Ramân, Freund des Barmherzigen, wovon Hebron seinen jetzigen arabischen Namen El Chalïl bekommen hat.
Hebron ist also in hohem Grade ehrwürdig, leider aber nicht freundlich gegen Fremde, zumal gegen Christen. Die Bevölkerung ist die unduldsamste des ganzen Landes, ungefähr neuntausend Mohammedaner und fünfhundert Juden, die sich zwar nicht scheuen, vom Christen recht viel Geld zu verdienen, ihn aber sonst als einen minderwertigen, wohl gar unreinen Feind betrachten, durch dessen Berührung man sich beschmutzt, Ein durch die Gassen Hebrons gehender Christ tut wohl daran, wenn er sich bemüht, die Augen der »wahren Gläubigen« so wenig wie möglich auf sich zu ziehen, sonst kann es leicht kommen, daß wenigstens die Jugend hinter ihm herläuft, um ihn nicht nur mit Schimpfworten, sondern auch mit noch handgreiflicheren Dingen zu bewerfen. Dieses feindselige Verhältnis spricht sich wohl am deutlichsten durch den Umstand aus, daß es in Hebron kein Gasthaus zur Aufnahme von Christen gibt, obgleich die Stadt durch eine recht gut befahrbare Straße mit Jerusalem verbunden ist. Es müßte denn jetzt anders sein; ich bin im Jahr 1900 zum letztenmal dort gewesen.
Wenn die Stadt mit dem freundlichen Namen und der unfreundlichen Bevölkerung trotzdem von Europäern besucht wird, so hat sie das nur der christlichen Verehrung der Erzväter, besonders Abrahams zu verdanken. Als Sara starb, kaufte Abraham die Doppelhöhle Machpela von Ephron, dem Hethiter, und verwandelte sie in eine Begräbnisstelle. Man sagt, daß dort alle sechs begraben liegen, nämlich Abraham, Isaak und Jakob, Sara, Rebekka und Lea. Die von der heiligen Helena – andere sagen: vom Kaiser Justinian – über dieser Stelle gegründete Kirche wurde von den Moslemin in eine Moschee verwandelt, die von Christen leider nicht besucht werden darf. Sie können sich höchstens das Heiligtum von außen betrachten. Um eintreten zu dürfen, muß man eine hohe, fürstliche Person sein oder einen besonderen Ferman des Großherrn besitzen. In der Nähe, auf Dêr el Arba'in, findet sich das Grab von Isai, König Davids Vater. Eine halbe Stunde von der Stadt steht die Eiche Abrahams, und man behauptet, daß dies die Stätte sei, wo einst der Hain Mamre gelegen habe. Fast jede besondere Stelle der Umgegend ist mit dem Gedächtnis des Patriarchen verknüpft.
Am nächsten Morgen, genau sieben Uhr, hielt ein wohlbespannter, bequemer, viersitziger Kutschwagen vor unserer Wohnung. Mustafa Bustani und Thar saßen darin.
»Also doch!« sagte meine Frau, als sie das sah. »Der Junge darf mit!«
Auch ich freute mich darüber. Der Knabe sprang aus dem Wagen und kam, uns abzuholen. Er war festlich gekleidet. Gelbe Schuhe, weiße Strümpfe, eine weiße Hose, darüber ein weißes Beduinenhemd und eine rote Weste mit gelben Husarenschnüren. Auf dem Kopf ein roter Fes, um den ein weißseidenes Nackentuch gebunden war.
»Wir sind da«, begrüßte er uns. »Der Vater läßt bitten, zu kommen.«
Das klang kräftig und wie eine Meldung. Leiser aber und in vertraulichem Ton fügte er die Frage hinzu: »Habt auch ihr gestern abend gedacht, daß ich Schläge bekommen werde?«
»Nein«, antwortete ich.
»Nicht? Ich habe es sehr gedacht, sehr! Und ich wollte, er hätte mich geschlagen.« Er sann einen Augenblick nach und wiederholte dann: »Ja, ich wollte es! Wenn die Strafe vorüber ist, dann ist er nicht mehr zornig und nicht mehr traurig, und es tut auch mir nicht mehr weh. Wenn ich sie aber noch zu erwarten habe, wie wahrscheinlich jetzt, so hat er immer so traurige Augen, und das verursacht mir doppelten Schmerz.«
»Wieso doppelten?«
»Nun, erstens über diese seine Augen und zweitens über die Hiebe, die noch kommen werden. Die fühle ich unaufhörlich voraus, aber ganz unnützerweise, denn gewöhnlich stellen sie sich dann nicht ein. So wird es auch heute sein. Trotzdem aber tun sie mir schon seit gestern abend weh. Er hat nämlich kein Wort gesagt, kein einziges. Und heute früh hat er mich selbst geweckt und auch selbst angekleidet, und als er so still dabei war, da konnte ich es nicht länger aushalten, sondern ich bin ihm um den Hals gefallen, um ihn zu küssen, und habe ihn gebeten, mich zu schlagen. Da hat er leise gelächelt und nur den Kopf geschüttelt. Ich halte das für falsch. Oder meint ihr, daß es richtig ist?«
»Was der Vater tut, ist stets richtig. Das mußt du dir merken!« belehrte ich ihn.
»Auch dann, wenn ich es für falsch halte?«
»Auch dann! Denn wenn du so alt sein wirst, wie er jetzt ist, wird dir die Erfahrung gekommen sein, daß er recht gehabt hat. Doch jetzt wollen wir aufbrechen. Er ist so pünktlich gewesen; so dürfen wir ihn nicht warten lassen.«
»Nur noch einen Augenblick!« bat er. »Ich habe euch noch zu sagen, daß heute Freitag ist, also Feiertag. Da ist es mir verboten, mich schmutzig zu machen. Deshalb habe ich keine Farben mit. Aber ein Held bin ich trotzdem. Es ist nämlich nicht allemal notwendig, daß man sich anmalt, wenn man seine Feinde besiegen will. Es gibt auch Fälle, in denen – –«
»– – der Sieg ein wirklicher, kein angemalter ist«, fiel meine Frau lachend ein. »Du meintest aber doch gestern, daß du heute die Erstürmung von Jericho malen wollest. Hast du da nicht an den heutigen Freitag gedacht?«
»Nein. Aber es wird überhaupt aus Jericho nichts.«
»Warum?«
»Es fehlt mir der nötige Lärm dazu. Die Posaunen kann man malen, die Mauern auch; aber woher soll man den Lärm nehmen, wenn man keinen machen darf? Es ist wirklich jammerschade. So, nun bin ich fertig. Wir können geben.«
Wir brachen also auf und gingen zum Wagen. Eben, als wir einstiegen, ritt Osman Achyr, der Ferik-Pascha, auf seinem dicken Esel vorüber, um einen Morgenausflug zu unternehmen. Als er uns sah, zügelte er sein Tier für einen Augenblick, grüßte freundlich nickend und fragte den Knaben: »Was für ein Held bist du denn heute?«
Der erwiderte in gewohnter Geistesgegenwart sofort: »Ich bin Josua, der Eroberer.«
»Wohin willst du?«
»Ins Land der Kananiter, um ihnen zu zeigen, daß wir uns nicht vor ihnen fürchten.«
»Wo liegt dieses Land?«
»In Chalïl.«
»So nimm dich wohl in acht, mein Junge! Die Leute dort hauen zu, ohne erst um Erlaubnis zu fragen.«
Hierauf ritt er weiter. Mustafa Bustani versicherte uns, daß er für alles, was unterwegs nötig sei, gesorgt habe. Thar schwang sich neben den Kutscher auf den Bock, wo er sich jedenfalls freier fühlte als bei uns im Wagen. Dann zogen die Pferde an.
Der Weg führt vom Jaffator ziemlich steil in das Hinnontal hinab, am Birket es Sultan Sultansteich vorüber und drüben wieder hinauf, zur Hochebene El Buckei'a, an deren Ende das Kloster Mar Eljâs liegt, von dem aus sich eine weite Fernsicht bietet. Man bringt den Namen dieses Klosters mit dem Propheten Elias in Verbindung und behauptet, daß aus dem Brunnen, der in der Nähe liegt, die heilige Familie getrunken habe. Jenseits des Klosters kommt man an das Kubbet Rachil Grabmal der Rahel, wo Rahel, die Frau des Patriarchen Jakob, begraben wurde. Von diesem Ort steht 1. Mos. 35, 19-20 geschrieben: »Also starb Rahel und ward begraben am Weg gen Ephrat, das nun Bethlehem ist. Und Jakob richtete ein Denkmal auf über ihrem Grab; das ist das Grabmal der Rahel bis auf diesen Tag.«
Hier teilt sich der Weg. Links führt er nach Bethlehem und geradeaus nach Hebron. Wir behielten die bisherige Richtung bei und kamen nach drei Viertelstunden zu den drei »Salomonischen Teichen«, die in weit vorchristlicher Zeit angelegt wurden, um Jerusalem mit Wasser zu versorgen. So seltsam diese Teiche und das in ihrer Nähe liegende Kastell in geschichtlicher und baulicher Hinsicht sind, auf unsere Erzählung haben sie keinen Einfluß, und so fahren wir für jetzt an ihnen vorüber. Wichtiger ist mir das breite Wadi el' Arrûb, wo auf halbem Weg zwischen Jerusalem und Hebron ein »Kaffee« errichtet ist, damit Menschen und Tiere einen Platz finden, sich auszuruhen. Man hat sich da nicht ein europäisches Kaffeehaus vorzustellen, sondern ein enges, niedriges, steinernes Mauerwerk, in dem ein schmutziger Kerl in einem schmutzigen Topf aus schmutzigem Wasser eine schmutzige Brühe kocht, die er Kaffee nennt und an vorübergehende Europäer zu sündhaften Preisen verkauft. Aber die Sünde besteht nicht etwa darin, daß er diese Preise fordert – o nein, dazu ist er zu pfiffig. Es könnte ihm dann infolge von Beschwerden die Erlaubnis, Kaffee zu schenken, entzogen werden. Er fängt das klüger an. Von Einheimischen fordert er den denkbar niedrigsten Preis; zu Fremden aber sagt er stets: »Ich nehme, was du mir gibst!« Hiervon ist er durch keine Bitte und durch keinen Vorhalt abzubringen, und da der hier vorüberkommende Europäer fast stets wohlhabend und dabei noch nebenbei in gehobener Stimmung ist und der Kaffeewirt einen hilfsbedürftigen Eindruck macht, so werden ihm Preise bezahlt, die nicht mehr Preise, sondern Erpressungen sind. Es kam vor, daß er für ein kleines, orientalisches Täßchen Kaffee, das einen Inhalt von zwei bis drei Fingerhüten hat, die Hand so lange hinhielt, bis er nach deutschem Geld eine Mark und noch mehr bekam, wo fünf Pfennige vollständig genügt hätten. Auch ich war immer freigebig gegen ihn gewesen, hatte aber, als ich das letztemal bei ihm war, gesehen, daß er, als ich dann weiterritt, hinter mir herlachte, und das sollte er mir heute büßen.
Wir hielten, als wir das »Kaffee« erreichten, bei ihm an und stiegen aus. Er kam herausgeeilt und fragte nach unseren »Befehlen«, indem er sich demütig verneigte. Mustafa Bustani »befahl« fünf Tassen Kaffee, dann nochmals fünf und hierauf sogar zum drittenmal fünf. Also fünfzehn Tassen! Das zog. Der Mann zerfloß in Unterwürfigkeit; aber er wußte, daß Mustafa Bustani, der geschäftlich oft nach Hebron reiste und hier einkehrte, kein Fremder war. Den konnte er also nicht als Europäer behandeln. Als wir uns jedoch anschickten wieder einzusteigen, zog ich den Beutel. Da strahlte sein ganzes Gesicht. Ich fragte, was die fünfzehn Tassen kosteten.
»Gib, was du willst!« sagte er.
»Ich gebe nur, was du verlangst!« erklärte ich.
Das half mir aber nichts. Er stellte durchaus keinen Preis. Und als ich ihm drohte, gar nichts zu zahlen, wenn er nichts verlange, antwortete er einfach: »So schenke ich es dir!« Dies war der Kniff, der ihm stets gelang. Er nahm an, daß kein Europäer sich von ihm etwas »schenken« lassen werde. Da tat ich, als sei ich überwunden, und gab ihm einen Franken. Der Frank ist nämlich in Palästina die beliebteste Silbermünze. Er sah ihn an, hielt ihn mir wieder hin und sagte: »Den schenk ich dir!« Ich nahm das Geld zurück, gab ihm dafür erst zwei Frank, dann drei Frank. Er gab mir auch dies beides mit den Worten wieder: »Dies schenk ich dir!« Ich kannte den Mann und wußte, wie weit ich gehen durfte. Seine Geldgier wuchs mit der Höhe der Gabe. Ich gab ihm vier und dann sogar fünf Franken. Bei der letzteren Summe schloß er allerdings die Hand und machte eine Bewegung, als ob er das Geld einstecken wolle. Dabei sah er mich forschend an. Ich machte mein gutmütigstes Gesicht und hob die Hand, als ob ich noch weiter in den Beutel greifen wolle. Das war zuviel für ihn; er konnte nicht widerstehen. Er hielt mir auch die fünf Franken wieder hin und sagte in einem Ton, als ob dies für ihn gar nichts sei: »Ich schenke dir auch das!«
Nun nahm ich es zurück, tat es in den Beutel, aber recht hübsch langsam, um ihn nicht um den kleinsten Teil des Genusses zu bringen, steckte den Beutel ein und erklärte:
»So weiche ich deiner Güte und nehme dein Geschenk an. Ich danke dir! Leb wohl! Allah segne dich und dein großmütiges Haus für alle ferneren Gäste!«
Hierauf stiegen wir ein, doch ohne uns zu beeilen, denn sein Gesicht war des größten Zögerns wert. Er hielt die Arme weit ausgestreckt, als ob er uns festhalten wolle. Der Mund stand ihm offen. Und auf dem Gesicht lag der Ausdruck einer Bestürzung, die fast an Entsetzen grenzte. Er war sprachlos, brachte keinen Laut hervor. Die Pferde zogen an und fielen, um die verlorene Zeit einzubringen, sogleich in Trab. Als wir an der nächsten Biegung des Wegs zurückschauten, stand der Mann noch immer starr auf demselben Fleck. Ein allgemeines, herzliches Lachen, in das sogar der arabische Kutscher einstimmte, war die Folge.
Der weitere Weg bietet viel geschichtlich Wichtiges aus dem Alten und Neuen Testament. In Aïn ed Dirwe gibt es eine schön mit Quadern gefaßte Quelle, wo nach Apostelgeschichte 8 der Apostel Philippus den Schatzkämmerer der Königin Candace von Äthiopien taufte. Später fährt man an den Ruinen von Beth Zur vorüber, das Josua 15,58 und Nehemia 3,16 erwähnt wird und zur Zeit der Makkabäer von Bedeutung war. Nach etwa einer halben Stunde liegt links von der Straße, vielleicht 400 Schritte von ihr entfernt, ein großes Mauerwerk, Haram Ramel el Chalïl Heiligtum Abrahams genannt, wo sich eine Zisterne, der sogenannte »Brunnen Abrahams«, befindet. Mit diesem Platz haben wir uns noch eingehend zu beschäftigen.
Schon längst, ehe man an dieser Stelle vorüberkommt, kündigt sich die Nähe der Stadt durch Weinberge und Gärten an, deren Früchte bereits im Altertum einen guten Ruf besaßen. So sagt man z. B., daß die Riesentraube, die die Kundschafter dem Moses brachten, bei Hebron am Bach Eskol geschnitten worden sei. Zu fahren hat man von hier aus nach der Stadt nicht ganz eine halbe Stunde. Früher war ich in El Chal'ïl bei dem ehrwürdigen und überaus gefälligen Juden Eppstein eingekehrt. Er stammte von Deutschen ab, war der deutschen Sprache mächtig und nahm sich jedes Deutschen an, soviel es seinen, bei dem hiesigen Christenhaß allerdings nur schwachen Kräften möglich war. Heute konnte ich das nicht, und zwar um Mustafa Bustanis willen, mit dem wir kamen. Er hätte sich durch die Einkehr bei einem Juden für immer um seinen guten Ruf gebracht. So fuhren wir denn zu einem Geschäftsfreund, der Platz genug besaß, Pferde und Wagen unterzubringen. Ob aber auch uns, nämlich meine Frau und mich? Glücklicherweise war der Mann einer der wenigen Duldsamen, die es hier in Hebron gab. Wir wurden nach einigem Zögern aufgenommen, aber von Mustafa und seinem Sohn getrennt und in einem kleinen viereckigen Raum untergebracht, der keine Fenster hatte. Um Licht zu haben, mußte man die Tür offenlassen, die nach einem stinkend schmutzigen Hof führte. Als einziges Möbel gab es eine Strohmatte, auf die man sich setzen konnte, wenn man so kühn war, dies zu wagen. Als wir hier eine halbe Stunde zugebracht hatten, brachte man uns einen alten Krug voll abgestandenen Wassers, das nicht zu trinken war. Auf unsere Fragen konnten wir weiter nichts erfahren, als daß dieses Wasser alles sei, was man uns bieten könne, denn wir seien ja Christen und keine Moslemin. Aus diesem Krug werde nun niemand mehr trinken, weil er von uns verunreinigt worden sei. Das war die Gastfreundschaft eines »duldsamen« Moslems. Wie mochte es um diejenige eines unduldsamen beschaffen sein?! Ich ließ Mustafa Bustani zu mir bitten. Er kam und brachte Thar mit. Er entschuldigte sich. Man hatte ihm mitgeteilt, daß man uns ganz standesgemäß untergebracht und für uns gesorgt habe. Wir teilten ihm mit, daß wir nun doch zum Juden Eppstein gehen würden, und Thar war sofort entschlossen, uns zu begleiten. Sein Vater hatte nichts dagegen. Er konnte sich uns nicht so, wie er wünschte, widmen. Nun er einmal da war, hatte sich die Notwendigkeit geschäftlicher Besprechungen und Besuche herausgestellt, die ihn ganz in Anspruch nahmen und bei denen der lebhafte Knabe nur stören konnte. Er war uns also dankbar dafür, daß uns sein Sohn begleiten durfte. Zunächst aber schlug er vor, zu dem Araber zu gehen, der den Sattel zu verkaufen hatte. Die Reise sei dieses Sattels wegen unternommen worden, und darum verstehe es sich von selbst, daß diese Angelegenheit zuerst erledigt werde. Da fragte meine Frau:
»Ist es denn heute, am Freitag, erlaubt zu kaufen und zu verkaufen?«
»In diesem Fall ja«, erwiderte er. »Wir wohnen nicht hier, sondern wir sind Reisende und können nicht warten.«
»Aber wir sind doch auch in bezug auf die Gastlichkeit Reisende, die nicht warten können! Warum ist der Islam nachgiebig, wenn es sich um Geldverdienst handelt, aber rücksichtslos und hart, wenn es darauf ankommt, dem Nächsten Liebe und Güte zu erweisen?«
»Ich bitte, meinen Geschäftsfreund nicht mit dem Islam zu verwechseln«, bat Mustafa Bustani. »Für den Islam gehört die Gastfreundschaft zu den Tugenden, die keinem Menschen erlassen sind.«
»Auch gegen Andersgläubige?«
»Auch gegen Christen, Juden und Heiden.«
»Wie es nur kommen mag, daß die Bewohner von Hebron die vom Islam vorgeschriebenen Tugenden nicht üben und sich trotzdem oder vielmehr gerade darum für tadellose Bekenner des Propheten halten?«
»Diese Frage kann wohl niemand beantworten.«
»O doch!« fiel ich ein.
»Wer?« erkundigte er sich.
»Unser Thar hat sie beantwortet.«
»Wann?«
»Heute früh, als er mit dem Ferik-Pascha sprach.«
Der Junge hatte uns zugehört. Als er jetzt erfuhr, daß er eine Frage gelöst habe, von der sein Vater meinte, daß es niemand könne, fühlte er sich überaus wichtig und rief bestätigend aus:
»Ja, das ist richtig! Ich weiß immer mehr als andere Leute! Deshalb werde ich von unserer Köchin und von ihrem Mann stets nur der ›Auserwählte‹ genannt. Was habe ich denn gesagt, Effendi?«
»Du hast die Bewohner von Hebron als Kananiter bezeichnet, zwar nur bildlich, aber doch nicht ohne wirklichen Grund.«
»O ja! Gründe habe ich stets!«
»Sie sind nämlich nur äußerlich Moslemin, innerlich aber noch immer Kananiter. Die Feinheiten des Mosaismus und des Islam sind an ihnen vorübergegangen, und nur der Bodensatz blieb haften.«
»Das muß ich mir merken, Effendi, weil ich der erste bin, der es gesagt hat. Den Mosaismus, den vergesse ich nicht, und den Islam auch nicht. Aber von den Kananitern weiß ich nur wenig.«
»Man versteht unter ihnen die Hethiter, die Jebusiter, die Girgasiter, die Heviter, die Amoniter, die Siniter, die Arkiter, die Zemariter, die Arvaditer, die Hamathiter und die Bewohner von Sidon. Diese Namen aber wirst du wohl nicht lange behalten.«
»So hast du hier mein Merkbuch. Bitte, schreib sie mir ein!«
Er zog ein kleines Buch aus der Innentasche seiner Weste und gab es mir. Ich blickte hinein. Was da stand, machte mir Freude. Ich sah, daß er ziemlich richtig schrieb und sich bisher nur ernste Dinge aufgezeichnet hatte. Ich fügte die elf Namen hinzu und reichte es ihm zurück. Er begann sofort sie durchzulesen, um sie sich einzuprägen. Der Vater ging mittlerweile zum Wirt, seinen Dank für die uns erwiesene Gastfreundschaft abzustatten, und kehrte dann zurück, um mit uns den Besitzer des Sattels aufzusuchen. Der Händler holte ihn und zeigte ihn Er erklärte auch, daß er ihn verkaufen wolle, und nannte unaufgefordert den Preis, den ich wohl ansehnlich, aber nicht übertrieben fand. Der arabische Sattel war wirklich ein Prachtstück und das, was für ihn gefordert wurde, wert. Da beging Mustafa Bustani den Fehler zu sagen, daß nicht er, sondern ich der Käufer sei, und sofort erklärte der Araber, daß er mit mir nichts zu tun haben wolle; er halte es für eine Sünde, einen Sattel, auf dem ein mohammedanischer Pascha gesessen habe, an einen Christen zu verkaufen. Dabei blieb er, und wir mußten uns unverrichteterdinge entfernen.
Mustafa Bustani war über diese Behandlung in hohem Grad aufgebracht, doch sahen wir uns gezwungen, sie ruhig hinzunehmen. Er begleitete uns nach dem Begräbnisort Abrahams, hatte aber damit auch kein Glück, denn überall in den engen und schmutzigen Gassen, durch die wir kamen, sah man uns mit feindseligen Augen an, und an Ort und Stelle selbst wurde uns einfach bedeutet, sofort wieder umzukehren, wenn wir nicht Gefahr laufen wollten, vom Volk mißhandelt zu werden. Mustafa Bustani aber solle sich als Moslem schämen, an einem so großen Tag wie der heutige, christliche Personen an das Heiligtum zu führen. Mustafa Bustani fragte, was für einen großen Tag man denn meine, und jetzt erfuhren wir, daß heute der Geburtstag und zugleich der Verstoßungstag Ismaels sei, denn Hagar sei gerade am Geburtstag ihres Sohnes von Sara in die Wüste getrieben worden. Nun war uns das Verhalten des ungastlichen Geschäftsfreundes, des unduldsamen Sattelbesitzers und der starrsinnigen Moscheebeamten erklärlich. Die Erinnerung an die Verstoßung des angestammten Ahnherrn verdoppelte die überhaupt vorhandene Schärfe. Für Juden war es da angezeigt, sich heute ja nicht sehen zu lassen, und für mich desgleichen. Daß ich meine Frau mit hatte, konnte sehr leicht als Mißachtung aufgenommen werden und die Erbitterung nur vergrößern. Darum mußte ich Mustafa Bustani mein Wort geben, jetzt geradewegs zu Eppstein zu gehen, um bei ihm zu essen, die Straßen der Stadt zu vermeiden und nur auswärts liegende Punkte zu besuchen. Davon kamen für heute nur zwei in Betracht, nämlich die Eiche von Mamre und der Haram Ramet el Chalïl. Dieser liegt, wie bereits erwähnt, ungefähr vierhundert Schritte von der Straße nach Jerusalem, und so setzten wir eine geraume Zeit fest, in der Mustafa Hebron verlassen und dort an der Straße den Wagen halten lassen werde, um uns zur Heimfahrt aufzunehmen. Darauf trennten wir uns. Thar freute sich, daß er mit uns gehen durfte, und auch ich war nicht gleichgültig über diesen Beweis des Vertrauens, den sein Vater mir gab.
Der alte, brave Eppstein nahm uns gastlich auf. Er gab uns sein »bestes Zimmer«, das verhältnismäßig luftig auf dem platten Dach lag. In dem Tagebuch meiner Frau, die sich derartige Dinge gern aufschreibt, sind hierüber folgende Zeilen zu lesen: »Es war ein heißer Tag. Wir bekamen ein schönes kühles gewölbtes Zimmer, das zwei weitgeschweifte Bogen hatte, an drei Seiten Fensteröffnungen und an der vierten Seite die Tür. Der Raum war nach dortigen Verhältnissen vornehm zu nennen. Die Ausstattung bestand aus zwei Betten, einem auf drei alten Kisten aufgebauten Diwan und einem Tisch nebst vier Stühlen mit Holzsitzen, die aber mit weißen Kappen, die auch noch eine Falbel hatten, belegt waren. Ein schöner Wasserkrug, wie er schon zu Christi Zeiten in Gebrauch war, stand in einer Ecke. Die Wände waren blau getüncht. Auf einen Stuhl war ein Waschgeschirr aus Messing gesetzt. Über die Bilder, die an den Wänden hingen, schweige ich. Bewirtet wurden wir mit vorzüglichem Hebronwein, die ganze Flasche für einen Frank. Das Essen bezeugte, daß man sich große Mühe gegeben hatte, doch wäre diese einer besseren Sache wert gewesen.«
Leider wurden wir durch die Verhältnisse verhindert, nach den Speisen zu schicken, die Mustafa Bustani aus Jerusalem mitgenommen hatte. Sie waren im Wagen gut verpackt und kamen uns dann später, während der Heimfahrt, wohl zustatten.
Während des Essens berichtete uns Eppstein, daß heute großes, muselmännisches Kinderfest sei, zur Feier der Geburt des Knaben Ismael. Da ziehen die Kinder hinaus ins Freie, um allerlei friedliche und kriegerische Spiele zu unternehmen, begleitet von Erwachsenen, denen es ansteht, die Aufsicht zu führen. Dabei wird so viel von der Verstoßung und von anderen erlittenen Ungerechtigkeiten erzählt, daß es keinem Andersgläubigen zu raten ist, etwa den Zuschauer spielen zu wollen. Als Eppstein hörte, daß wir die Absicht hätten, nach der Eiche und nach dem Brunnen Abrahams zu reiten, gab er uns den Rat, uns sofort zu entfernen, falls ein solcher Kinderzug sich einem dieser Orte nahen sollte. Da rief Thar entrüstet aus. »Entfernen? Also fliehen? Das fällt uns gar nicht ein! Ich und der Effendi, wir fürchten uns nicht, und unsere Gattin fürchtet sich auch nicht, denn ich habe ihr ganz besonders gesagt, daß ich ein Held bin und daß sie sich in jeder Not auf mich verlassen kann!«
»Ein Held?« fragte Eppstein lächelnd, indem er ihn so ansah, wie vielleicht einst Goliath den David.
Damit kam er aber bei dem Jungen an den Unrechten. Der stand vom Tisch auf, trat auf ihn zu und antwortete:
»Du lächelst über mich? Das dulde ich nicht! Ich heiße Thar, und wehe dir, wenn ich eine Rache gegen dich habe!«
»Das würde wohl schlimm für mich?« scherzte der Jude.
»Du lächelst immer noch? Hüte dich! Ich zähle zwar erst elf Jahre, aber es gibt in ganz Jerusalem nicht einen einzigen Vierzehnjährigen, den ich nicht schon niedergerungen habe!«
»Woher hast du denn eigentlich diese Geschicklichkeit und Kraft?«
»Vom Klub der Löwen«, erwiderte der Bub.
»Was ist das? Und wie und wo?«
»In Jerusalem. Wir Knaben haben da vier Klubs, um uns zu üben. Den Klub der Löwen; der spielt vor dem Jaffator. Den Klub der Elefanten; der spielt vor dem Damaskustor. Den Klub der Nilpferde; der spielt vor dem Stephanstor. Und den Klub der Walfische; der spielt am Siloahteich. Ihr hört, daß dies lauter starke Tiere sind. Die Löwen siegen durch Schnelligkeit und Kraft des Sprunges. Die Elefanten treten einander nieder. Die Nilpferde rennen mit den Köpfen aneinander, wobei das stärkere stehenbleibt, das andere aber stürzt. Und die Walfische kämpfen nur im Ozean. Wer den anderen untergetaucht hat, nimmt den Mund voll Wasser und bläst es in die Luft. Das ist der Sieg! Ich bin bei allen vier Klubs, und noch niemand hat mich überwältigt. Wollen wir einmal Nilpferd machen?«
Er senkte den Kopf, um Eppstein anzurammen. Der aber trat schleunigst zur Seite und rief:
»Laß mich in Ruh! Ich bin keines von diesen Untieren! Ich wollte nur warnen, aber nicht meuchlings überfallen werden! Soll ich für den beabsichtigten Ritt einen zuverlässigen Eselsverleiher bestellen?«
»Ja«, stimmte ich zu, »Doch möglichst einen, der kein Christenfresser ist.«
»Da gibt es nur einen, und den werde ich kommen lassen. Es tut mir leid, daß gerade heute ein solcher Tag des Hasses ist und daß man der Dame nicht einmal gestattet hat, sich auch nur das Äußere der Moschee anzusehen.«
Er entfernte sich, um nach dem Eselstreiber zu senden. Der Hammahr Eseltreiber stellte sich in kurzem ein. Er sah mürrisch aus, war aber ein gutmütiger und gar nicht ungefälliger Mensch. Pferde hatte er überhaupt nicht, Esel waren nicht mehr zu haben; man hatte sie des Festes wegen schon Tage vorher bestellt. Aber es gab drei Maulesel, die er uns bringen konnte. Er war ehrlich genug, uns zu sagen, daß sie nicht zum Reiten, sondern nur zum Karrenziehen berufen seien, und daß besonders einer von ihnen sehr störrisch sei. Aber wir mußten froh sein, daß diese lieben Tiere gerade noch zu haben waren, schlossen mit dem Mann ab und forderten ihn auf, sie ohne Verzug zu holen.
Wenn der Orientale und zumal der Hammahr verspricht, ohne Verzug zu erscheinen, so meint er damit, daß er in einer oder zwei Stunden kommen werde. Dieser aber war brav; er stellte sich schon nach einer halben ein, und er wäre sogar schon eher eingetroffen, wenn er es nicht für notwendig befunden hätte, seine Maulesel vorher etwas herauszuputzen. Ich will sie nicht beschreiben, sondern nur eingestehen, daß ich bei ihrem Anblick einen nicht geringen Schreck bekam. Sie bestanden aus Haut und Knochen, waren wohl monatelang weder gewaschen noch gestriegelt worden, und das, was wir als Sattel- und Riemenwerk betrachten sollten, war lauter zusammengesuchtes Zeug, das nicht zusammenpaßte. Besonders war der Damensattel das Erzeugnis eines so kühnen und gedankenvollen Notbehelfs, daß ich dem Hammahr für diese Leistung der freien, künstlerischen Erfindung gleich im voraus ein Bakschisch in die Hand drückte, eine Tat, für die er mich seiner ewigen Treue und Ergebenheit versicherte.
Selbstverständlich ließen wir die armen Tiere schleunigst füttern. Sie fraßen alles Genießbare, das sich in Eppsteins Haus befand, und waren dann noch immer nicht satt. Das Schönste an ihnen waren ihre Namen. Das meinige hieß Güwerdschina; das bedeutet zu deutsch »die Taube«. Natürlich hatte ich mir gerade dasjenige gewählt, das als störrisch bezeichnet worden war. Und es traf ein: wir sollten unsere Freude an ihm haben, und zwar in bösem wie dann auch in gutem Sinn. Als wir nämlich bezahlt hatten und aufstiegen, um fortzureiten, stellte sich heraus, daß Güwerdschina nicht mitmachen wollte. Sie war nicht von der Stelle zu bringen. Ich wendete alle meine Reitkünste an; auch der Hammahr machte den Versuch. Sogar die Bediensteten Eppsteins bemühten sich, doch vergebens. Sie kannten übrigens das Vieh und versicherten, daß es sich lieber totschlagen lasse, als auch nur zwei Schritte von der Stelle gehen werde. Was sollte ich tun? Zu Fuß wandern wie der Hammahr? Nein! Ich stieg wieder auf und befahl ihm, Güwerdschina zu führen. Da ging sie nämlich mit. Ich hoffte sie draußen, wenn wir die Stadt hinter uns hatten und uns auf freiem Feld befanden, zu Verstand bringen zu können – und das gelang mir auch, aber nicht ganz. Gute Worte und Liebkosungen halfen nichts, Schläge noch weniger. Nun versuchte ich es mit dem Daumen, den ich der »Taube« von der Seite her zwischen die ersten Rückenwirbel grub. Da schoß sie vorwärts und gehorchte einige Zeit, aber nicht allzu lange; dann war ich gezwungen, das Mittel von neuem anzuwenden. So quälte ich mich mit dem bockbeinigen Tier während des ganzen Weges, der eine halbe Stunde lang zwischen Gärten nach der Eiche führt, von der man behauptet, daß sie aus der Zeit des ersten Patriarchen stamme. Dies ist eine Übertreibung. Sie gehört zur Gattung Quercus ilex pseudo-coccifera, hat unten einen Umfang von ungefähr zehn Metern und teilt sich vier Meter hoch in mehrere ungeheuere Äste, die zum großen Teil bereits abgestorben sind. Der Baum, der schon im sechzehnten Jahrhundert verehrt wurde, hat jedenfalls ein bedeutendes Alter und wird wohl nicht mehr so lange stehen, wie er gestanden hat. Er gehört den Russen, die hier ein Hospiz und einen Aussichtsturm erbaut haben, von dessen Höhe aus man bis zum Toten Meer sieht. Der Schlüssel zu diesem Turm ist im Hospiz zu holen; man hat hierfür eine Kleinigkeit zu entrichten. Ich schickte Thar, um ihn zu bringen und dann wieder abzugeben. Als er das letztere getan hatte, brachte er eine Schnur mit, die er sich hatte geben lassen.
»Die ist für deine liebe Güwerdschina!«
»Wieso?« erkundigte ich mich.
»Ich werde dich bitten, sie an deiner Stelle reiten zu dürfen.«
»Glaubst du, sie von der Stelle zu bringen?«
»Mit Leichtigkeit.«
»So, weißt du ein Mittel?«
»Ja, es hilft auf jeden Fall.«
»Warum hast du es mir nicht gleich mitgeteilt?«
Da zwinkerte er mich listig mit den Augen an, lachte, daß seine prachtvollen weißen Zähne glänzten, und antwortete:
»Weil ich dir eine doppelte Freude bereiten wollte; doppelt aber erfreut das Mittel nur dann, wenn man sich vorher geschunden hat. Paß auf!«
Er band die Mitte der Schnur in einem Knoten um den Schwanz der »Taube«, so daß die beiden Enden herunterhingen, und stieg in den Sattel. Wir wollten aufbrechen, um jetzt nach dem Haram Ramet el Chalïl zu reiten. Meine Frau saß schon auf ihrem Tier, und ich stieg auf dasjenige, das bisher Thar geritten hatte. Wir warteten also nur, was der Bub tun werde. Dieser ließ sich von dem Hammahr die beiden Schnurenden reichen, behielt sie aber einstweilen nur locker in den Händen.
»Nun paßt auf, wie schnell das hilft!« sagte er. »Laßt mich voranreiten; macht Platz!«
Wir wichen zur Seite. Da trieb er die liebe Güwerdschina an. Sie wedelte mit den Ohren und mit dem Schwanz, tat aber keinen Schritt. Er schlug sie; es half nichts. Er brüllte sie an; er stemmte ihr die Füße in den Leib – – vergeblich. Da zog er die beiden Schnüre an. Dadurch wurde der Schwanz emporgehoben und über den Rücken des Maulesels nach vorn gestülpt. Der Bub legte sich die Schnüre um den Leib und machte einen Knoten. So waren sie also fest angespannt und konnten nicht zurück. Die Güwerdschina erschrak. So etwas war ihr im Leben noch nicht vorgekommen! Sie bewegte die Ohren wie Windmühlenflügel. Sie wollte auch mit dem Schwanz wedeln; das ging aber nicht. Da wendete die »Taube« den Kopf nach der rechten Seite, um nach hinten zu sehen, sah aber nichts. Und sie wendete ihn nach der linken, um nach hinten zu bücken, konnte aber auch hier den Schwanz nicht entdecken.
»Jetzt wird ihr himmelangst!« lachte Thar. »Sie glaubt, da hinten gehe etwas Fürchterliches vor, und wird laufen, was sie laufen kann!«
Kaum hatte er das gesagt, so ließ die Güwerdschina ein markerschütterndes Wiehern hören, machte einen krummen Katzenbuckel, tat einige Seitensprünge nach rechts und nach links und schoß dann mit einer Schnelligkeit geradeaus, als ob sie sich den Kopf einrennen wollte. Es gehörte ein fester Sitz dazu, dabei nicht herunterzufallen, doch Thar behauptete sich mühelos im Sattel. Wir folgten ihm so schnell wie möglich und herzlich lachend, denn bei dem angstvoll-drolligen Gebaren des Maulesels war es einfach unmöglich, ernst zu bleiben.
Der neue Weg führte über die Ruinen des Dorfes Chirbet en Nasara nach der Straße von Jerusalem. Da holten wir den Buben ein, der stolz auf seinem Tier saß, das ihm nun leidlich gehorchte. Von der Straße aus ging es dann die erwähnten vierhundert Schritte nach dem »Brunnen Abrahams«, der in der Ecke eines quadratischen, großen Mauerwerks liegt. Wozu diese Mauern bestimmt gewesen und ob sie überhaupt jemals ausgebaut worden sind, das weiß man nicht. Jetzt liegen sie in Trümmern. Die Blöcke sind ohne Mörtel auf- und aneinandergefügt und oft bis fünf Meter lang. In Baalbek habe ich zwar derartige Steine von über neunzehn Meter Länge gesehen, aber fünf Meter beweisen doch auch schon zur Genüge, daß man zur Zeit, als diese Mauern entstanden, bedeutende Lasten zu bewegen wußte. In der Nähe liegt noch eine andere Zisterne, die man »das Bad der Sara« nennt. Es gibt auch zwei in dem Felsen angebrachte Ölkeltern und unweit davon die Ruinen einer großen Kirche, möglicherweise der Basilika, die Konstantin der Große bei der »Terebinthe von Mamre« erbaute. Man nennt diese Stelle noch heute das »Terebinthental«, und es ist Grund zu der Annahme vorhanden, daß hier die Gegend des einstigen Hains Mamre zu suchen ist.
Als wir das Mauerviereck erreichten, sahen wir eine ärmlich gekleidete Araberin, die mit einem kleinen Mädchen in der Brunnenecke saß. Sie zog sich bei unserem Anblick sofort vom Wasser zurück. Wir schöpften für unsere Tiere, und dann, als sie getrunken hatten, wollte ich den Hammahr zurückschicken, da wir ihn und seine Maulesel nicht mehr brauchten. Denn wir befanden uns an Ort und Stelle und konnten die paar hundert Schritte nach der Straße, wo wir auf Mustafa Bustani warten sollten, auch zu Fuß zurücklegen. Das sagte ich ihm und lohnte ihn ab. Es ist niemals meine Art und Weise gewesen, zu knickern und zu feilschen. Man kommt mit offener Hand bedeutend weiter als auf dem Weg des Geizes. So auch hier. Der Hammahr zählte, was ich ihm gegeben hatte, und sagte dann:
»Das ist zuviel, Effendi.«
»Nein«, antwortete ich. »Du bist freundlich und höflich gewesen und hast dieses Bakschisch also verdient.«
»Auch als Bakschisch ist es zuviel. Aber vielleicht verdiene ich es mir noch besser. Ich werde also diesen Ort nicht eher verlassen, als bis auch du ihn verläßt. Ich habe nichts weiter zu tun, und es ist ja doch nicht ausgeschlossen, daß ich dir noch dienen kann.«
Auf Thar übten die fremde Araberin und ihr Töchterchen eine große Anziehungskraft aus. Er schlängelte sich nach Knabenart erst von weitem um sie herum, kam ihnen immer näher, saß dann plötzlich zwischen ihnen und redete mit einer Vertraulichkeit auf sie ein, als ob er ein längst Bekannter oder gar Verwandter von ihnen wäre. Nach kurzer Zeit schon brachte er uns das kleine Mädchen zugeführt. Ihre Mutter blieb sitzen. Das Kind hatte ein gar liebes, zartes Gesichtchen, leise gerötete Pfirsichwangen und große, blaugraue Samtaugen, deren Blick so rief aus dem Innern zu kommen schien, daß er wie ein holdes Rätsel wirkte. Eine Fülle lichtbraun gewellten Haares quoll unter einem roten Käppchen hervor. Das eine kleine, sonnverbrannte Händchen hielt einige lange, große Glockenblumen gefaßt. Das andere versteckte sich in die Falten des fleckenlosen Kleidchens, und die niedlichen, dunkelgebrannten Füßchen mit den winzigen, elfenbeinernen Nägeln an den feinen Zehen machten einen so eigentümlichen Eindruck auf mich, daß ein unendliches Erbarmen und der Wunsch in mir aufstieg, diesem so schönen, armen Kind irgendeinen recht großen Dienst erweisen zu können. Genau dasselbe fühlte auch meine Frau.
»Hier bringe ich euch meine neue Freundin«, sagte der Bub, indem er sie uns hinschob.
»Wie heißt sie denn?« erkundigte sich meine Frau.
»Das weiß ich nicht. Frage sie selbst! Ich habe noch weiter gar nichts mit ihr reden können als dreierlei: nämlich daß sie mir gefällt, daß ich ein Held bin und daß ich für sie kämpfen werde.«
»Ich bin Schamah«, sagte das Kind den Ton auf die zweite Silbe des Wortes legend; »und dort ist meine Mutter!« Das andere Händchen kam aus den Falten hervorgekrochen und richtete den ausgestreckten Zeigefinger auf die Araberin. Die Stimme klang weich, aber eindringlich; sie hatte einen Ton, der nicht leicht zurückzuweisen ist.
»Was heißt Schamah?« fragte mich meine Frau, indem sie das Kind an sich zog und liebkoste.
»Es ist die ostjordanländische Aussprache von Samah, Verzeihung«, antwortete ich.
»Du kleines, reines Seelchen«, lächelte meine Frau auf das Kind herab; »dir wird man wohl noch nichts zu verzeihen haben!«
»Ich bringe euch Glocken«, lächelte Schamah zurück. Und die Blumen an das Ohr meiner Frau emporhaltend und dort bewegend, fuhr sie fort: »Jetzt läute ich sie. Kannst du es hören?«
»Ja, ich höre es.«
»Nicht wahr? Ganz leise, leise, wie aus dem Himmel herunter! Aber wenn sie großgewachsen sind, so groß, wie sie in der Kirche hängen, dann wird die ganze Welt das Läuten hören.«
»Du sprichst von der Kirche?« fragte Thar. »Bist du vielleicht Christin?«
»Ja, eine Christin«, nickte sie.
»Und deine Mutter auch?«
»Sie auch.«
Da klatschte er in die Hände und rief: »Das ist schön! Das ist gut! Das freut mich!«
»Warum?«
»Weil ich eben ein Held bin und weil ich für dich kämpfen will. Für eine Mohammedanerin kann man keine Heldentaten verrichten. Die wickelt sich in Tücher ein, und man kann sie nicht sehen. Die Christin aber kann man sehen, und das ist notwendig, wenn man begeistert werden soll, das Leben für sie in die Schanze zu schlagen. Unsereiner muß sich doch auch sehen lassen! Weißt du, wie ich ausschauen werde, wenn ich für dich kämpfe?«
»Doch so wie jetzt! Oder nicht?«
»Nein. Mein jetziges Aussehen ist nicht tapfer genug. Weißt du, schon die Farbe hat den Feind zu erschrecken! Deshalb male ich mich an, sobald es zum Kampf geht. Im Gesicht bin ich auf der einen Seite blau und auf der anderen grün – –«
»Pfui!« unterbrach sie ihn.
»Die Beine streiche ich rot an und die Arme gelb –«
»Pfui, pfui!«
»Auf dem Rücken habe ich weiße und schwarze Striche von oben nach unten, und vorn habe ich schwarze und weiße Striche von hüben nach drüben.«
»Pfui, pfui, pfui!«
»Das gefällt dir nicht?« fragte er, halb verwundert, halb enttäuscht.
»Nein, gar nicht! Ich will dich so haben, wie du bist, nicht aber angemalt!«
»Gut, so bleibe ich, wie ich bin! Und wenn ich mir die Sache richtig überlege, so hast du recht, sehr recht. Nämlich wenn ich mich mit meinen Feinden herumschlage, so haben doch sie blau, gelb und grün auszusehen, nicht aber ich. Das werde ich mir merken. Unsere vier Klubs müssen neue und bessere Gesetze haben. Nämlich der, an dem man Farben entdeckt, hat als besiegt zu gelten! Dir zulieb bin ich bereit, über alle Regeln, die nichts mehr taugen, hinwegzuspringen.«
Er richtete sich so hoch wie möglich auf und bewegte seine beiden Arme so überzeugend, daß sie ihre großen Augen bewundernd auf ihn richtete und ihn fragte:
»Ja, ich glaube es schon, daß du ein Held bist; aber wo gibt es denn einen Grund, gerade meinetwegen andere totzuschlagen?«
»So ein Grund läßt sich immer finden, zumal wenn man nach ihm sucht. Vielleicht kommt er dort. Schaut hin!«
Er deutete nach der Gegend der Kirchenruine, hinter der Leute hervorkamen, die von uns bisher unbemerkt geblieben waren. Es waren zehn bis zwölf Männer, die auf Eseln ritten, und hinter ihnen ein Zug von vielleicht vierzig bis fünfzig Knaben, die Fahnen und allerlei Kinderwaffen trugen. Einige waren mit Lärminstrumenten versehen, die sie jetzt, da sie uns erblickten, in Bewegung setzten. Das war einer jener Kinder-Festzüge, die am heutigen Tag die Umgebung der Stadt belebten.
»Kann das nicht gefährlich werden?« fragte meine Frau. »Wir wollen uns schnell entfernen!«
»Keinesfalls«, meinte ich; »am allerwenigsten schnell! Wir haben allen Schein, daß wir uns etwa fürchten, zu vermeiden. Wir werden ihnen das Wasser freigeben, aber nicht sofort. Ich hoffe, sie werden uns grüßen.«
Der Zug hatte jetzt den Platz erreicht. Die Männer hielten bei unserem Hammahr an und fragten ihn nach uns. Da erfuhren sie zwar, daß wir Christen seien, aber gefährlich war das jedenfalls nicht. Schamahs Mutter verließ ihren Platz und kam zu uns. Sie fürchtete sich vor den fanatischen Leuten aus El Chalïl und bat, sich uns anschließen und den Ort mit uns verlassen zu dürfen. Sie sei eine Witwe aus der Gegend von El Kerak jenseits des Toten Meeres und mit ihrem Töchterchen auf einer Pilgerreise nach den heiligen Stätten von Bethlehem und Jerusalem. Sie war zwar arm und einfach, aber arabisch hübsch gekleidet, und in der Art und Weise, wie sie sich ausdrückte, pflegt eine gewöhnliche Araberin oder gar Beduinin nicht zu sprechen. Auch sie war schön, aber von jener schwermütigen Schönheit, die eine Tochter des Leids, nicht aber des Glücks ist. Meine Frau reichte ihr die Hand und zog sie an ihre Seite heran, und ich empfahl ihr, ja keine Sorge zu haben; es werde ihr nichts geschehen.
Jetzt kamen die Reiter auf uns zu. Sie hielten einige Schritte vor uns an und stiegen ab. Man sah, daß sie nicht die Absicht hatten, uns zu grüßen. Das durfte ich nicht dulden, denn das hätte die Unverschämtheiten, die ich vermeiden wollte, gerade herbeigeführt. Es gibt da einen gewissen Blick, der immer wirksam ist. Den richtete ich auf denjenigen von ihnen, der der Vornehmste zu sein schien. Er wurde verlegen, hob die Hand an die Brust, verbeugte sich leicht und sagte:
»Sallam!«
Das klang kurz.
»Sallam!« antwortete ich darum ebenso, ohne daß ich aufstand.
»Sallam!« erwiderte auch der Bub.
»Ich bin Abdullah, der Schreiber des Schech el Belad Bürgermeister!« rühmte sich der Hebronit.
Noch bevor ich antworten konnte, antwortete der Bub.
»Und dieser mein Effendi ist der oberste Schreiber des Bürgermeisters von Deutschland! In seine Tasche fließen sämtliche Steuern. Er setzt ein oder ab, wen er will. Er ist nach Chalïl gekommen, um von den Russen die Eiche Abrahams zu kaufen und nach Hause schaffen zu lassen. Heil sei ihm!«
Als er das gesagt hatte, nahm er seine »neue Freundin« bei der Hand und ging mit ihr den Knaben von Hebron entgegen. Ich vergaß ihn zu warnen, so entsetzt war ich über die Unverfrorenheit, mit der er seine tollen Behauptungen vorgebracht hatte. Aber das Unerwartete geschah. Die Männer nahmen sie ernst. Sie hielten eine leise Beratung; dann machten sie alle eine tiefe Verneigung, und Abdullah sagte:
»Effendi, du bist ein mächtiger Herr, aber leider ein Christ. Wir dürfen dich darum nicht einladen, unser Gast zu sein, und werden die Spiele der Jugend erst dann beginnen, wenn ihr diesen Ort verlassen habt.«
Das war eine verschleierte Aufforderung, uns aus dem Staub zu machen. Dann gingen sie mit ihren Eseln fort nach einer entfernteren Stelle. Eine weniger friedfertige Szene spielte sich da ab, wo Thar und Schamah mit den Knaben aus Hebron zusammengetroffen waren. Diese waren in Aufregung. Sie brüllten etwas, was wir nicht verstanden, weil zu viele es riefen. Der Bub stand furchtlos vor ihnen, hatte den linken Arm schützend auf das Mädchen gelegt, fuhr mit dem rechten drohend in der Luft herum und hielt eine Rede, die wir auch nicht verstanden. Der Mutter wurde angst um ihr Kind. Ich beruhigte sie. Wir näherten uns der lebhaft bewegten, schreienden Gruppe. Als der Junge uns kommen sah, rief er uns zu:
»Es ist weiter nichts! Sie wollen Schamah ersäufen – im Wasser dort, wo ihr gesessen habt! Weil sie eine Christin ist und das heutige Fest besudelt. Da habe ich gesagt, daß ich das nicht dulde, sondern für sie kämpfen werde. Nun wählen sie einen Anführer, mit dem ich verhandeln soll. Da ist er schon!«
Er deutete auf einen großen, stämmigen Burschen, der jetzt aus der Menge trat, um, wie die Erwachsenen zu tun pflegen, vor dem Kampf eine Rede zu halten. Er stellte sich auf und schrie zu Thar und uns herüber:
»Du bist ein Christenhund, und sie ist ein Christenmädchen, also noch schlimmer als ein Hund. Wir werden sie ertränken da, wo die Zisterne so tief ist, daß sie gar keinen Boden hat. Wir sind strenge und gehorsame Gläubige des Propheten. Wir können nicht dulden, daß heute, am Geburtstag Ismaels, die Füße einer Christin diesen Boden berühren. Sie muß also sterben. Aber du willst um sie kämpfen, weil du sagst, du seist ein Held. Wir sind bereit dazu, denn auch wir sind Helden. Ich fordere dich auf, mir deine Bedingungen zu sagen.«
Als die Mutter von Schamah das hörte, stieg ihre Angst aufs höchste. Ich suchte Ihr zu erklären, daß es sich zwar wohl um einen wirklichen Zorn, in seiner Auswirkung aber nur um ein Spiel handle; es sei ja heute der »Tag der Jugendspiele«. Sie könne sich darauf verlassen, daß ihrem Kind nichts geschehen werde, und brauche Schamah nicht von unserem Knaben wegzuholen.
Dieser erklärte jetzt dem Kind:
»Du bist die Königin des Spiels, das vor deinen Augen stattzufinden hat. Komm, setze dich!«
Sie nahm auf einem Stein Platz, neben den er sich stellte. Dann zog er sein Merkbuch aus der Westentasche, schlug es auf und begann die Gegenrede:
»Ihr nennt mich einen Christenhund, doch bin ich ein Moslem aus Jerusalem, das größer ist als euer El Chalïl. Wer aber seid denn ihr?« Das Folgende las er vor: »Ihr seid Kananiter, Hethiter, Jebusiter, Girgasiter, Heviter, Amoriter, Siniter, Arkiter, Zemariter, Arvaditer, Hamathiter und Sidoniter! Die Feinheiten des Islam sind an euch vorübergegangen, und nur der Bodensatz ist sitzengeblieben!«
Jetzt steckte er das Notizbuch wieder ein und fuhr dann fort:
»Ihr nennt meine kleine Freundin hier noch schlimmer als einen Hund. So etwas sagt kein Held. Ich aber bin einer, und darum bin ich höflich, auch gegen euch. Ich werde mit euch kämpfen, aber nicht so, wie es hier bei euch: viele gegen einen, sondern wie es in Jerusalem Sitte ist: Mann gegen Mann. Ihr werdet euch in Löwen, in Elefanten, in Nilpferde und in Walfische verwandeln. Ihr wählt den kühnsten Löwen, den mächtigsten Elefanten, das stärkste Nilpferd und den größten Walfisch unter euch aus. Mit diesen vier Bestien werde ich kämpfen. Wenn einer von euch mich besiegt, so dürft ihr mich ersäufen, nicht aber sie, um die ich kämpfe. Wenn aber ich alle vier besiege, so bekomme ich – –«
»Hier meine Glockenblumen!« rief Schamah, indem sie das kleine Händchen mit den Blumen hoch emporstreckte.
»Ja, diese deine Glockenblumen«, stimmte Thar bei. »Ihr Hebroniter aber setzt euch jetzt um sie und mich herum, damit ich euch erkläre, was es mit den Löwen, Elefanten, Nilpferden und Walfischen für eine Bewandtnis hat!«
Sie gehorchten sofort mit Freuden. Es gab für einige Augenblicke ein wirres Kribbeln und Krabbeln in- und durcheinander; dann aber trat tiefe Stille ein, in der nur die erklärende Stimme des Knaben zu hören war. Als sie alle begriffen, um was es sich handelte, erhob sich großer Jubel. So etwas war noch niemals dagewesen! Ein jeder drängte sich dazu, zu einem der Tiere zu werden, und inmitten all dieser Ungetüme, die nach Rache strebten, saß Schamah, die Verzeihung, ein friedliches Lächeln im lieben Angesicht und ohne alle Furcht, verletzt zu werden. Und sonderbar, nicht nur die Jungen, sondern auch die Alten fühlten sich begeistert und gesellten sich hinzu. Sie wählten mit, und sie bestimmten mit. Sie steckten den Kampfplatz ab, und Abdullah, der Schreiber des Schech el Belad, hatte sogar die Güte, die Ordnungs- und Sicherheitspolizei in die eigene Hand zu nehmen. Von Glaubenszwist und Glaubenshaß war keine Rede mehr.
Der Kampfplatz bildete ein Viereck, das nördlich von den Löwen, südlich von den Nilpferden, östlich von den Elefanten und westlich von den Walfischen eingeschlossen wurde. Schamah saß an der Südseite auf ihrem Thron, um alles leicht überschauen zu können. Dieser Thron war Güwerdschina, der ruhigste Sitz, den es geben konnte. In den Ecken saßen die Musikanten, eine Tarabukka Topftrommel, eine Nakara Tamburin, ein Nefir Trompete und eine Suffara Querpfeife. Die waren verpflichtet, den größtmöglichen Lärm zu machen, sooft unser Bub zu Boden gegangen wäre. Denn daß der Sieg sich auf seine Seite neigen könnte, das hielten die Hebroniter für unmöglich. Sie hatten ihre stärksten Burschen ausgesucht. Die Bedingungen waren einfach: wer von den drei ersten Tiergattungen auf die Erde zu liegen kam, der hatte verloren. Der Kampf der Walfische aber hatte in der Zisterne stattzufinden. Der Sieger mußte seinen Gegner untergetaucht haben und durfte ihm dann noch öffentlich einen ganzen Mund voll Wasser ins Gesicht blasen. Vor Beginn des Kampfes wurden die vier Helden aus Chalïl gefragt, ob sie gesonnen seien, von der Wahl zurückzutreten. »Um keinen Preis!« antworteten sie. Da gab Abdullah, der Schreiber, das Zeichen, daß die Zeit des Löwenkampfes gekommen sei. Der Leu aus Hebron trat vor. Es war derselbe große Junge, der die Rede gehalten hatte. Er machte, als er sämtliche Augen auf sich gerichtet sah, eine zuversichtliche Miene. Thar stand bei uns.
»Paßt auf, wie schnell es geht!« sagte er. »Die Hauptsache ist, daß man dem Feind keine Zeit läßt, sich zu besinnen.«
Dann betrat er den Platz, ging zu Schamah, verbeugte sich vor ihr und stellte sich hierauf dem Feind gegenüber. Dieses ritterliche Benehmen kannte er jedenfalls aus irgendeinem Sagen- oder Märchenbuch. Nun schlug Abdullah die Hände dreimal zusammen. Der Augenblick war da.
Der Gegner zögerte nicht. Er nahm einen Anlauf. Thar ließ ihn fast heran, sprang dann zur Seite, packte ihn von hinten, knickte ihn auf die Erde nieder, hielt ihn dort fest und rief den Musikanten zu:
»Nun spielt und jubelt doch!«
Sie blieben still.
Der Besiegte stand langsam auf und schlich sich gesenkten Hauptes von dannen.
Hierauf folgte der Kampf der Elefanten. Der feindliche war ein ungefüger Bursche, der zweimal mehr Kraft als unser Bub zu besitzen schien. Dieser letztere aber nickte lächelnd zu uns herüber. Das war ein gutes Zeichen. Er hatte gesagt, daß die Elefanten im Klub einander niedertreten müssen. Er ging noch hierüber hinaus und nahm sich vor, diesen hier nicht nur niederzutreten, sondern niederzuspringen. Er nahm, als das Zeichen gegeben wurde, einen kräftigen Anlauf, schwang sich empor und sprang den Gegner einfach über den Haufen. Im nächsten Augenblick kniete er auf ihm und rief den Musikanten zu:
»Den Siegesmarsch für ihn, laut, laut!«
Allgemeine Stille ringsum. Nur Abdullah, der Schreiber, rief zornig aus:
»O weh! Schon zwei! Das darf nicht geduldet werden! Heraus mit dem Nilpferd! Das muß ihn niederstampfen!«
Das Nilpferd erschien. Es war ein kurzer, dicker Kerl, mit sehr viel Fett, aber wenig Muskeln ausgestattet. Der verdrehte kühn die Augen und hatte guten Mut. Er senkte den Kopf wie ein Rassepferd, noch ehe das Zeichen gegeben wurde. Dann rannten sie aufeinander los. Es gab einen gewaltigen Krach; dann lag das Hebroner Ungeheuer am Boden, streckte die Beine in die Luft, hielt sich mit beiden Händen den Kopf und brüllte, als ob man im Begriff stehe, es auf dem Rost zu braten.
Der Bub aber stand aufrecht da und lachte den Musikanten zu:
»Da braucht ihr nicht zu trommeln und zu blasen: der tut es selbst.«
Nun sollten die Riesen des Ozeans zeigen, was sie konnten. Das Viereck löste sich auf. Man ging zur Zisterne, in deren Tiefe die letzte Entscheidung stattfinden sollte. Thar war der erste, der dort eintraf; er stand bereit, hinabzusteigen. Die Hebroniter waren weniger schnell. Am langsamsten bewegten sich die Walfische. Der allerletzte von ihnen, der ankam, war der, der mit Thar kämpfen sollte. Er machte ein verlegenes Gesicht, stellte sich an den Rand, schaute hinab und brummte:
»Ich nehme die Wahl nicht mehr an.«
»Du hast sie angenommen und mußt hinab«, erklärte Abdullah, der Schreiber.
»Um keinen Preis! Ich gehe.«
Er drehte sich um und eilte davon.
»So müssen wir neu wählen«, sagte Abdullah.
Da erscholl es aus so viel Kehlen, als noch Walfische vorhanden waren:
»Um keinen Preis! Um keinen Preis! Ich gehe – – ich gehe – – – ich gehe!«
Sie verschwanden – – einer nach dem anderen – – bis kein Walfisch mehr in der Nähe zu sehen war. Die Löwen folgten, ohne Lebewohl zu sagen. Die Nilpferde verkrümelten sich mitsamt den Musikanten in derselben Weise. Die Elefanten zottelten meist einzeln, aber auch zu zweien und dreien hinterdrein. Zuallerletzt ritten auch die Erwachsenen fort, ohne uns einen Wink des Abschieds zu gönnen. Da wendete sich der Bub an Schamah:
»Glaubst du nun, daß ich ein Held bin?«
»Ich glaubte es gleich«, antwortete sie. »Du hast gesiegt. Hier sind die Blumen.«
Sie reichte sie ihm. Er nahm sie, gab sie meiner Frau und bat, sie für ihn aufzubewahren; sie könne das besser als er. Und nun sahen wir in der Ferne einen anderen, bedeutend größeren Festzug kommen, der augenscheinlich auch hierher wollte. Den hatten unsere Gegner mit ihren geübten Augen schon längst erspäht. Darum ihre Eile, von hier fortzukommen. Sie wollten sich von den Ankömmlingen nicht als Bloßgestellte überraschen lassen. Doch auch wir hatten keinen Grund, hier länger zu verweilen, zumal die Zeit nicht mehr fern war, die wir mit Mustafa Bustani verabredet hatten, uns zu treffen. Auf unser Befragen erfuhren wir von der arabischen Witwe, daß sie heute nur noch bis zur Eiche Abrahams gehen und dort die Nacht über im russischen Hospiz bleiben wolle. Sie habe gehört, daß man dort auch Mittellose beherberge. Da erklärte unser freundlicher Hammahr, daß sie mit ihrem Töchterchen nicht zu laufen brauche, sondern reiten könne, denn er kehre auf demselben Weg zur Stadt zurück. Sie nahm es dankbar an. Als der Bub das hörte, fragte er mich leise:
»Hast du ein Zwanzigfrankstück bei dir, Effendi?«
»Ja«, erwiderte ich.
»Bitte, leihe es mir, aber laß es niemanden sehen!«
Ich ahnte, was er wollte, und gab ihm heimlich das Verlangte. Jetzt stieg die Mutter mit dem Kind auf einen der Maulesel, und der Hammahr nahm den zweiten. Thar schwang sich auf die Güwerdschina und sagte: »Ich reite mit bis zur Eiche, dann kehre ich zu Fuß nach der Straße zurück. Ehe Vater kommt, bin ich dort.«
Er zog der »Taube« den Schwanz in die Höhe, worauf sie mit lautem Wiehern davonschoß. Meine Frau nannte der Witwe unseren Namen und unsere Wohnung in Jerusalem und bat sie, uns dort auf alle Fälle aufzusuchen; wir würden uns herzlich freuen, sie und ihr Töchterchen wiederzusehen. Sie versprach, es zu tun, und die Art und Weise, in der sie dies versicherte und sich von uns verabschiedete, gab uns gute Gewähr, daß sie Wort halten werde. Dann ritten sie davon, Thar einzuholen. Wir beide aber machten einen kurzen Spaziergang durch die Umgegend, doch so, daß wir jede Begegnung vermieden. Als wir dann das Stelldichein erreichten, wartete Thar schon auf uns.
»Sie sind sehr arm«, sagte er. »Darum bin ich zum Hospiz geritten, um für sie zu sorgen, doch ohne daß sie es erfahren.«
»Wissen sie deinen Namen?« fragte ich.
»Ja.«
»Und wie dein Vater heißt?«
»Nein. Du weißt doch, daß der Prophet sagt: Wer der Armut gibt, der gebe alles, nur nicht seines Vaters Namen. Ich finde sie auch ohnedies in Jerusalem wieder.«
Bald darauf stellte Mustafa Bustani sich mit dem Wagen ein. Er freute sich, als er hörte, daß uns und seinem Sohn von seiten der Bevölkerung nichts geschehen sei, und teilte uns mit, daß es verschiedene Zusammenstöße zwischen Muselmännern und Juden gegeben habe. Er selbst war so ärgerlich über die Ungastlichkeit seines Geschäftsfreundes gewesen, daß er ausgeschlagen hatte, mit ihm zu essen. Nun hatte er Hunger. Darum suchten wir, sobald wir eingestiegen waren und der Wagen sich wieder in Bewegung setzte, alles Eßbare zusammen, was wir früh mitgenommen hatten, und hielten ein sogenanntes Abendessen »auf vier rollenden Rädern.«
Während der Heimfahrt ereignete sich nichts, was wichtig genug wäre, erzählt zu werden. Höchstens könnte ich sagen, daß wir, als wir das Wadi el' Arrub erreichten, wieder halten ließen, um in dem dort liegenden Kaffee einzukehren. Der Wirt kam heraus und fragte nach unseren Wünschen, aber in sehr gemessener Weise.
»Fünf Tassen!« befahl Mustafa Bustani. Sie wurden gebracht und getrunken. Dann zog ich den Beutel.
»Wieviel kosten die fünf?« fragte ich.
»Gerade einen halben Franken«, antwortete jener.
»Und die fünfzehn am Vormittag?«
»Anderthalb Franken.«
»Zwei Franken.«
Ich gab ihm nur die zwei Franken, keinen einzigen Para mehr.
»Hier! Fertig!«
Da griff er rasch zu, steckte das Geld ebenso schnell in die Tasche und machte eine tiefe, wie ich glaube, diesmal wirklich aufrichtige Verbeugung und sagte: »Ich danke dir, Effendi! Du bist gerecht und klug. Eure Heimfahrt sei gesegnet!«
Und sie war auch gesegnet. Mustafa zürnte der Unduldsamkeit seiner Glaubensgenossen und hatte nichts dagegen, daß sein Sohn während der ganzen Fahrt von der kleinen Christin schwärmte. Als Bethlehem vor uns auftauchte, holte er tief Atem und sprach:
»Es ist viel Liebe und viel Güte von diesem kleinen Städtchen ausgegangen, mehr als von all unseren großen, hochberühmten Wallfahrtsorten. Heute wurde ich einmal recht schonungslos und aufrichtig an meinen eigenen Glaubenseifer erinnert. Was hast du den Hebronitern getan? Nichts. Und doch verstoßen sie dich. Welch eine Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit! Und was hatte mein Bruder mir getan? Nichts. Und doch verstieß ich ihn, ihn, meinen leiblichen Bruder! Ich war also noch viel liebloser und noch viel ungerechter als die Kananiter von El Chalïl. Er ist mir nicht aus dem Sinn gekommen – während des ganzen Nachmittags – bis jetzt, da es Abend wird.«
»Wie hieß er?« fragte meine Frau.
»Achmed Bustani. Ihr hört, daß wir es fast auch schon zu Familiennamen gebracht haben. Ich habe keinen größeren Wunsch, als daß er noch lebt und sich von mir finden läßt.«
»Würdest du dein Vermögen wirklich mit ihm teilen?«
»Natürlich, sofort! Nicht allein deshalb, weil ich es der Sterbenden versprochen habe, sondern weil es auch mir selber Bedürfnis ist. Es ist, als ob da draußen am »Brunnen Abrahams« etwas Unsichtbares mit euch zu mir in den Wagen gestiegen sei, was mich ergriffen hat und mich nicht wieder loslassen will. Vielleicht ist es weiter nichts als die Erinnerung an gutzumachendes Unrecht. Aber sonderbar, es quält mich nicht, es tut mir vielmehr wohl; es befriedigt mich.«
Nun rollten wir an Rahels Grab und an Mar Eljas vorüber und kamen in Jerusalem an, gerade als die Nacht mit weichem Schritt die heilige Stadt betrat. Was ich mir in El Chalïl hatte holen wollen, das hatte ich nicht bekommen; es wurde uns dafür anderes und Besseres geboten; das sollten wir erst am anderen Tag erfahren. So pflegt es im Leben stets zu sein. Wird uns irgendein äußerlicher Wunsch versagt, oder stellt sich ein unerwarteter Schmerz an Stelle einer erhofften Freude bei uns ein, so hadert unser Unverstand mit dem Geschick, ohne abzuwarten, was sich aus diesem äußerlichen Verlust für ein innerlicher Gewinn ergeben werde. Dieser wird zwar nicht von uns unmittelbar erzielt, klopft aber, falls wir nicht feindlich widerstreben, sicher an unsere Tür, und ist er da, so kommt dann gewöhnlich hinterher auch die arme, ganz nebensächliche Gabe, nach der uns so sehr verlangte. So auch mit dem Sattel. Ich sollte ihn dennoch erhalten; aber der Wunsch, ihn zu besitzen, mußte vorher den Absichten einer allweisen Führung dienen, die zu begreifen wir meist zu kurzsichtig und zu ungeduldig sind.
Wir waren am nächsten Morgen kaum aufgestanden und saßen noch beim Kaffee, so klopfte es an unsere Tür und – wer trat ein? Thar.
»Guten Morgen!« grüßte er europäisch, indem er uns die Hand gab.
Wir dankten und sahen ihn beifällig an, denn er war frisch in Weiß gekleidet, rein und fleckenlos.
»Ja, da wundert ihr euch wohl?« sagte er. »Mit den Farben ist es aus! Denn erstens hat unsere Gattin hier von einem Heldentum gesprochen, das nicht angemalt, sondern wirklich ist, und seitdem will ich ein wirklicher Held sein, kein falscher. Und zweitens habt auch ihr gehört, daß Schamah, meine neue Freundin, gleich sechsmal ›Pfui!‹ ausrief, als ich mich durch blaue, grüne, rote und gelbe Farbe tapfer machen wollte. Was die sagt, das gilt bei mir mehr, als was ihr alle miteinander meint, und so bin ich fest entschlossen, die Kunst in Zukunft beiseitezulegen und nur Dinge zu treiben, zu denen man sich nicht anzustreichen braucht. Übrigens bin ich nur wegen Schamah zu euch gekommen. Wenn ich mit Kaffee trinken darf, so sage ich euch, warum. Bei euch sind die Tassen größer als bei uns.«
Er bekam, was er wünschte, setzte sich zu uns und fuhr fort:
»Zunächst habe ich euch zu sagen, daß ich aus sämtlichen Klubs der Löwen, der Elefanten, der Nilpferde und der Walfische austrete, solange sich Schamah in Jerusalem befindet. Darum bin ich jetzt weiß angezogen, um von Klub zu Klub zu gehen und zu melden, daß ich mit wilden Tieren nicht mehr verkehren darf. Schamah ist fein, und wenn ich nicht auch fein bin, muß ich mich schämen. Sie sagt gar zu leicht ›Pfui!‹. Und sodann müßt ihr erfahren, daß sie schon heute nach Jerusalem kommt«
»Woher weißt du das?« fragte ich.
»Das weiß ich von der Verschwörung.«
»So gibt es eine Verschwörung?«
»Ja«, nickte er wichtig.
»Wer hat sich verschworen?«
»Ich und der Hammahr.«
»Ah, gestern?«
»Ja. Und darum borgte ich mir von dir die zwanzig Franken. Hier sind sie wieder. Ich danke dir.«
Er zog zwei goldene Zehnfrankstücke aus der Tasche und legte sie auf den Tisch. Ich aber nahm sie nicht weg, sondern sagte:
»Bevor ich sie zurücknehme, muß ich wissen, worum es sich handelt. Ich habe sie dir geschenkt.«
»Du irrst!« sagte er ernst, »Ich bettle nicht, sondern ich borge. Schamah und ihre Mutter sind sehr arm. Sie haben zuweilen nicht genug zu essen; das habe ich herausgehört, ohne zu fragen. Ich aber bin reich, und ich bin ihr Freund. Darum habe ich im Hospiz für sie bezahlt, ohne daß sie es wissen, und darum bringt der Hammahr sie heute nach Jerusalem, natürlich auf besseren Eseln als den gestrigen; sie aber erfahren nicht, daß ich es bin, der es bezahlt. Sie glauben, das werde ihnen vom Hospiz aus geschenkt, Sie reiten, wenn sie hier ankommen, gar nicht in die Stadt herein, sondern sie biegen nach rechts in das Tal Hinnon ein und an dem Ölberg hinauf nach Bethanien, zu meinem Freund Abd en Nom.«
»Wer ist Abd en Nom?«
»Der Vater des größten Walfisches, den wir haben, und des schwersten Nilpferdes, das es gibt. Er beherbergt Pilger. Jetzt steht sein Haus leer, und Schamah hat mit ihrer Mutter mehr Platz, als sie braucht. Sie wird auch dort essen. Sie glaubt, sie sei vom Hospiz dorthin empfohlen. Abd en Nom hat mich gern. Ich gehe auch zu ihm, um alles vorzubereiten.«
»Und zu bezahlen?«
»Ja. Aber ich bitte euch, das ja nicht zu verraten. Schamah und ihre Mutter dürfen es niemals erfahren!«
»Weiß es dein Vater?«
»Nein.«
»Aber, mein Junge, das kostet Geld.«
»Das habe ich!« lachte er fröhlich auf.
»Von wem?«
Da wurde er schnell wieder ernst und antwortete:
»Von Mutter, ehe sie starb. Sie hat das Geld verborgt, und ich bekomme monatlich die Zinsen. Vater zahlt sie mir aus, denn er ist der Verwalter. Ich darf das Geld nicht behalten; ich bin gezwungen, es auszugeben, aber nicht für mich, sondern für arme, alte und kranke Leute, die sich in Not befinden. So hat es Mutter gewollt, und Vater muß mich machen lassen, was ich will. Er darf nur dann dreinreden, wenn er erfährt, daß ich das Geld anders verwende, als sie es mir befohlen hat. Aber das ist noch nie geschehen, denn ich habe Mutter lieb und denke bei jedem Piaster, den ich ausgebe, ob sie es wohl auch wie ich oder anders machen würde. Zwar habe ich mir gestern die zwanzig Franken von dir geborgt, ohne die Mutter vorher in meinem Innern zu fragen; aber das habe ich gestern abend, bevor ich einschlief, und heute früh, als ich erwachte, nachgeholt, und nun weiß ich, daß sie mit mir einverstanden ist und sich über Schamah und ihre Mutter freut. Wirst du nun das Geld zurücknehmen, Effendi?«
»Ja«, erwiderte ich und steckte es ein.
»Darf ich nun wieder gehen? Ich habe es nämlich sehr eilig. Denkt doch nur: zu den Löwen, zu den Elefanten, zu den Nilpferden, zu den Walfischen und zu Abd en Nom! Und von diesem allem darf Vater nichts wissen.«
»Weiß er, daß du zu uns gegangen bist?«
»Fällt mir nicht ein. Wenn er erführe, daß man zu euch kommen darf, wie es einem beliebt, so würdet ihr ihn den ganzen Tag nicht los, denn er hat euch außerordentlich gern! Allah schütze euch; ich verschwinde!«
Er trank seine Tasse aus, reichte uns die Hand, öffnete die Tür, ging hinaus, blieb stehen, sann einen Augenblick nach, trat wieder herein, zog die Tür fest hinter sich zu, als ob er uns etwas sehr Heimliches anzuvertrauen habe, und sagte:
»Etwas muß ich euch noch fragen: ist es nicht ein Unsinn, daß man mich daheim den ›Auserwählten‹ nennt?«
»Wie kommst du zu dieser Frage?« versuchte ich die Antwort zu umgehen.
»Weil ich mich nur in meinen eitlen Stunden über diese Bezeichnung freue; bin ich aber ernst, so ärgere ich mich darüber.«
»So ärgere dich!« riet meine Frau. »Der Ärger ist hier richtiger als die Freude.«
»Meinst du?« Er sah sie nachdenklich an. Dann richtete er das Auge auf mich und nickte mir bedeutsam zu: »Ich gebe viel auf das, was unsere Gattin sagt. Bisher hat sie stets das Richtige getroffen. Nun verschwinde ich wirklich. Allah behüte euch!«
Als er fort war, dauerte es kaum zehn Minuten, so klopfte es wieder, und wer kam? Sein Vater. Er bat um Verzeihung, daß er uns zu so ungelegener Zeit störe:
»Ich muß euch etwas Wichtiges mitteilen! Mir träumte, ich stand des Morgens auf und kam in die Stube, wo ich wohne. Da saß mein Bruder genauso, wie gewöhnlich ich. Er lächelte mich an und sagte: ›Ich bin gekommen und will sehen, ob ich bleibe.‹ Vor Freude wachte ich auf. Weißt du noch, was mein Bruder im vorigen Traum zu mir sagte?«
»Daß er dir seine Verzeihung senden werde.«
»Nun, und wie hieß das Kind, das ihr gestern getroffen habt, und von dem mein Sohn so unaufhörlich sprach?«
»Schamah, die Verzeihung!«
»Das ist ja wahr! Das ist ja richtig!« fiel da meine Frau rasch ein. Sollte es wohl –«
»Pst – –! Still – –!« unterbrach ich sie schnell. »Laß dich von keiner Geheimnissucherei überwinden! Schamah bedeutet allerdings Verzeihung, ist aber auch zugleich ein Mädchenname.«
»Doch die Mutter des Mädchens kommt, wie Thar mir sagte, aus der Gegend von El Kerak, und das liegt im Ostjordanland, wohin mein Bruder sich gewendet hatte«, warf Mustafa Bustani ein.
»So hast du mit Thar heute über sie gesprochen?« fragte ich, um ihn davon abzubringen.
»Noch gestern abend«, antwortete er. »Heute war er zwar schon zeitig wach, ließ aber gar nicht mit sich reden. Das hat er an sich, wenn er seine Gedanken an die Mutter richtet. Es beschäftigt ihn dann immer irgendeine Gabe oder irgendeine Tat, mit der er jemand zu erfreuen hofft. Dann ging er fort, ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben.«
»Weiß er, daß du hier bei uns bist?«
»Fällt mir nicht ein. Wenn er erführe, daß man zu euch kommen darf, sooft es einem beliebt, dann würdet ihr ihn den ganzen Tag nicht los, denn ich will euch nicht verschweigen, daß er euch beide in sein Herz geschlossen hat. Er ist seit gestern wie verändert. Und das kleine Mädchen scheint einen Eindruck auf ihn gemacht zu haben, der mir ein Rätsel ist.«
»Aber doch kein schlimmes Rätsel?«
»O nein, sondern ein sehr erfreuliches! Auch ich bin anders gestimmt als zu gewöhnlicher Zeit. Gestern war Feiertag, aber mir ist, als ob er erst heute sei. Ich komme mir vor wie in der glücklichen Knabenzeit, wenn etwas Langersehntes endlich einzutreffen verspricht. Ist das nicht sonderbar? Ist das nicht lächerlich?«
»Sonderbar wohl kaum, lächerlich aber keinesfalls. Unsere Seele steht mit ganz anderen Welten in Verbindung als unser Körper. Und diese Verbindung ist eine so innige, daß ein vernünftiger Mensch über das, was wir ›innere Stimmen‹ nennen, wohl niemals lächeln wird. Hat dir der Traum den Bruder deutlich gezeigt?«
»Er war es so bestimmt und deutlich, daß ich mich sogar im Traum darüber wunderte und freute, daß er mir noch so ähnlich sieht wie früher. Wir waren einander nämlich so überaus ähnlich, daß wir oft miteinander verwechselt wurden. Das machte uns Spaß, und darum trug er sich auch in Beziehung auf Bart und Kleidung genau wie ich. Um so verschiedener waren wir innerlich. Er immer weich, nachgiebig und zum Frieden geneigt, ich aber unzart, rauh und stets bereit, als Gebieter aufzutreten. Das trennte uns dann schließlich. Heute aber – – –«
Er hielt inne, trat an das Fenster, schaute hinaus und fügte dann hinzu:
»Da geht der Weg zum Bab en Nebi Daud und da zum Bab el Amud. Für mich ist es gleich, welchen von diesen Wegen ich benutze. Sie führen mich beide doch nur um die Stadt herum und nach dem Ölberg, wo ich warte, wann und wie mir die Verzeihung kommen werde. Heute liegt eine Spannung in mir, die mich nicht ruhen läßt. Ich gehe.«
Er entfernte sich, und ich gestehe offen, daß er einen Teil der Spannung, in der er sich befand, bei uns zurückließ.
Wir verwendeten den Vormittag dazu, die »Gräber der Könige« und einige andere naheliegende Orte zu besuchen. Am Nachmittag wollten wir nach Ain Karim, einem meiner Lieblingsplätze, den man für den Geburtsort Johannis des Täufers hält. Wir kamen aber nicht dazu, diesen Ausflug zu unternehmen, denn eben als wir zu Mittag speisen wollten, klopfte es zum drittenmal bei uns an, und wer erschien? Schamah mit ihrer Mutter! Wir freuten uns herzlich über diesen unerwarteten Besuch, und es verstand sich von selbst, daß sie mit uns aßen. Die Mutter war eine sanfte, edle und nur innerlich stolze Frau von ernster Herzensbildung. Sie sprach trotz ihrer Bescheidenheit mit großer Genugtuung davon, daß sie aus dem Kaukasus stamme und ihre Vorfahren, soweit die Überlieferung zurückreiche, immer Christen gewesen seien. Ihr Vater war, wegen seines Glaubens unterdrückt, als armer Offizier in El Kerak gestorben. Auch ihr Mann sei arm gewesen, aber mit allen Tugenden geschmückt, die nötig sind, sich die Achtung und die Liebe der Menschen zu erwerben. Er habe Achmed Bustani geheißen und sei an einer Krankheit des Herzens gestorben, an einer Sehnsucht, die ohne Unterlaß an ihm genagt habe, bis ihn der Tod von ihr erlöste.
Achmed Bustani! Man kann sich wohl denken, welchen Eindruck dieser Name auf uns machte. Der Bruder unseres Freundes, also doch! Mir hätte die Witwe diese Mitteilungen wohl nicht so bald gemacht, aber die beiden Frauen waren einander schon gestern innerlich begegnet und fühlten sich nun heute in der Weise zueinander hingezogen, daß sich die Vertraulichkeit von selbst einfand. Natürlich nicht sofort, sondern es währte Stunden, bis wir so nach und nach erfuhren, was ich in wenigen, kurzen Worten berichte. Während sie sprach, schaute uns die zurückgehaltene Herzensqual aus ihren feuchten, tiefen Augen an, und so wäre es von uns im höchsten Gerade hart, ja grausam gewesen, wenn wir die Qual durch Fragen vergrößert hätten, nur um eine gewöhnliche Neugier zu stillen. Achmed Bustani war, um es mit einem bekannten Wort auszudrücken, am Heimweh gestorben. Die Liebe zu Weib und Kind hatte den Tod höchstens verzögern, nicht aber verhindern können. Der Gedanke, vom Vater und von der ganzen Familie verstoßen zu sein und niemals wieder Aufnahme finden zu dürfen, hatte ihn, den aus der Verwandtschaft unlösbaren Semiten, das Leben gekostet. Und bereits im Sterben liegend, hatte er seiner Gattin das Versprechen abgenommen, sie werde nach Jerusalem pilgern und mit dem Kind seinen Bruder aufsuchen, um ihn, wenn möglich, doch noch zu versöhnen.
Sie hatten eigentlich von der Eiche Abrahams nur bis nach Bethlehem wandern wollen, aber vom Hospiz aus einen Zettel an einen gewissen Abd en Nom in Bethanien erhalten, der ihnen freie Aufnahme und Verpflegung in dessen Haus sicherte. Und zugleich hatte es sich gefügt, daß der uns bekannte Hammahr mit seinen Eseln nach Jerusalem mußte, um jemand von dort abzuholen, und sie also mitnehmen konnte, ohne daß sie zu bezahlen brauchten. Sie freuten sich über die Gefälligkeit dieses Mannes und über die im russischen Hospiz an der Abrahamseiche herrschende Menschenfreundlichkeit, ohne zu ahnen, daß es in Wahrheit unser »Held der Blutrache« war, dem sie alles das verdankten, Sie waren aber nicht in das Tal Hinnon hinab und geradewegs zu Abd en Nom, sondern hierher zu uns geritten, um sich bei uns zu erkundigen, ob es für eine einsame, christliche Pilgerin möglich sei, bei diesem Mann zu wohnen. Wir gaben die möglichst beste Auskunft und boten ihnen an, sie zu ihm zu begleiten, um zu sehen, was für ein Mann er sei. Sie nahmen dies dankbar an, und eben wollten wir aufbrechen, da klopfte es zum viertenmal an unsere Tür, und der Bub trat wieder herein.
Er war außer Atem und rief, als er Schamah und ihre Mutter erblickte:
»Es ist richtig, was der Hammahr sagte! Ihr seid erst hier eingekehrt, anstatt zu Abd en Nom zu reiten! Aber warum bleibt ihr so lange hier? Warum geht ihr nicht nach Bethanien, das Hinnontal entlang und genauso, wie ich es dem Hammahr gesagt habe?«
Er stand im Begriff, sich zu verraten. Da nahm ich ihn beim Kragen und brachte ihn in das Nebenzimmer. Dort sagte ich:
»Ich denke, Schamah und ihre Mutter sollen nicht wissen, daß du mit dem Hammahr eine Verschwörung angezettelt hast. Und da kommst du und sprichst selbst davon?«
»Allah, Allah!« erschrak er. »Du hast recht. Das ist dumm von mir. Aber denke dich doch in meine Lage, Effendi! Ich stehe mit allen meinen Löwen und Elefanten und Nilpferden und Walfischen unten am Siloahteich, um Schamah vorüberkommen zu sehen und sie in einem großen, festlichen Wandelzug nach Bethanien zu begleiten – – –«
»Mit den Nilpferden und Elefanten?« fiel ich ihm in die Rede.
»Ja, natürlich!« nickte er. »Ich habe sie zusammengeholt, um meine neue Freundin mit ihrer Hilfe festlich zu empfangen. Sie haben ihre besten Kleider angezogen. Wir haben die ganze Umgegend nach Blumen und Sträuchern abgesucht, um sie ihr voran- und hinterherzutragen. Wenn sie kommt, halten wir sie an und machen unsere Verbeugungen. Dann wird ein Gedicht von Firdusi hergesagt. Hierauf halte ich die Festrede. Wenn die vorüber ist, folgen neue Verbeugungen mit einem Lied, das wir teils singen und teils blasen. Sodann folgt ein zweites Gedicht; das ist von Busiri. Und endlich ein Siegesgeschrei, so laut wir brüllen können. Nun teilen wir uns, und der Wandelzug setzt sich in Bewegung – – die Hälfte von uns vorn, die Hälfte hinten, ich aber in der Mitte zwischen Mutter und Tochter als Führer der beiden Esel.«
»Das ist ja reizend ausgedacht«, lachte ich.
»Nicht wahr? Und nun stell dir vor, daß wir stundenlang gewartet haben, aber niemand kam! Als die Mutter von Schamah sich hier an deiner Tür von dem Hammahr trennte, ist dieser mit seinen Eseln in der Stadt spazierengelaufen, anstatt den Weg, den ich mit ihm verabredet hatte, fortzusetzen. Erst später hat er daran gedacht, dies zu tun, und so habe ich gerade vor einigen Minuten erfahren, daß die so sehnlich Erwarteten sich hier bei euch befinden. Ich bin sofort herbeigeeilt, um euch zu sagen, daß ihr schleunigst kommen müßt, wenn meine Löwen und Walfische nicht die Geduld verlieren sollen.«
Es tat mir leid, ihm seine Begeisterung nehmen zu müssen, aber ich konnte nicht anders. Ich erklärte ihm, daß und warum ein solcher Empfang unmöglich sei. Einer christlichen Pilgerin gezieme Bescheidenheit und innere Sammlung, nicht aber so etwas, am allerwenigsten aber mohammedanische Gedichte und brüllendes Siegesgeheul. Er war verständig genug, dies einzusehen und meinte:
»Gut, Effendi, so unterlassen wir es; aber etwas tue ich doch. Kennst du das Lied von Bethanien, wo Jesus kommt, die Geschwister zu besuchen?«
»Nein.«
»So wirst du es hören. Ihr geht jetzt nach dem Hinnontal und am Siloahteich vorüber?«
»Ja.«
»Gut, das paßt! Bitte, geht langsam! Ich aber eile voraus.«
Ich wollte ihn ermahnen, ja nicht noch Unpassenderes zu tun, aber er wehrte ab und machte sich schleunigst aus dem Staub.
Wir folgten ihm.
Als wir hinkamen, war kein Mensch außer uns zu sehen. Ich freute mich darüber. Diese Einsamkeit und Ruhe paßte zu der Stimmung, in der wir uns befanden. Wir hatten uns den Weg mit ernstem Gespräch gekürzt. Die kleine Schamah aber wirkte wie ein inniger Sonnenstrahl, der diesen Ernst milderte. Die Witwe sah sich am Ziel ihrer Reise. In ihr bebte die wichtige Frage, ob ihre Pilgerschaft Erhörung finden werde oder nicht. Wir aber, die wir hiervon mehr wußten als sie, wir sahen die Entscheidung nahen und fühlten uns in hohem Grade gespannt.
Plötzlich erklang von rechts und von links, von oben und von unten, kurz von allen Seiten und von allen Höhen, wo die Knaben sich hinter den Steinen versteckt hätten, ein eigentümlich getragenes, zweistimmiges Lied in arabischer Sprache. Das war das Lied von Bethanien, wo Christus die Geschwister besucht und unterwegs am Siloahteich Kranke heilt. Unsere innere Stimmung und die Umgebung, das, was hinter uns lag, und das, was wir vor uns zu erwarten hatten, und hierzu dieses uns vollständig überraschende, tief ergreifende Christuslied: das alles wirkte derart auf uns ein, daß es uns fast niedergezogen hätte, um kniend zuzuhören. Und als es vorüber war, regte sich kein Hauch. Die Sänger blieben in ihren Verstecken liegen; sie waren gut unterwiesen. Von diesem Augenblick an begann ich zu zweifeln, daß unser Bub so ganz ohne allen Kunstverstand geboren sei.
Von hier aus gingen wir nach dem Kidrontal und bis zur sogenannten oberen Brücke, um Gethsemane zu sehen. Dann über den jüdischen Begräbnisplatz nach Bethanien hinauf.
Da stand vor dem Dorf der Junge. Er wartete auf uns und grüßte. Dann fragte er mich leise:
»Hast du sie gesehen?«
»Wen?« fragte ich wieder.
»Die Sänger. Sie sind euch, während ihr nach Gethsemane wandertet, zuvorgekommen, denn sie haben hier noch einmal zu singen. Kommt! Ich führe euch zu Abd en Nom, damit ihr die Wohnung seht, die wir für Schamah bereitet haben. Dann gehen wir zum Grab des Lazarus, um zu photographieren.«
Er nahm Schamah bei der Hand und eilte mit ihr voran. Das Haus Abd en Noms lag in der Nähe des Grabes. Der Besitzer kam heraus, sich achtungsvoll zu verbeugen, mit ihm seine beiden Söhne, nach Thars Beschreibung bekanntlich »der größte Walfisch, den wir haben, und das schwerste Nilpferd, das es gibt«. Sie machten aber beide einen Zutrauen erweckenden Eindruck. Auch das Häuschen sah recht sauber und wohnlich aus. Es schien, als ob die Gäste hier eine zufriedenstellende Unterkunft finden würden. Und als wir das Innere betraten, sahen wir, daß diese Vermutung zur Wahrheit wurde. Denn die Einrichtung der beiden Räume, die es da für Schamah und ihre Mutter gab, ließ nach dortigen Verhältnissen nichts zu wünschen übrig. Sie waren außerdem mit all den Ästen, Zweigen und Blumen geschmückt, die für den »festlichen Wandelzug« bestimmt gewesen waren.
»Drum hatte ich solche Eile«, erklärte mir Thar verstohlen. »Das mußte alles nun sehr schnell hierher geschafft werden.«
»Und wo befinden sich jetzt alle die Helden?« fragte ich.
»Das sollst du gleich hören!«
Er ging bei diesen Worten nach dar Tür und gab einen Wink hinaus. Sofort erhob sich ein wenigstens fünfzig- bis sechzigstimmiges »Siegesgeheul«, das von wirklichen Löwen, Elefanten, Nilpferden und Walfischen gewiß nicht natürlicher und schrecklicher hätte zu Gehör gebracht werden können.
»Allah erbarme sich!« rief ich ihm zu. »Laß es genug sein! Halt auf!«
Er winkte wieder; da war es still. Aber sehen konnte man nicht, wo die Untiere steckten.
»Das war ausgemacht«, sagte er. »Einmal mußte ich sie brüllen lassen, nur ein allereinziges Mal! Jetzt haben sie ihren Willen gehabt und werden es nicht wieder tun.«
Wir wanderten nun zum Grab. Thar ging mit Schamah voran; deren Mutter aber bat, für diesmal bleiben zu dürfen; sie müsse sich, bevor es dunkel werde, die Zimmer wohnlich machen. Dieser Wunsch war ein so natürlicher, daß er sich von selbst verstand. Wir folgten also, ohne sie mitzunehmen, den beiden Kindern nach. Gerade als wir beim Grab eintrafen, kam Mustafa Bustani, unser Freund, heraus.
»Wie recht, daß auch ihr euch hier befindet!« sagte er. So gehen wir zusammen wieder über Kafr et Tur nach Haus, genauso wie gestern. Und auch du?« fragte er seinen Sohn. »Und wer ist dieses kleine, liebe Kind?«
Er bog sich zu Schamah nieder. Sie stand mit weit geöffneten, glänzenden Augen da. Ihr Gesichtchen strahlte vor Wonne. Sie hob die kleinen Arme, um von ihm emporgenommen zu werden, und jubelte laut:
»Mein Vater! Mein Vater!« Hierauf schlug sie die Händchen entzückt zusammen und fuhr fort: »Die Mutter hat es gesagt! Die Mutter hat es gesagt!«
»Welche Mutter? Was hat sie gesagt?« fragte Mustafa Bustani, der nicht ahnte, daß dieses Kind die gestern gefundene »neue Freundin« seines Sohnes war.
»Daß wir zum Grab des Lazarus gehen, hat Mutter gesagt«, antwortete Schamah, »und daß der Heiland dich dort vom Tod auferwecken werde, gerade so wie einst den Lazarus.«
»Mich – –?«
»Ja, dich, meinen Vater.«
Da wendete er sich an uns. »Sie hält mich für ihren Vater. Sonderbar! Wer ist das Kind?«
»Ich bin Schamah, die Verzeihung, und dort im Haus befindet sich die Mutter. Nimm mich doch auf den Arm wie immer und trage mich zu ihr!« bat das Mädchen, die Arme wieder zu ihm hebend.
Da entfärbte er sich. Er wurde leichenblaß, wich einige Schritte zurück und fragte, indem seine Stimme stockte:
»Schamah – – die Verzeihung – –! Wohl das kleine Mädchen von gestern?«
Diese Frage war an seinen Sohn gerichtet.
»Ja, sie ist es«, nickte dieser.
»Meine Ahnung – – –! Weißt du, wie ihr Vater heißt?«
Da entgegnete das kleine Mädchen an des Knaben Stelle:
»Mein Vater bist du doch! Du heißt Achmed Bustani. Kennst du mich nicht mehr? Da muß ich weinen! Nimm mich und trage mich zur Mutter!«
Was nun folgte, kann nicht beschrieben werden. Mustafa Bustani schrie laut auf und brach in die Knie zusammen. Er streckte die Arme nach dem Kind ans, zog es an sich, küßte es unaufhörlich und rief dabei:
»Schamah – – Schamah – – die Verzeihung! Wie hat er gesagt – als er mir im Traum erschien – –? Ich werde dir meine Verzeihung senden – – sie naht von Osten her – – schau täglich nach ihr aus! Das habe ich getan, und sie ist gekommen – sie ist nun da!« Da plötzlich sträubte sich Schamah gegen seine Liebkosungen. Sie hielt sich mit beiden Armen von ihm ab, schaute ihm prüfend in das Gesicht und sagte dann:
»Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr! Ich habe dich auch lieb; aber mein Vater bist du doch nicht.«
»Du hast recht. Ich bin der Bruder deines Vaters, mein liebes, liebes Herzenskind. Du darfst mich aber ganz so lieb haben, als ob ich dein Vater wäre!«
»Wenn du das willst, so tue ich es«, lächelte sie. »Nun aber trag mich zur Mutter!«
»Sag mir erst noch etwas!«
»Was?«
»Weißt du den Tag, an dem dein Vater gestorben ist?«
»Ja. Mutter wiederholt ihn so oft, daß man ihn gar nie vergessen kann. Es war der fünfzehnte Tag des Monats Adar, an dem er starb.«
Da sprang er auf. Sein Gesicht nahm einen gar nicht zu bestimmenden Ausdruck an. »Hört ihr es – – hört ihr es?« fragte er uns. »Der fünfzehnte Adar! Derselbe Tag, an dem mir träumte, daß er gestorben sei und mir Schamah, seine Verzeihung, senden werde. Allah! Wie wunderbar ist alles, was geschieht! Ich ehre dich! Ich preise dich! Ich bete dich an!«
»Zur Mutter, zur Mutter«, bat das Kind, über dessen Verständnis das, was es jetzt sah und hörte, zu weit hinausging.
»Ja, ich trage dich zur Mutter«, sagte er, indem er Schamah vom Boden aufhob und in seine Arme nahm. »Wo finde ich sie?«
»Bei Abd en Nom«, antwortete Thar, indem er sich anschickte, mitzugehen, von mir aber festgehalten wurde.
Sein Vater eilte mit vor Erregung schwankenden Schritten nach dem angegebenen Haus, in dessen Innern er verschwand. Der Knabe aber erklärte:
»Wenn ich nicht mitgehen darf, um zu hören, was gesprochen wird, so muß ich allein sein, um über das, was sich ereignet, nachzudenken. Vater hat recht: Es geschehen noch Wunder. Das allergrößte Wunder des heutigen Tages aber bin ich. Denn ich habe hinter seinem Rücken die Verschwörung mit dem Hammahr angezettelt und die Verzeihung gerade hierher an das Grab des Lazarus geleitet, ohne daß ich dabei gescheiter gewesen bin als alle anderen, dich, Effendi, und unsere Gattin mit eingeschlossen. Wartet hier auf mich! Sobald ich den Verstand beisammen habe, werde ich mich hören lassen.«
Er entfernte sich. Wir nahmen auf dem Gemäuer Platz und teilten uns unsere Gedanken mit – leise wie in einer Kirche. Wir waren ganz allein. Der Tag begann sich zu neigen. Ein reiner, heiliger Odem wehte von der Höhe des Ölbergs zu uns her.
Da klang leise und wie aus hoch über uns erhabenen Lütten das zweistimmige Lied von Bethanien, wo der Heiland zu den Geschwistern kommt, zum Grab hernieder. Die Knaben hatten auf Thars Anweisung das Gemäuer erstiegen und wiederholten, was sie am Teich Siloah gesungen hatten, das Lied von Christus, der Blinde sehend und Tote wieder lebend macht.
Als das Lied wie ein aus Christi Zeit herübergetragenes Gebet verklungen war, kehrte Thar zurück. Er hatte seine Gespielen nun verabschiedet und heimgeschickt. Und gleich darauf trat sein Vater wieder aus dem Haus. Seine Schwägerin und Schamah begleiteten ihn. Das Bibelwort: »Und ihre Angesichter glänzten«, war auf sie anzuwenden.
»Welch eine Stunde, welch eine heilige Stunde«, sagte er. »Und dazu dieses Lied! Wer hat das angeordnet?«
»Ich«, antwortete der Bub, und zeigte mit beiden Händen auf sich.
»Bist du es wirklich gewesen? Mir war es, als ob es ein Gruß von deiner Mutter sei –«
»Und auch meines Verstorbenen«, fiel da die Witwe ein, »der aber nicht tot, sondern lebend ist, und dessen letzter Wunsch nun in Erfüllung geht.«
»Und wenn es wirklich von diesen beiden käme, nicht aber von dir, mein Sohn«, fuhr Mustafa Bustani fort, »so hast du doch schon außerdem mehr als genug getan und dir unseren Dank verdient. Abd en Nom hat uns gesagt, wer der eigentliche Urheber des heutigen Zusammentreffens ist. Das Mitleid, das die Mutter dir in die junge Seele legte, hat Frucht und Segen gebracht, Schamah, die Verzeihung, wird bei uns wohnen und –«
»In unserem Haus? Mit ihrer Mutter?« fiel da der Bub schnell ein.
»Wie lang?«
»Für alle Zeit, so hoffe ich.«
Da tat der Knabe einen kräftigen Luftsprung, und rief aus:
»So muß ich schleunigst fort, um ihnen zu sagen, daß sie kommen!«
»Wem?«
»Unserem Habakek, dem Gehilfen, unserem Bem, dem Kaffeeneger, und unserer Köchin, seiner Frau.«
»Das hat noch Zeit, denn die Schwägerin bleibt heute noch hier bei Abd en Nom. Wir holen sie erst morgen ab, wenn alles vorbereitet ist, sie festlich zu empfangen.«
»Festlich empfangen!« jubelte Thar, indem er einen zweiten Luftsprung machte. »Dazu gehören meine Löwen und meine Elefanten! Erlaubst du mir, sie einzuladen?«
Der Vater zog ein ganz und gar nicht zustimmendes Gesicht, aber meine Frau winkte ihm bittend zu, und so antwortete er:
»So lade sie!«
»Auch die Nilpferde?«
»Ja.«
»Und die Walfische?«
»Auch sie. Sie sollen im Garten sitzen und bewirtet werden, aber ruhig sein. Dafür haben sie, bevor sie abends scheiden, das Lied von Bethanien zu singen.«
»Hamdulillah! Ich danke dir, mein lieber, guter Vater! Ich eile, es ihnen gleich zu sagen.«
»Warum denn gleich?« widersprach Mustafa Bustani und wollte ihn festhalten.
»Weil ich sie jetzt noch einholen kann. Sie sind ja soeben erst fort.«
Er riß sich los, schüttelte der kleinen Schamah noch schnell die Hand und sprang zu gleichen Beinen davon.
»Ich werde bei ihm wohnen?« fragte das Kind, indem es ihm bewundernd nachschaute.
»Ja, das wirst du«, antwortete die Mutter. »Ihr werdet immer beisammen sein.«
»Das will ich auch, und darüber freue ich mich, denn ich habe ihn lieb, und über solche Helden muß man wachen. Nun aber bin ich müde vom weiten Weg. Darf ich schlafen?«
Dieser Wunsch gab Veranlassung, uns von Mutter und Kind zu verabschieden. Dann stiegen wir drei anderen den schon bekannten Weg über Betphage nach Kafr et Tur hinauf und blieben, als wir den Johannisbrotstrauch erreichten, halten. Die Sonne stand soeben im Begriff, hinter dem Himmelsrand zu verschwinden. Mit ihren letzten Strahlen umarmte sie die heiligste der Städte, die es auf Erden gibt. Welchen Anblick Jerusalem während eines solchen Sonnenunterganges vom Ölberg aus bietet, muß man empfunden haben; es zu beschreiben, ist nicht möglich. Wir standen lange Zeit in diesen Blick versunken. Dann sagte Mustafa Bustani, indem er tief Atem holte:
»Noch schöner, noch tausendmal schöner als gestern zur selben Zeit! Es liegt eine Welt zwischen gestern und heute. Ich weiß, ihr verlangt nicht, daß ich jetzt, nach so einer Stunde, reden und berichten soll. Ihr erlaubt mir zu schweigen. Ich bitte euch, geht heim! Laßt mich hier, allein mit mir und allein mit dem, der mir heute verzieh, obgleich ich ihn einst verstieß!«
Wir gingen. Noch ehe wir die nächste Biegung des Weges erreichten, begannen die Abendglocken der Gottesstadt zu läuten. Ein Meer von heilig wallenden Tönen stieg zu uns auf und faßte uns, als ob es uns gen Himmel tragen wolle. Zurückschauend sahen wir, daß Mustafa Bustani betete – – ein Mohammedaner, beim Klang der Kirchenglocken! Kann ich mehr erzählen? Nein! –
*
Und der Paschasattel?
Ich erhielt ihn doch noch. Mustafa Bustani ermöglichte es, wenn auch nur unter Schwierigkeiten. In der Heimat ist ein solches Prunkstück zwar unbrauchbar, aber trotzdem halte ich ihn lieb und wert, da seine Erwerbung mit der denkwürdigen Fahrt von Jerusalem nach Hebron, wenn auch nur mittelbar, verknüpft ist.