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Phi-Phob, der Schutzgeist

Am östlichen Ufer des Pjamela, eines Armes des Irawadi, steht ein berühmter Banyanenbaum. Er hat weit über hundert größere und gegen ein halbes Tausend kleinere Stämme. Glänzende Lorbeer- und vielästige Myrtengewächse gedeihen neben breitblättrigen Pisangs und feinrispigen Bambusrohren in seinem Schatten. Behende Affen und bunte Eichhörnchen jagen sich an den Luftwurzeln oder an dem Schlingwerk des Rotangbaumes auf und ab, und die Prachtvögel Indiens nisten zu Tausenden unter dem weiten Laubdach.

Auch eine sehr gemischte menschliche Gesellschaft lagerte darunter. Da waren zwei Engländer, nämlich Mr. Phelps und Mr. Shower, ferner ein chinesischer Händler, namens Fi ein Lao-pung-khao und ein Lao-pung-dam, d. h. ein weißleibiger und ein schwarzleibiger Lao, zwei Kadun und endlich noch zwei hier geborene Pegu-Birmanen.

Fi, der Chinese, hatte zwei alte Säbel umgeschnallt, gab sich bei der Gesellschaft den Titel eines Tschung-fu, d. i. Oberstleutnant, und machte den Dolmetscher zwischen den Engländern und den Hinterindern. Trotz seiner Säbel war er eine große Memme.

Die Eingeborenen gingen barfuß und trugen nichts als dünne Röcke mit langen Ärmeln; die beiden Laos hatten gar nur das Languti, ein Stück Baumwollzeug, um die Hüften geschlungen, und bewaffnet waren sie alle mit im Lande gefertigten Katschinflinten.

Die Gesellschaft befand sich beim Mahl das nur aus gebackenen Fischen bestand. Dabei führte man ein Gespräch über einen anscheinend sehr fesselnden Gegenstand, denn jeder gab sich Mühe, so laut wie möglich zu schreien, und der chinesische Tschung-fu rasselte entsetzlich mit seinen beiden Schlepphiebern. Nur die Engländer schwiegen, denn Mr. Phelps hatte einen halben Fisch im Mund, und Mr. Shower versuchte vergeblich, einer unverschämten Gräte beizukommen, die ihm zu weit nach hinten geschlüpft war.

»Tin schat kwei tin, ti schat kwei ti – alles Unheil vom Himmel kehre zum Himmel zurück, und alles Unheil von der Erde kehre zur Erde zurück!« rief der Chinese. »Ich stamme von den Pat-phai, von den acht berühmten Stämmen und fürchte mich nicht! Wenn der Tschu-Kia-Tschin, der Priester, gesagt hat, daß die Mang-thras die böse Tat begangen haben, so kehre diese Tat zu ihnen zurück! Sie sollen ihre Strafe erhalten und ihren Raub wieder herausgeben.«

»Ja«, stimmte Lao-pung-khao, der weißbauchige Lao. bei. »Mein Phi-Phob sagt die Wahrheit. Er hat sich noch niemals geirrt. Die Mang-thras sind die Diebe. Sie sollen die Uhr herausgeben –«

»– und ihre Strafe erleiden, habe ich befohlen«, fiel der Chinese ein. »Wenn wir jetzt aufbrechen, sind wir in einer Stunde bei ihnen. Ich bin Yao-Tschang-Ti Schuldeneintreiber gewesen und weiß mit solchen Spitzbuben umzugehen. Takang, die Hölle, ist zu gut für sie. Ich werde ihnen einen Vorgeschmack von ihr geben. Sie sollen fürchterliche Prügel spüren!«

Er stand auf und schnitt sich von dem überall wuchernden Rotang einige Rohre zurecht, die er zu den Säbeln in den Gürtel steckte.

Die Engländer hatten nämlich gestern abend den Besuch einiger Eingeborener des Mang-thra-Stammes, die Früchte gegen Tabak einzutauschen wünschten, erhalten. Der Tauschhandel war zustande gekommen; aber als die Mang-thras fortgewesen waren, hatte Mr. Showers kostbare Uhr gefehlt, die nicht weniger als sechs verschiedene Zifferblätter hatte und nur alle vierzehn Tage aufgezogen zu werden brauchte. Alles Suchen war vergeblich gewesen, und so hatte man aus dem nächsten Pegu-Dorf einen Bonzen geholt, der mit dem Phi-Phob des weißbauchigen Lao reden sollte.

Ein jeder Hinterinder vom Stamm der Laos besitzt nämlich einen Phi-Phob, einen Haus- und Schutzgeist, den er auf Reisen bei sich trägt. Der Geist kann in jedem beliebigen Gegenstand wohnen und beantwortet jede Frage, die sein Schützling durch einen Bonzen oder Khru Geisterbanner an ihn richtet. Der Schutzgeist des Lao-pung-khao schien die Seele eines urweltlichen Sauriers zu sein, denn er bewohnte ein hohles Krokodilei, das der Weißleibige an einer Schnur um den Hals hängen hatte. Der Bonze hatte sich Bericht erstatten lassen, sich mit dem Ei für kurze Zeit entfernt und dann gegen Bezahlung eines halben Tikal Name der Geldeinheit in Siam erklärt, der Phi-Phob habe ihm mitgeteilt, daß die Mang-thras die Diebe seien. Besonders auf Antrieb des Chinesen war die Gesellschaft am Morgen aufgebrochen, die Spitzbuben zur Herausgabe ihres Raubes zu veranlassen. Die beiden Engländer lachten natürlich heimlich über diese Geistergeschichten, glaubten aber auch, daß die Uhr nur bei den Mang-thras zu finden sei, und waren also bereit gewesen, diese aufzusuchen.

Jetzt war das Mahl beendet. Mr. Phelps hatte den halben Fisch glücklich verschluckt und Mr. Shower die Gräte ebenso glücklich wieder ans Tageslicht gebracht. Man brach auf.

Voran schritt der Chinese als oberstleutnantlicher Tschung-fu. Ihm folgten die Engländer, und hinter ihnen trotteten die anderen im Gänsemarsch einher. Dies geschah infolge des üppigen Pflanzenwuchses, der das Gehen erschwerte.

Bald lag der Banyanenwald hinter ihnen. Nun wanderten sie unter schlanken Palmen, Tamarinden und mit Blüten überladenen Wollbäumen. Unter dem leichten Schirm der Papayas glänzten grell gefärbte Hibiskusblüten, und sogar die wilde bengalische Rose hatte sich hier angesiedelt. Da, wo der Boden weniger feucht war, blühten Nelkenbäume, dort Darahs genannt, und alle die riesigen, Lack und Gummi liefernden Dammararten streckten die Wipfel hoch in die Lüfte empor.

Eben hatte die Gesellschaft ein Bananendickicht durchquert, da kamen ihnen vier Männer entgegen. Der vorderste war von fast weißer Farbe und trug die Kleidung eines Hoei-hoei, die drei anderen waren Eingeborene. Hoei-hoei werden dort die Moslemin genannt, die sehr zahlreich sind und meist einen einträglichen Handel treiben. Kaum hatte der Chinese den Muselmann erblickt, so rief er ihm ein äußerst höfliches »Tsching tsching – guten Tag« entgegen. Dieser blieb stehen, blickte ihn verächtlich staunend an und antwortete:

»Du hier, Sse-pen-tse, Sohn des Zopfes? Gibt's denn keine Gegend, die vor dir sicher ist?«

Und sich an die Engländer wendend, deren Anzüge verrieten, welchem Volk sie angehörten, fuhr er englisch fort:

»Dieser Mensch war Steuereintreiber; weil er aber die Steuern für sich behielt, mußte er fliehen. Jetzt ist er überall und treibt alles, was nicht ehrlich ist. Wenn Ihr ihn als Dolmetscher und Führer angestellt habt, so nehmt Eure Taschen in acht! Vor seinen Fingern ist nichts sicher.«

Der »Oberstleutnant« wollte sich verteidigen, erhielt aber von dem Hoei einen Flintenstoß in die Seite und sprang infolgedessen bis hinter den letzten Pegu-Birmanen zurück.

Mr. Shower machte eine grüßende Handbewegung und sagte:

»Well, Sir, meine Uhr ist weg!«

»So! Wo ist sie hin?«

»Zu den Mang-thras, wie der Phi-Phob gesagt hat.«

»Bitte, erzählt!«

Mr. Shower berichtete. Der Hoei hörte aufmerksam zu und sagte dann, zu dem Chinesen gewendet:

»Ich komme soeben von den Mang-thras. Sie haben ihre Hütte dort hinter den Dhunatilbäumen. Ich hörte von ihnen, daß sie gestern bei euch gewesen seien, und bin überzeugt, daß sie euch bestohlen haben. Ich kehre wieder um und werde mit suchen. Wehe ihnen, wenn wir die Uhr finden!«

»Du hast recht, Kuo-Ngan-Exzellenz!« antwortete der ›frühere Steuereintreiber‹ erfreut. »Ich habe bereits die Stöcke geschnitten, mit denen ich den Ausspruch des Phi-Phob unterstützen werde.«

Er zeigte auf die Rotangstöcke, die er bei sich trug. Der Hoei lachte kurz und antwortete zustimmend:

»Das ist gut! Ich werde noch mehr als du dafür sorgen, daß du sie nicht umsonst bei dir trägst. Also vorwärts jetzt!«

Der nun verstärkte Zug setzte sich wieder in Bewegung, die drei Begleiter des Hoei voran. Dieser aber schritt als letzter hinter dem Chinesen.

Als der kleine Zug an der Dhunatilgruppe vorbei war, fiel der Boden fast senkrecht in einen tiefen Erdriß hinab, über den sich der von allerlei Schlingwerk umwucherte Stamm eines gewaltigen Gurdschunbaumes als natürliche Brücke gelegt hatte. Jenseits erhob ein wahrhaft riesiger Wudoilbaum seinen fiedernervigen Blätterschirm, worunter die armselige Hütte der Mang-thras stand. Die Bewohner saßen im Freien unter einem Vordach.

Die drei Begleiter des Hoei sprangen schnell wie Katzen über den liegenden Baumstamm hinüber. Die beiden würdigen Engländer und die dicken Laos folgten langsamer und vorsichtiger, obgleich der Stamm so stark war, daß recht gut mehrere Männer nebeneinander hergehen konnten. Die anderen zögerten mit dem Übergang, und zwar wegen eines scheinbar höflichen Streits zwischen dem Hoei und dem Chinesen. Der zweite wollte dem ersten den Vortritt lassen; dieser aber bestand darauf, der letzte zu sein. Er hatte jedenfalls seine Absicht dabei und beobachtete jede Bewegung des »Steuereintreibers« mit scharfem Auge.

Endlich waren sie alle drüben bei der Hütte, und nun teilte der Hoei den Bewohnern den Grund seiner Rückkehr, nämlich den Verdacht des Diebstahls, mit. Diesen Augenblick benutzte der Chinese, einen Gegenstand schnell auf das aus Bambusstengeln errichtete Vordach zu werfen. Er war überzeugt, daß es nicht bemerkt worden sei; der Muselmann aber hatte es doch gesehen.

Die Mang-thras versicherten, nichts von dem Diebstahl zu wissen. Der eine brachte einen ausgestopften Vogelbalg zum Vorschein und sagte:

»Wir sind unschuldig. Wir stehlen nicht, obgleich wir sehr arm sind. Hier ist mein Phi-Phob. Laßt ihn fragen, so wird er euch gleich sagen, wo der Dieb zu finden ist!«

Der Chinese wußte sich jetzt sicher und warf sich in die Brust. Die Rotangruten hervorziehend, rief er drohend:

»Ich bin Tschung-fu-tsu, der Herr der Oberstleutnants. Wir werden hier alles durchsuchen, und wenn wir den Dieb entdecken, so soll er Prügel bekommen, solange die Rotangs halten, und sodann noch zur besonderen Strafe den Phi-Phob auffressen müssen, durch den wir ihn entdecken werden!«

»Ist das dein Ernst, Tschin-ti-tschung-fu – erhabener Oberstleutnant?« fragte der Hoei.

»Glaubst du, daß ich scherze? Liegt nicht auch auf uns der Verdacht? Ich werde uns rechtfertigen, indem ich den Tseu, den Räuber, entdecke.«

»So mag es bei deiner hohen Bestimmung bleiben. Der Dieb erhält Hiebe, bis die Rotangs zerbrechen, und muß sodann den Phi-Phob auffressen, durch den er entdeckt wird.«

»Du hast recht. Ich hab's gesagt, und es bleibt dabei!«

Es begann nun die sorgfältige Durchsuchung der Hütte. So ärmlich wie sie, war auch der Hausrat. Einige alte Tongefäße neben einem dürftigen Feuerherd, auf dem noch die Kohlen halbverbrannten Holzes glimmten, ein zerbrochenes Schilfkörbchen zum Aufbewahren der Siribissen Aufgeschnittene Früchte, umschwärmt von Hunderten von Stechfliegen: das war alles, was der armselige Raum enthielt. An den Wänden lief ekelhaftes Gewürm umher. Der Hoei erblickte einen sehr ausgewachsenen, fetten Gecko Warzige Nacht-Eidechse, der faul und müde in einer Ecke klebte. Er nahm ihn weg und steckte ihn unbemerkt in die Tasche seines Kaftans.

Natürlich war die Uhr nicht zu finden. Der Chinese donnerte und wetterte, daß die Mang-thras zitterten. Er verlangte, daß einer nachdem anderen durchgepeitscht werden solle, bis der Dieb die Tat gestehe.

»Halt!« meinte da der Hoei. »Auch ich hab einen Phi-Phob, gar einen lebendigen; er hat mich noch niemals getäuscht und wird uns jetzt zeigen, wo sich die Uhr befindet. Kommt heraus! Aber wehe dann dem Dieb!«

Alle folgten ihm hinaus vor die Hütte. Er trat in die Nähe der einen Eckstrebe des Vordachs, auf das der Chinese die Uhr geworfen hatte, und zog den Gecko aus der Tasche.

»Hier ist mein Phi-Phob«, erklärte er. »Paßt auf, wie schnell er uns bedienen wird!«

Er tat, als ob er dem Tier einen leisen Befehl erteile und setzte es dann zur Erde nieder. Der Gecko ist ein nächtliches Tier und kann das Tageslicht nicht vertragen. Die Eidechse suchte also schleunigst an einen dunklen Ort zu gelangen und kletterte infolgedessen möglichst rasch an der Stange empor, um dort unter dem Dach Schutz zu suchen.

»Da hinauf geht der Phi-Phob!« rief der Hoei. »Also muß die Uhr sich da oben befinden. Schaut empor!«

Sie alle bemerkten ein kleines, gelbes Päckchen, das mit Hilfe einer Bambusstange herabgeholt wurde. Es war die Uhr, eingewickelt in eine jener kleinen Schärpen, die Mongolen und Chinesen so oft als Höflichkeitsgeschenk benutzen. Es war verraten, daß der »Oberstleutnant« selbst der Dieb sei.

Er leugnete anfangs, gestand aber endlich notgedrungen die Tat ein.

»Jetzt sollst du nun dein eigenes Urteil schmecken«, sagte der Hoei. »Du wirst meinen Phi-Phob verspeisen und dazu die Rotangs kosten, bis der Phi-Phob in deinem Großmaul verschwunden ist!«

»Yes!« lachte Mr. Phelps. »A very famous pleasure – ein prachtvolles Vergnügen!«

Der Dieb erhob laut schreiend Einsprache, aber vergebens. Einer der Mang-thras, erfreut, die ihnen gewordene Beleidigung rächen zu können, holte den Gecko herab und tötete ihn mit einem Messerhieb. Die Eidechse wurde auf die glühenden Kohlen gelegt, schwoll in dem eilig angefachten Feuer schnell an und zerplatzte. Nun wurde sie in Stücke zerlegt. Sechs Inder ergriffen den Chinesen und stießen ihn zu Boden. Dort festgehalten, mußte er sich ein Stück des gebratenen Phi-Phob nach dem anderen in den zeternden Mund schieben lassen. Bei jeder Weigerung seinerseits sausten seine eigenen Rotangs auf ihn nieder. Das Gesicht, das er zog, war unbeschreiblich.

Endlich war die Bestrafung vollzogen. Er sprang auf, rieb sich die Himmelsgegend, die jetzt bei ihm die gefühlvollste war, und rief:

»Tin-tschu-ti-tschu, yang-tschiu – Herr des Himmels, Herr der Erde, Herr des Wassers! Ich habe genug!«

»Noch lange nicht genug!« antwortete der Hoei. »Mach dich schleunigst von dannen, sonst beginnen wir von neuem!«

»Yes, yes!« nickte Mr. Shower vergnügt, »This execution is an extraordinary delight – dieser Strafvollzug ist ein ganz außerordentliches Vergnügen!«

»Nein, nein«, entgegnete der einstige Steuereintreiber. »Ich bin euer Führer und euer Dolmetscher. Ich bin der Tschung-fu. Was wollt ihr anfangen ohne mich?«

»Du wirst nicht gebraucht, Spitzbube«, antwortete der Hoei. »Ich selbst werde die Ing-ki-li Engländer bis zum Fluß führen und dann einen anderen Führer für sie auswählen. Jetzt fort mit dir, sonst schieße ich dich gar noch über den Haufen! Aber empfiehl dich höflich, Sohn des Himmels, wenn du nicht noch mehr Rotangs genießen willst!«

Er erhob sein Gewehr und legte es auf den Chinesen an. Dieser zuckte vor Schreck zusammen, machte seine tiefste Verneigung und rief:

»Tsching-leao – lebt wohl! I-lu-fu-sing – möge euch der Stern des Glücks auf eurer Reise begleiten!«

Dann eilte er zu gleichen Beinen von dannen, über den Gurdschunbaum zurück und war im nächsten Augenblick zwischen den Stämmen der Dhunatilgruppe verschwunden.

»Tien-pen-tse – o himmlischer Zopf!« sagte der weißbauchige Lao. »Da läuft er hin und hat den Phi-Phob im Leib! Möge es allen Dieben so ergehen wie ihm!«

»Yes!« lachte Mr. Shower, während er seine Uhr einsteckte.


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