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2. Der hungrige Wind

Joseph kam herein und bat uns, hinauszukommen und den Himmel zu betrachten. Wir folgten ihm, verwundert über dieses Verlangen. Der ›kleine Hirsch‹ stand draußen und blickte aufmerksam nach einem Wölkchen, das fast scheitelrecht über unsern Köpfen stand. Sonst aber war der Himmel vollständig rein und ungetrübt. Joseph sagte uns, daß der Indianer dieses Wölkchen für sehr gefährlich halte. Der ›kleine Hirsch‹ sprach nämlich ganz leidlich englisch und konnte sich also dem weißen Knaben verständlich machen. Will Salters zuckte die Achsel und sagte:

»Dieses Zigarrenwölkchen soll uns gefährlich sein? Pshaw

Da wendete der Indianer den Kopf zu ihm hin und sagte nur das eine Wort: »Iltschi.«

»Was bedeutet das?« fragte mich Will.

»Wind, Sturm!«

»Unsinn! Ein gefährlicher Wind, also eine Bö, kommt nur aus einem ›Loch‹, das heißt, wenn sich der ganze Himmel schwarz umzogen hat und sich in dieser schwarzen Decke ein rundes, helles Loch befindet. Hier aber ist es umgekehrt. Der Himmel ist außer dieser Stelle vollständig ungetrübt.«

»'Nta-a si-tsa iltschi,« sagte der Indianer.

Jetzt wurde ich doch aufmerksamer. Diese drei Worte bedeuten ›der hungrige Wind‹. Der Apatsche bezeichnet mit diesem Ausdruck einen Wirbelsturm. Ich fragte den jungen Mann, ob er einen solchen befürchte. Er antwortete:

»Nakate-n'yul iltschi.«

Das heißt ›der sehr hungrige Wind‹ und bedeutet gar eine Windhose. Wie kam der Apatsche zu dieser Vermutung? Ich konnte an dem Wölkchen wirklich nichts Verdächtiges bemerken; aber ich wußte auch, daß diese Kinder der Wildnis einen wunderbaren Instinkt für gewisse Naturereignisse besitzen.

»Unsinn!« meinte Salters zu mir. »Komm herein! Ich glaube gar, du fängst an, ein bedenkliches Gesicht zu machen.«

Da legte der Indianer den Finger an die Stirn und sagte zu ihm:

»To schi ta benesit!«

Diese Worte bedeuteten: »Ich bin nicht krank,« nämlich im Kopf. Salters verstand ihn, nahm ihm aber die Worte übel und trat wieder in die Hütte. Diese Gelegenheit benutzte ich, dem ›kleinen Hirsch‹ zu zeigen, daß ich ihm seine früheren Antworten nicht geglaubt hatte. Ich fragte ihn:

»Welcher Fuß meines jungen Freundes ist krank?«

»Sintsch-kah – der linke Fuß,« antwortete er.

»Warum aber hinkte mein Bruder mit dem rechten Fuß, als er dort aus den Sträuchern kam?«

Es glitt ein Lächeln der Verlegenheit über sein Gesicht, doch antwortete er schnell gefaßt:

»Mein tapferer Bruder hat sich geirrt.«

»Mein Auge ist scharf. Warum hinkt der ›kleine Hirsch‹ nur dann, wenn er gesehen wird? Warum ist sein Gang richtig, wenn er allein ist?«

Er blickte mich forschend an, ohne zu antworten. Darum fuhr ich fort:

»Mein junger Freund hat von mir gehört. Er weiß, daß ich die Fährte lese, daß mich kein Halm des Grases, kein Korn des Sandes zu täuschen vermag. Der ›kleine Hirsch‹ ist heute früh vom Berg herabgekommen und nach dem Fluß gegangen, ohne zu hinken. Ich habe seine Spur gesehen. Hat er auch jetzt den Mut, zu sagen, daß ich mich täusche?«

Er senkte den Blick zur Erde und schwieg.

»Warum sagt der ›Hirsch‹, daß er nach den heiligen Steinbrüchen mit seinen Füßen gehe?« fuhr ich fort. »Er ist von seinem Wigwam aus bis hierher geritten.«

»Uff!« antwortete er erstaunt. »Wie könntest du das wissen?«

»Ist nicht der größte Häuptling der Apatschen mein Lehrer gewesen? Meinst du, daß ich ihm die Schande mache, mich von einem jungen Apatschen, der noch kein Feuergewehr tragen darf, hintergehen zu lassen? Dein Tier ist ein Tschi-kayi-kle, ein Rotschimmel.«

»Uff, uff!« rief er zweimal als Ausdruck der höchsten Verwunderung.

»Willst du den Bruder Intschu tschunas belügen?« fragte ich vorwurfsvoll.

Da legte er die Hand auf das Herz und antwortete:

»Schi-itkli ho-tli, tschi-kayi-kle – – ich habe ein Pferd, einen Rotschimmel.«

»So ist es recht! Ich sage dir sogar, daß du heute früh bei Zeiten die ganze indianische Schule durchgeübt hast.«

»Mein weißer Bruder ist allwissend wie Manitou, der große Geist!« rief er betroffen.

»Nein. Du bist in gestrecktem Galopp geritten, mit einem Fuß im Sattel hängend und mit einem Arm am Halsriemen, deinen Körper an die eine Seite des Pferdes legend. Das tut man im Kampf, um sich vor den Geschossen des Feindes zu schützen, zur Friedenszeit aber nur, wenn man die volle Schule übt. Nur bei einem solchen Ritt ist es möglich, daß Mähnenhaare sich an Griff und Scheide des Messers verfitzen und, ausgerissen, hängen bleiben. Solches Mähnenhaar kann nur ein Rotschimmel haben.«

Er fuhr mit beiden Händen nach dem Gürtel, an dem das Messer in der Scheide lag. Daran hingen einige Haare. Ich sah trotz seiner indianischen Hautfärbung, daß er errötete, und fügte hinzu:

»Das Auge des ›kleinen Hirsches‹ ist hell, aber noch nicht geübt genug für solche Kleinigkeiten, an denen doch oftmals das Leben hängt. Mein junger Bruder ist hierher gekommen, um den Besitzer dieses Hauses zu sehen. Hat er eine Blutrache mit ihm?«

»Ich habe das Gelübde des Schweigens abgelegt,« antwortete er; »aber mein weißer Bruder ist der Freund des berühmtesten Apatschen. Ich will ihm etwas zeigen, was er mir heute noch zurückgeben wird. Er kann davon sprechen, denn meine Stunde ist gekommen.«

Er öffnete das Jagdhemd und zog ein wie ein Briefumschlag viereckig zusammengelegtes Leder hervor. Er gab es mir und schritt davon, nach dem Maisfeld zu, bei dem jetzt der Joseph stand. Ich sah noch, daß er diesen beim Arm ergriff und mit sich fortzog.

Auf den ersten Blick nahm ich wahr, daß ich eine Art Totem vor mir hatte, denn außen war ein indianisches Zeichen in Form einer brennenden Pfeife eingeritzt. Der Inhalt aber war ein indianischer Brief.

Ich schlug das Leder, das aus einem gegerbten Hirschfell geschnitten war, auseinander. Innen lag ein zweites Lederstück aus Büffelkalbfell, nur von den Haaren befreit, mit Kalk gebeizt und zu Pergament geglättet. Es war zweimal zusammengeschlagen. Als ich es auseinanderfaltete, sah ich eine Reihe von Figuren, in roter Farbe hervorgebracht, in der Zeichnung ganz ähnlich der berühmten Felseninschrift von Tsitszumovi in Arizona. Ich hatte eine Urkunde in Indianerschrift in den Händen, eine solche Seltenheit, daß ich gar nicht sogleich an das Entziffern dachte, sondern in die Hütte eilte, um Will Salters diesen Schatz zu zeigen. Er schüttelte den Kopf dazu und meinte verwundert:

»Das soll man lesen können?«

»Natürlich!«

»Nun, so lies du es! Schon wenn es sich um unsre gewöhnliche Schrift handelt, will ich mich lieber mit zwanzig Indsmen als mit drei Buchstaben herumschlagen. Ich bin niemals ein Held im Lesen gewesen; ich schreibe meine Briefe dem Empfänger gleich hier mit der Doppelbüchse in den Leib; das ist das Kürzeste. Die Feder zerbricht mir zwischen den Fingern, und die Tinte schmeckt zu schlecht. Nun erst diese Figuren zu entziffern, das ist ja fürchterlich. Man kann sie hier in der dunkeln Hütte, die nur zwei kleine Gucklöcher an Stelle der Fenster hat, nicht einmal erkennen.«

»So komm mit hinaus vor die Tür!«

»Na, mitgehen will ich wohl; das Lesen aber magst du allein besorgen.«

Wir gingen hinaus. Die Frau blieb zurück. Sie hatte auf dem Herd ein kleines Feuer angezündet, um einige Stückchen unsres Fleisches zu braten.

Ich richtete die Augen sofort auf die Figuren; Will Salters aber blickte gen Himmel. Er brummte bedenklich:

»Hm! Eigentümliche Wolke! Habe noch niemals so etwas gesehen. Was sagst du dazu?«

Dadurch aufmerksam gemacht, schaute ich empor. Das Wölkchen war nicht viel größer geworden, hatte aber ein ganz andres Aussehen bekommen. Vorher bläulichgrau, hatte es jetzt eine hellrote, durchsichtige Färbung, und es war, als ob von ihm aus Millionen und aber Millionen spinnenfadendünne, mattgoldene Fäden nach der ganzen Ausdehnung des Gesichtskreises hinuntergingen. Diese kaum sichtbaren Fäden zuckten nicht; sie waren gänzlich unbeweglich, wie fest angespannt.

»Nun?« fragte Will.

»Ich habe auch nie etwas Aehnliches gesehen.«

»Sollte dieser junge Mensch, der Indsman, recht behalten mit seinem Wirbelwind, uns alten, erfahrenen Savannenleuten gegenüber!«

»Bedenklich sieht es aus. Der Apatsche sprach gar von einer Windhose. Das wäre noch schlimmer.«

»Es mag sein, was es wolle, wir müssen es eben abwarten. Ich hoffe, du kannst dich in deiner Indianerschrift besser zurechtfinden, als da oben in dem unbegreiflichen Fadengewirr. Wie steht es?«

»Hm! Wollen sehen! Da vorn sehe ich eine Sonne gemalt mit nur aufwärtsgehenden Strahlen, also wohl die aufgehende Sonne. Dann kommen vier Reiter. Sie haben Hüte auf, sind also wahrscheinlich Weiße. Der vorderste hat etwas am Sattel hängen; kleine Säcke werden es wohl sein. Hinter diesen vieren kommen zwei andre. Sie haben Federn auf den unbedeckten Köpfen, dürften daher Indianerhäuptlinge vorstellen.«

»Na, das ist ja alles sehr einfach. Nennst du das etwa lesen?«

»Es ist der Anfang dazu. Man muß erst die Buchstaben kennen lernen, ehe man sie zu Wörtern zusammenzusetzen vermag. Es befinden sich nun noch einige kleinere Figuren hier, die über den größeren angebracht sind. Ueber dem einen Indianer sehe ich einen Büffel, der das Maul öffnet, aus dem einige kleine Striche hervorgehen. Aus dem Maul kann nur die Stimme hervorgehen; es ist also wohl ein brüllender Stier gemeint. Ueber dem Haupt des anderen Indsman ist eine Tabakspfeife, aus deren Kopf ähnliche Striche ausstrahlen; das wird Rauch bedeuten. Die Pfeife brennt also.«

»Du, ich fange an, lesen zu können!« sagte Will. »Da fällt mir ein, daß es zwei Apatschenhäuptlinge gab, zwei Brüder; der eine war der ›brüllende Büffel‹ und ist seit langem tot; der andere hieß die ›brennende Pfeife‹, weil er von friedlicher Gesinnung war und gern mit jedermann die Friedenspfeife rauchte. Er soll noch leben.«

»So sind vielleicht gar diese beiden gemeint! Wollen sehen! Ueber dem zweiten Weißen ist ein Auge gemalt mit einem hindurchgehenden Strich. Entweder hat er nur ein Auge, oder er ist auf dem einen blind, oder das Auge ist krank. Ah, das wäre ja der Name, den der ›kleine Hirsch‹ vorhin nannte: ›böses Auge‹! Das soll wohl heißen: boshaftes Auge. Und über dem dritten Weißen ist ein Beutel mit einer danach greifenden Hand. Sollte das Diebstahl bedeuten?«

»Ja, ja, gewiß!« sagte Salters schnell, »die stehlende Hand. Ich hab's, ich hab's! Jetzt weiß ich, wo ich diesen Rollins gesehen habe! Nämlich droben in den schwarzen Bergen; er hieß Haller, war ein Pferde- und Biberfallendieb und wurde die ›stehlende Hand‹ genannt.«

»Du wirst dich irren!«

»Nein, nein! Die ›stehlende Hand‹ und das ›böse Auge‹ waren Vettern oder gar Brüder und hielten zusammen. Sie sind gemeint. Weiter!«

»Da die aufgehende Sonne voransteht, so sind diese Reiter nach Sonnenaufgang, also nach Osten geritten. Hier auf der zweiten Zeile kommen dieselben Figuren wieder vor, und zwar öfters und in verschiedenen Gruppen. Erste Gruppe: die drei hinteren Weißen schießen auf den Voranreitenden. Zweite Gruppe: er liegt tot am Boden, und sie haben seine Säcke oder Beutel. Dritte Gruppe: die Indianer schießen auf die drei Weißen. Vierte Gruppe: zwei Weiße und ein Indianer, der ›brüllende Büffel‹, sind tot; die ›stehlende Hand‹ entflieht. Fünfte Gruppe: die ›brennende Pfeife‹ vergräbt die Beutel. Sechste Gruppe: die ›brennende Pfeife‹ hat den ›brüllenden Büffel‹ auf dem Pferd und reitet hinter der ›stehlenden Hand‹ her, verfolgt ihn wahrscheinlich. Siebente Gruppe: die ›brennende Pfeife‹ begräbt den ›brüllenden Büffel‹, die ›stehlende Hand‹ ist verschwunden. Nun folgen noch zwei kleine Bilder. Da stehen drei Bäume; unter dem mittleren stecken die Beutel unter der Erde. Und dann kommt ein großer, einzelner Baum, unter dem man den ›brüllenden Büffel‹ unter der Erde liegen sieht; sein Grab also. Jetzt löst sich das ganze, schaurige Erlebnis leicht – – –«

»Halt!« unterbrach mich Salters. »Laß einmal diese Angelegenheit auf sich beruhen und schau in die Höhe! Merkst du denn nicht, daß es ganz finster wird. Sieh dir doch um Gottes willen einmal den Himmel an!«

Ich folgte seiner Aufforderung und erschrak. Die erwähnten mattgoldenen Fäden waren verschwunden. An ihrer Stelle sah ich mehrere dunkle Striche, zu denen sie sich zusammengezogen hatten; sie verbanden die Wolke, die tief schwarz geworden war, mit dem nördlichen Himmel. Der übrige Teil des Himmels war hell und rein. An den Strichen wurde die Wolke wie an starken, straffen Seilen abwärts nach Norden gezogen. Des ging zusehends schnell. Je weiter sie zur Erde sank, desto deutlicher sah man von der letzteren aus eine erst durchsichtige und dann sich immer mehr verdunkelnde Masse emporsteigen, unten breit, oben schwächer werdend, sich drehend und mit dem oberen, hin und her flatternden Schwanz nach der Wolke haschend. Diese glitt immer schneller nieder, oben sich verbreiternd, nach unten nun ihrerseits einen Schwanz aussendend. Diese beiden Schwänze suchten und fanden sich. Als sie sich berührten, war es, als ob die Wolke auf die Erde herabgerissen werden solle; aber sie hielt sich in der Luft und bildete nun mit dem Wirbelwind einen sich rasend schnell um seine eigene Achse drehenden Doppeltrichter, dessen Spitzen sich in der Mitte vereinigt hatten, während seine beiden Grundflächen unten an der Erde und hoch oben in der Luft wohl einen Durchmesser von fünfzig Metern erreichten.

Da sich in der Umgebung nur niedriges Buschwerk befand, so konnten wir die beängstigende Naturerscheinung fast in ihrer ganzen Achsenhöhe beobachten. Sie wickelte und wirbelte sich sehr schnell vorwärts, grad auf uns zu. Und hier um uns gab es völlige Unbewegtheit der Luft und eine plötzlich eingetretene Schwüle, die uns den Schweiß aus allen Poren trieb.

»Der ›kleine Hirsch‹ hat recht gehabt,« sagte ich. »Es handelt sich um unser Leben. Schnell, Will, retten wir uns und die Frau!«

»Wie und wohin denn?« fragte er erschrocken.

»Auf unsere Pferde.«

»Wir wissen doch nicht, wohin wir uns wenden sollen!«

»So eine Windhose ist freilich unberechenbar in ihren Bewegungen, aber wir müssen eben unsre Richtung ändern, sobald sie die ihrige ändert. Vielleicht wird sie vom Fluß aufgehalten und kommt gar nicht herüber auf unsre Seite. Hole Rollins' Gaul hinter der Fenz hervor! Ich springe nach der Frau!«

Ich fand diese am Herd, ohne Ahnung der ihr drohenden Gefahr. Sie fiel fast in Ohnmacht, als ich ihr mitteilte, was draußen vorging. Ich faßte sie und trug sie eilig hinaus. Will kam eben mit dem Gaul an.

»Das Tier tut widerspenstig,« rief er. »Ich will mich darauf setzen; es ist nicht gesattelt, und die Lady würde beim ersten Schritt abgeworfen. Hebe sie auf meinen Fuchs! Schnell, schnell!«

Er sprang auf und trieb das alte Pferd im Galopp vorwärts.

»Können Sie reiten?« fragte ich die Frau.

»So nicht, wie es hier sein muß,« jammerte sie.

»So nehme ich Sie zu mir.«

Ich schwang mich auf den Fuchs, der zwei Personen eher tragen konnte als mein lahmer Brauner, zog die Zitternde zu mir herauf, so daß sie quer auf meinen Knieen lag, ergriff meinen Lahmen am Zügel und folgte dem voransprengenden Salters.

Das war alles so schnell geschehen, daß vom ersten Erblicken der Windhose bis jetzt nicht viel mehr als eine Minute vergangen war. Ich hatte es nicht bequem. Mit der Rechten mußte ich die Frau halten und mit der Linken den Fuchs leiten und auch den Braunen führen. Aber es ging. Als wir eine ziemlich bedeutende Strecke zurückgelegt hatten, rief ich Will zu, jetzt anzuhalten. Er tat es, und wir drehten uns um.

Die Trombe hatte fast den Fluß erreicht. Von Luft und Wolke war nichts mehr zu sehen. Letztere bildete ein finsteres Ungetüm, genau von der Gestalt einer Sand- oder Eieruhr von riesenhafter Größe, in der ausgerissene Sträucher, Steine und mächtige Rasenstücke mit ganzen Wagenladungen von Sand rundum gewirbelt wurden – ein entsetzliches Ungetüm.

Jetzt hatte sie das Ufer erreicht. Wird sie halten bleiben – sich am jenseitigen Ufer fortbewegen, auf- oder abwärts – vielleicht in sich zusammenfallen? So fragten wir uns. Der Mensch, der in ihren Bereich kam, war sicher verloren. Turmhoch auf und nieder und um sich selbst gewirbelt, mußte er ersticken, wenn er nicht vorher zur Erde geschmettert oder von den sich mit ihm drehenden Massen zerquetscht wurde.

Sie hielt an, als ob sie sich besinnen wolle. Der obere, nach abwärts sich verjüngende Trichter neigte sich herüber, die bisherige Richtung fortzusetzen. Er zerrte an dem untern Trichter; fast schien es, als ob er sich von ihm losreißen wolle. Da tat es einen fürchterlichen Krach; die dunkleren, dichteren Massen, Sand, Steine, Sträucher, Rasen verschwanden, und eine lange Wassersäule stieg auf, erst von zylindrisch gleichmäßiger Gestalt, dann sich in der Mitte einengend, die frühere Figur eines gleichmäßigen Doppelkegels annehmend. Aus der Windhose war eine Wasserhose geworden, die sich, wie zornig über den am Fluß erlittenen Aufenthalt, nun mit doppelter Schnelligkeit fortbewegte, augenblicklich die Blockhütte erfassend, gerade auf uns zu.

»Fort jetzt! Da rechts hinüber!« schrie ich auf.

Die Pferde waren nur schwer für den kurzen Augenblick zu halten gewesen. Sie erkannten die Gefahr und schossen fort, daß wir sie gar nicht anzutreiben brauchten. Den Blick auf die Wirbelhose gerichtet, sah ich zu meiner Freude, daß sie eine westliche Richtung nahm. Sie entfernte sich von uns. Wir konnten anhalten und waren gerettet, wenn sie nicht umkehrte.

Dieses letztere geschah nicht. Sie bewegte sich in ungeminderter Schnelligkeit weiter, nicht mehr durchsichtig wie am Wasser, sondern wieder dunkel und undurchsichtig. Sie hatte alles, worauf sie stieß, von der Erde auf- oder emporgerissen. Wir sahen, wie sie wuchs und an Mächtigkeit gewann. Alles, was sie nicht in sich zu halten vermochte, weit von sich schleudernd, verfolgte sie verderbenbringend ihren Weg, bis auf einmal von fern her ein donnerndes Getöse erscholl, unter dem die Erde erbebte – sie war verschwunden.

Aber fast in demselben Augenblick hatte sich, wir wußten nicht wie, der ganze Himmel schwarz umhüllt, und es stürzte ein Regen hernieder, dessen Tropfen größer als Erbsen waren.

»Unser Haus, unsere Wohnung! Was ist daraus geworden?« jammerte die Frau, jetzt zum erstenmal ihr Schweigen brechend.

Statt der Antwort setzten wir die Pferde in scharfen Trab und kehrten nach dem Blockhaus zurück. Nach dem Blockhaus? Nein; das war nicht mehr vorhanden. Es war auseinandergerissen, wie man ein dünnes, haltloses Strohgeflecht zerfetzt. Die schweren, mannesstarken Stämme und Klötze, aus denen es bestanden hatte, waren weit, weit mit fortgeschleppt und dann wieder zur Erde geschleudert worden. Von der Fenz keine Spur zu sehen, keine einzige Planke, keine Latte, keine Stange – alles durch die Lüfte mit davongewirbelt.

Die Frau sank vor Entsetzen in einen Zustand der Empfindungslosigkeit. Das war uns lieb. Ich dachte an ihren Mann, an ihren Sohn, an den jungen Indsman. Ich wußte, seit ich die Zeichnung besaß, wo die Genannten zu finden seien – dort an dem Berg, an dem die Windhose in sich zusammengestürzt war, weil er als ein unüberwindbares Hindernis in ihrem Weg gelegen hatte. Wie aber mochte sie geendet haben? Jedenfalls wie eine sterbende Gigantin, die im Todeskampf alles zermalmt, was in den Bereich ihrer Hände kommt. Es erwarteten uns dort vielleicht schreckliche Szenen, die wir ihr zu ersparen gedachten. Als sie aber hörte, daß wir ihren Sohn suchen wollten, erhielt sie ihre Tatkraft wieder. Es half weder Bitten noch Zürnen; wir durften sie nicht zurücklassen. Sie stieg auf und ritt mit.

So plötzlich, wie der Regen losgebrochen war, hellte es sich auch wieder auf. Die Wolken waren verschwunden, wie weggezaubert, und die Sonne lachte vom Himmel herab, als ob nichts geschehen sei.

Aber wie sah es auf dem Weg aus, den wir einzuschlagen hatten! Wohl über sechzig Meter breit war die Bahn, die die Trombe hinter sich gezeichnet hatte. Aller Pflanzenwuchs war wie wegrasiert. Sie hatte Löcher gerissen und wieder mit Trümmern gefüllt. Und weit rechts und links über die Bahn hinaus lagen die Blöcke, Steine, Sträucher und sonstigen Massen, die sie von sich geschleudert hatte.

Und nun gar am Berg! Bereits von weitem erblickten wir die Verwüstung. Der Strauchwuchs war aus der Erde gerissen, emporgewirbelt, in unentwirrbare Knäuel zusammengedrückt und rechts und links hinweggeschleudert worden. Die Windhose hatte sich eine weite Strecke längs des Hügels hin einen Ausweg gesucht und im Grimm darüber, ihn nicht finden zu können, alles Leben in Tod verwandelt. Die nackt gelegten Felsen hatten das Aussehen tief eingehauener Steinbrüche. Die Platanen, über die ich mich im Vorüberreiten so gefreut hatte, waren kaum mehr zu erkennen. Mannsstarke Stämme lagen da, samt den Wurzeln aus dem Boden gerissen; Aeste von der Stärke eines Kindes waren wie Taue zusammengedreht worden. Die größte der Platanen hatte alle ihre Hauptäste eingebüßt. Sie bot mit ihren tiefen und langgeschlitzten Rißwunden einen bejammernswerten Anblick. Wo aber waren – – ah, da drüben stand ein indianisch gesatteltes Pferd, ein Rotschimmel, an einem gewaltigen, chaotisch verfitzten Gesträucherballen, an dessen Blättern es lüstern knabberte. Das war das Pferd des ›kleinen Hirsch‹.

Wir ritten hin, und siehe da: Eine mächtige Platane war ausgerissen worden; im Umstürzen hatte sie mit den zähen, unzerreißbaren Wurzeln den ihr bisher gehörigen Grund und Boden emporgewuchtet. Unter diesem ungeheuren Wurzelballen gähnte ein tiefes, höhlenartig nach innen verlaufendes Loch. Und da saßen der blonde Joseph und der junge Apatsche, von den Wurzeln wie von einem für den Regen undurchdringlichen Dach beschirmt. Sie lachten uns vergnügt entgegen. Die Mutter stieg in Eile hinab, den Sohn an ihr Herz zu drücken. Der Apatsche aber sprang herauf und fragte:

»Glauben nun meine weißen Brüder, daß ich das Anzeichen des ›sehr hungrigen Windes‹ kenne?«

»Wir glauben es,« antwortete ich. »Wie aber habt ihr euch gerettet?«

»Der ›kleine Hirsch‹ hatte sein Pferd tief im Gebüsch versteckt. Er holte es und setzte sich mit dem blauäugigen Bleichgesicht darauf, um dem Wind zu entfliehen. Als dieser sich gesättigt hatte, ritt Ischarshiütuha hierher und fand, was er mit dem kleinen Bleichgesicht seit drei Tagen gesucht hatte.«

»Du bist mit Joseph heimlich zusammengekommen?«

»Ja. Er ist der Sohn des Mannes mit den Beuteln, der hier ermordet wurde. Komm und sieh, wo die ›brennende Pfeife‹ die Nuggets vergraben hatte!«

Er führte uns an die andere Seite des Wurzelballens. Dort war in der Nähe des Stammes die Erde auseinandergeborsten, und wir erblickten zwei vom Moder weißgrau gewordene Ledersäckchen, die sich bei näherer Besichtigung als mit Goldstaub und Goldkörnern gefüllt erwiesen. Joseph wußte bereits alles. Als nun seine Mutter erfuhr, was ich schon erraten hatte, die Ermordung ihres ersten Mannes, wollte sie vor Jammer in die Knie brechen. Einen Trost bot freilich der unerwartete Besitz des wertvollen Metalls, doch war es ihr fast unmöglich, an ihn zu glauben. Auf ihre Fragen erzählte der Indianer:

»Der ›brüllende Stier‹ war mein Vater. Er machte sich mit der ›brennenden Pfeife‹, seinem Bruder, auf, um den großen Vater der Bleichgesichter Präsident der Vereinigten Staaten. zu besuchen und ihm die Wünsche der Apatschen mitzuteilen. Die beiden Häuptlinge ritten nach Osten. Sie kamen dazu, wie drei Bleichgesichter einen Weißen ermordeten, weil er Gold gefunden hatte. Zwei von den Mördern waren das ›böse Auge‹ und die ›stehlende Hand‹; den dritten kannten sie nicht. Sie straften den Mord und töteten das ›böse Auge‹ und den dritten. Die ›stehlende Hand‹ erschoß meinen Vater und entkam. Die ›brennende Pfeife‹ folgte ihm, nachdem sie das Gold vergraben und die Leiche des ›brüllenden Büffel‹ zu sich aufs Pferd genommen hatte, konnte ihn aber nicht erreichen. ›Brennende Pfeife‹ begrub den Bruder da, wo ich ihn in zwei Tagen finden werde, und ritt allein nach Washington. Der Bruder mußte gerächt werden; ich mußte ihn rächen, denn ich bin sein Sohn. Aber es verging eine lange Zeit, weil ich noch klein war. Dann aber machte ich mich auf, um mir den Skalp des Mörders zu holen, denn dann bin ich ein Krieger und darf ein Feuerrohr tragen. Der Mörder wohnte in der Hütte des Ermordeten; er hatte dessen Weib zu seiner Squaw gemacht; dadurch wurde die Hütte sein Eigentum, und er konnte nach dem Schatz suchen.«

Als die Frau diese Eröffnung vernahm, stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus und fiel in Ohnmacht. Ihr zweiter Mann war der Mörder des ersten!

»Nun sollt ihr die ›stehlende Hand‹ sehen,« sagte der Apatsche. »Folgt mir!«

Joseph blieb bei seiner besinnungslosen Mutter zurück. Salters und ich folgten dem Indianer zu der großen Platane. Dort lag Rollins an der Erde unter einem der wohl drei Fuß im Durchmesser haltenden Hauptäste, der auf ihn gefallen war und ihm die Beine bis herauf an den Leib zermalmt hatte.

»Hier liegt er,« sagte der Apatsche. »Ich wollte mir seinen Skalp holen; aber der große Geist hat ihn gerichtet. Ich nehme nur den Skalp eines Mannes, den ich besiegt habe. – Diesen hier hat der Zorn des gerechten Manitou erschlagen, an demselben Ort, wo er den Mord beging. Verstehst du nun die Schrift, die ich dir zu lesen gab?«

»Vollständig,« antwortete ich.

»›Brennende Pfeife‹ kann nicht schreiben. Er hat die Schrift von dem großen Häuptling Intschu tschuna machen lassen, dem er alles erzählte. Du bist der Bruder dieses berühmten Kriegers, und darum will ich dir die Schrift schenken. Siehe, der Elende öffnet die Augen. Vielleicht kannst du noch mit ihm sprechen. Ich aber gehe; er ist der Mörder meines Vaters; ich hätte ihn getötet, aber sein Wimmern mag ich nicht hören. Der rote Mann hat auch ein Herz, gerade wie das weiße Bleichgesicht; er will schnell strafen, aber nicht langsam martern.«

Er kehrte zu Joseph und dessen Mutter zurück. Wir aber hatten noch eine schlimme Viertelstunde zu überstehen, die Sterbeminuten des Mörders. Das Bewußtsein kehrte ihm zurück; er fühlte, daß der Tod ihm nahe sei, und gestand alles. Zwar fehlte ihm die Kraft zur zusammenhängenden Rede, aber er konnte unsere Fragen doch mit Ja oder Nein beantworten. So erfuhren wir, was wir uns eigentlich selbst schon ergänzen konnten.

Er hatte bemerkt, daß »brennende Pfeife« bei seiner Verfolgung die Nuggets nicht bei sich führte, sie also vergraben hatte. Er führte den Indianer irre und kehrte nach dem Schauplatz des Ueberfalls zurück. Dort machte er unter vieler Mühe ein Loch für die Leichen, damit der Mord ein Geheimnis bleibe. Einige Tage später schoß er auch noch den Bruder des Ermordeten nieder, um sich bei der Frau als willkommener Beschützer einführen zu können. Dann konnte er mit aller Bequemlichkeit nach dem Golde suchen. Es gelang alles, nur die Hauptsache nicht; er konnte die Nuggets nicht finden. Der Durst nach dem Gold und die Qualen seines Gewissens brachten ihn dem Wahnsinn nahe. Er litt keinen Fremden, damit nicht durch irgend einen Zufall etwas entdeckt werde. So waren Will und ich abgewiesen worden, und so hatte er auch den ›kleinen Hirsch‹ fortgejagt, der sich lahm stellte, um unter diesem Vorwand bei ihm Eintritt zu erhalten.

Gott richtete ihn nach seiner Allgerechtigkeit. Gerade jetzt lag der Mörder auf der Stelle im Sterben, unter der die Gebeine der von ihm Verscharrten ruhten, und noch in seinen letzten Augenblicken mußte er von uns erfahren, daß das so lange vergebens gesuchte Gold gefunden worden sei und in die Hände des von ihm gehaßten Knaben komme.

Und doch verfuhr der Barmherzige noch gnädig mit ihm: die zermalmten Glieder verursachten ihm keine Schmerzen; er schlief ein, ohne einen Seufzer auszustoßen.

Wir meldeten seinem Weibe das Geschehene. Sie mochte ihn nicht sehen und tat recht daran. Wir zwei haben ihm das Grab gemacht und ein Vaterunser gebetet.

Der ›kleine Hirsch‹ ritt bald von dannen. Er ließ sich nicht halten. Und als die schwer geprüfte Frau ihm einen Teil des Goldes anbot, sagte er stolz:

»Behalte deinen Staub! Der Apatsche weiß, wo Gold in Menge zu finden ist, aber er sagt es keinem Menschen und verachtet es. Der große Geist hat den Menschen erschaffen, nicht daß er reich, sondern daß er gut werde. Möge er dir von nun an soviel Glück geben, wie du bisher Leid erfahren hast!«

Er stieg auf und ritt von dannen.

Am andern Vormittag verließen auch wir die Gegend, Joseph und seine Mutter mit uns nehmend. Der alte Gaul trug das Gold und das übrige wenige Eigentum von Mutter und Sohn, der Fuchs die Lady und mein Brauner den Knaben; Will und ich schritten nebenher. Im nächsten Settlement, wo Mutter und Sohn eine bessere Reisegelegenheit abwarten konnten, nahmen wir Abschied von ihnen, denen die Windhose so schlimme Aufklärung, dafür aber auch die Mittel zu einem besseren Dasein gebracht hatte. – –


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