Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dem Wagen, der vor dem Hause des Juweliers Thieme hielt, entstieg leichten Fußes ein hochgewachsener Mann. Der helle Schein der Schaufenster beleuchtete männlich-schöne, scharf geschnittene Züge; die fein gebogene Nase und der sorgfältig gepflegte schwarze Spitzbart ließen in ihm einen Franzosen oder Italiener vermuten. Während er die Ladenschwelle überschritt, rief er seinem Diener zu: »Marc, du fährst zurück zum Hotel und wartest dort meine Heimkehr ab!«
»Gewiß, Herr Graf!« entgegnete Marc Letrier und wandte sich alsdann mit vergnügtem Lächeln an den Kutscher: »Mir soll's recht sein! Da kann ich einmal die Stelle des gnädigen Herrn einnehmen.«
Er schwang sich in das Innere des Wagens und wollte sich soeben bequem auf dem Rücksitz niederlassen, als er zu seinem Erstaunen bemerkte, daß ihm schon jemand von der anderen Seite zuvorgekommen war.
»Was fällt Ihnen denn ein?« fuhr er den Eindringling an. »Scheren Sie sich augenblicklich aus dem Wagen, sonst werde ich Ihnen den Weg zeigen!«
»Ah!«
Nur dieser eine Laut ließ sich als Antwort vernehmen; er klang sonderbar scharf und fauchend, grad als ob eine wilde Katze ihre geschmeidigen Glieder zum Sprung rüste. Marc mußte diesen drohenden Ton kennen, denn er wich in großer Bestürzung vom Wagenschlag zurück.
»Alle guten Geister! Seid Ihr's wirklich ...?«
Eine seltsame Beklemmung ließ ihn stocken.
»An Bord mit dir! Stoß ab, Marc Letrier!« zischte es kurz und gebieterisch.
Im nächsten Augenblick saß Marc auf dem Bock neben dem Kutscher. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Drinnen hatte sich der Fremde in die Kissen zurückgelehnt und verhielt sich schweigend, bis das Hotel erreicht war, in dem der Vicomte François de Brétigny seinen Aufenthalt genommen hatte. Ohne das Oeffnen des Wagens abzuwarten, sprang der Unbekannte zur Erde nieder, warf dem Diener des Grafen ein barsches »Herauf!« zu und trat in den Vorraum des Hotels, wo ihm ein Kellner entgegeneilte.
»Ist die Wohnung, die ich vorhin bestellte, instand?«
»Jawohl, gnädiger Herr! Ich bitte um die Erlaubnis, Sie führen zu dürfen.«
Oben angekommen bestellte sich der Fremde ein reichhaltiges Abendessen und fügte hinzu, daß Marc ihn bedienen werde.
Dieser hatte mit Verblüffung wahrgenommen, daß sich die Gemächer des Eindringlings neben denjenigen seines Herrn befanden und stand kleinlaut in der Nähe, bis ihn ein Wink heranrief. Während der Kellner sich entfernte, warf der geheimnisvolle Gast den Mantel ab und stellte sich mit verschränkten Armen vor Marc Letrier hin.
»Nun?«
Marc sah scheu in die herrisch flammenden Augen des anderen. Es war ein eigenartiges Paar, das sich hier gegenüberstand. Beide nur von Mittelgröße. Der Fremde schlank und geschmeidig, lebhaft in seinen Bewegungen, von gesunder und dennoch zarter Gesichtsfarbe, dabei völlig bartlos; Marc hingegen breiter, stämmiger, in seinen Gebärden bedächtiger, mit sonnenverbranntem Gesicht, kurzgehaltenem, dichtem Backenbart und ausrasiertem Kinn; sein Blick aber war flackernd und unruhig.
»Wie gefällt es dir an Land?«
Marc Letrier zuckte die Achsel. Er wußte nicht, welche Absicht hinter dieser Frage lag.
»Du konntest doch vorhin sprechen, als du den gnädigen Herrn spielen wolltest!«
»Mademoiselle Clairon, ich bin ...«
Eine gebieterische Handbewegung schnitt ihm die Rede ab.
»Mademoiselle Clairon ist zur See oder sonst irgendwo. Ich bin der Chevalier de Saccard, merke dir das! – Wie befindet sich dein Herr Vicomte?«
»Ich danke, der gnädige Herr sind wohlauf.«
»Das läßt sich denken! Der Herr Kapitän liegt ganz prächtig vor Anker, während die Mannschaft auf hoher Fahrt sich abarbeitet, daß die Rippen krachen. Ich werde ihn einmal zwischen die Taue nehmen, daß er die Kielmuscheln zu kosten bekommt. Jetzt will ich essen!«
Wortlos schlich Letrier zur Tür hinaus und bediente den Chevalier mit dem zuvorkommendsten Eifer. –
Indessen kehrte der Vicomte zurück; er fand Marc nicht in seiner Wohnung und zog die Glocke. Erst nach mehrmaligem Läuten erschien der Gerufene; er hatte ein gefülltes Auftragbrett in der Hand und sah sehr beschäftigt und verlegen aus.
»Marc, in neuerer Zeit vernachlässigst du mich ganz unverantwortlich! Wenn du so fortfährst, werden sich unsere Wege trennen müssen.«
Letrier setzte seine Last ab und trocknete sich den Schweiß von Stirn und Wangen:
»Herr Vicomte, ich habe nichts dagegen, gar nichts, wenn Sie mir den Abschied geben wollen. Denn wie die Sachen gegenwärtig hier stehen, ist ein verteufelt widriger Wind zu erwarten. Ich konnte nicht kommen, weil ich treppauf und treppab zu segeln habe wie ein Ebenholzschuner, hinter dem die englischen Teerjacken her sind!«
»Das war nicht notwendig, Marc. Du weißt ja, daß ich zu so später Stunde nur eine Wenigkeit zu essen pflege. Zieh mir die Stiefel aus und gib den Hausrock her!«
»Entschuldigung, gnädiger Herr, dazu hab' ich keine Zeit.«
»Keine Zeit?« staunte Brétigny. »Mensch, du bist wohl nicht recht bei Sinnen!«
»Was meine Sinne anbelangt, Herr Vicomte, so sind sie alle ganz prächtig unter Segel, obgleich es gar kein Wunder wäre, wenn mir der eine oder der andere über Bord gegangen wäre. Ihr Abendbrot, gnädiger Herr, hat mich nicht ermüdet. Aber ich habe noch einen andern zu bedienen!«
»Einen andern? Du, bedienen? Es wird mir wirklich Angst um deinen Verstand.«
»Mein Verstand ist gut, gnädiger Herr! Um ihn wird mir nicht angst, sondern um Sie! Denn der andre, oder vielmehr die andre ...«
Er wurde unterbrochen; eine Klingel ertönte.
»Da haben Sie es, Herr Vicomte! Sie klingelt, ich muß fort!«
Er ergriff das Auftragbrett und wollte eiligst das Zimmer verlassen. Brétigny hielt ihn zurück.
»Ja, was soll denn das heißen? Es wird doch nicht ...?«
»Jawohl ... ach so, ich habe es Ihnen noch gar nicht gesagt, daß sie da ist! Die ...«
Wieder wurde er unterbrochen.
»Marc!« ertönte eine helle, scharfe Stimme aus einer nahen, auf dem Flur geöffneten Tür.
Brétigny trat bei ihrem Klang erschreckt mehrere Schritte zurück.
»Bei allen Teufeln!« rief er erblassend. »Das ist ja ... oder trügen mich meine Sinne ... das ist keine andre als Clairon!«
»Freilich ist es die Miß Admiral, gnä...«
Er konnte nicht weiter sprechen. Ein gewaltiger Faustschlag schleuderte ihn beiseite.
»So, das ist für die Miß Admiral, wenn du dir den Chevalier de Saccard nicht merken magst!« rief es zornig. »Scher dich hinüber an deine Arbeit! Oder soll ich mit dem Essen vielleicht warten, bis es dir gefällig ist?«
Der Diener ließ die Scherben des zerbrochenen Geschirrs liegen und verschwand durch die Tür. Der Fremde stand mit einem zweideutigen Lächeln vor dem Vicomte.
»Darf der Chevalier de Saccard es wagen, den Herrn de Brétigny zum Abendessen einzuladen?«
»Clairon! Ist es möglich, dich hier zu sehen! Ich war im Begriff, an ... ich dachte ... ich glaubte, du wärst auf ... ich ... ich ...«
»Schon gut für jetzt, Herr Vicomte! Ich sehe, daß Ihnen die Freude über meine wohlgelungene Ueberraschung die Sprache raubt. Kommen Sie auf mein Zimmer, wo wir Gelegenheit finden werden, Ihrer verlorenen Fassung wieder Herr zu werden!«
Mit einer gebieterischen Geste deutete er nach der Tür. Brétigny gehorchte der Weisung und trat ins Nebenzimmer, wo Marc eifrig beschäftigt war, das Versäumte nachzuholen. Der Fremde überflog die Tafel mit einem raschen Blick.
»Du kannst jetzt gehen, Marc! Ich werde läuten, wenn ich deiner bedarf.«
Letrier entfernte sich und die beiden Männer nahmen einander gegenüber Platz.
»Essen Sie, Vicomte,« meinte der Chevalier. »Ihre Nerven bedürfen der Stärkung!«
Dem Strahl, der aus dem dunklen Auge zuckte, war nicht zu widerstehen. Ohne ein Wort der Erwiderung griff Brétigny nach dem Besteck; es trat eine lange Pause ein, in der nur das Klirren der Teller und das Geräusch von Messer und Gabel sich vernehmen ließ. Es war, als sei der Vicomte vollständig seiner Sprache beraubt: er hob das Auge nicht vom Teller und vermied es, dem Blick seines Gegenübers zu begegnen. Endlich warf der Chevalier sein Mundtuch von sich und lehnte sich behaglich in den weiten Polstern des Sessels zurecht. Brétigny folgte diesem Beispiel und ermannte sich zu einer Frage.
»Clairon, was soll deine Anwesenheit hier?«
»Nicht mehr und nicht weniger als die deinige.«
»Du bist Segelmeister der ›l'Horrible‹. Du gehörst auf das Schiff!«
»Du bist Kapitän der ›l'Horrible‹ und gehörst auf ihre Planken!«
»Ich übergab dir seine Leitung, weil ich in Hamburg zu tun hatte, wie du weißt.«
»Ich übernahm diese Leitung, weil ich nicht glaubte, daß du deine Reise zu einer Vergnügungsfahrt ausdehnen würdest. Dazu fehlt dir meine Erlaubnis.«
»Es war keine Vergnügungsfahrt, sage ich dir; im Gegenteil, ein verteufelt schweres Stück, den Bergelohn für die Brigg, die wir ... gerettet ... hatten, aus der Versicherungsgesellschaft herauszuholen. Und dennoch halte ich es für den schönsten Streich meines Lebens, daß wir erst alle diese verdammten christlichen Seemannsausdruck für die Besatzung der Kauffahrteischiffe. Seefahrer über die Klinge springen ließen und dann das gekaperte und ausgeplünderte Schiff als herrenlos aufgefundenes Wrack nach Bahia lotsten, während ich zuletzt in Hamburg von den geschädigten Reedern für diese ... Mühewaltung ... noch bezahlt wurde!«
»Schade nur, daß du die schönen Gelder, die du für unser aller Arbeit in Hamburg eingeheimst hast, im Innern des Landes in der unzweideutigsten Gesellschaft verschwendetest. Du sitzest auf dem Trocknen, mein Lieber, ich weiß es gar wohl. Dein wirklich hübsch gestutzter und sorgsam gepflegter Bart mag dir bei deinen kostspieligen Abenteuern erfolgreich geholfen haben. Uebrigens war es eine Keckheit, dein Aeußeres so wenig zu verändern, denn wie leicht hättest du bei deinen Landfahrten als ›Kapitän Kaiman‹ erkannt werden können!«
»Laß den Spott! Ich habe mich selbstverständlich nicht der gefahrvollen Reise nach der alten Welt ausgesetzt, um gleich wieder von Hamburg zurückzudampfen. Auch wußte ich ja die ›l'Horrible‹ in sicheren Händen.«
»Nun, ich bin jetzt hier, um dir zu beweisen, daß unser gutes Schiff sich bei mir nicht in sicheren Händen befand.«
»Wieso?« fragte Brétigny mit schnell erhobenem Haupt.
»Du schriebst mir von Hamburg aus, ich solle die Schecks an deine gegenwärtige Anschrift senden?«
»Allerdings!«
»Den einen erhieltest du?«
»Der folgende blieb aus?«
»So ist's! Ich befinde mich dadurch in großer Verlegenheit.«
»Das ist begreiflich, bei dem verschwenderischen Lebenswandel, den du hier führst!«
»Wie willst du ...?«
Der Chevalier de Saccard lachte geringschätzig:
»Hast du jemals etwas getan, ohne daß ich Kenntnis davon erhielt? – Du wirst dich jetzt einschränken müssen, um nicht zu verhungern!«
»Wie meinst du das?«
»Ganz so, wie ich es sage. Es ist der Beleg zu meiner Behauptung, daß die ›l'Horrible‹ sich in schlechten Händen befand.«
»Du sprichst in Rätseln!« rief Brétigny erbleichend. »Weib! Was ist geschehen?«
»Wir sind gekapert.«
Sie wurden so ruhig, so gleichmütig ausgesprochen, diese drei Worte, aber sie brachten eine schreckliche Wirkung auf den Vicomte hervor. Wie von Federn getrieben, schnellte er von seinem Sitz in die Höhe; das Blut wich noch mehr aus seinen Wangen, die Augen drohten aus ihren Höhlen hervorzutreten, und nur silbenweise wiederholte er langsam und tonlos:
»Wir ... sind ... ge ... ka ... pert?!«
»Gekapert, ja! Und alles ist fort, alles! Kein Nagel, kein armseliger Span von unserer prächtigen ›l'Horrible‹ ist uns gerettet worden. Und niemand blieb übrig, um dir die Nachricht zu bringen, als nur ich allein! Jetzt weißt du, warum das Geld ausblieb.«
Brétigny sank kraftlos auf seinen Sitz zurück und lag einige Minuten bewegungslos. Dann griff er mit zitternder Hand nach dem Glas, stürzte seinen Inhalt hinunter, füllte es wieder und leerte es zum zweitenmal auf einen Zug.
»Es ist unmöglich, was du sagst, es muß unmöglich sein!«
»Glaubst du, ich wäre sonst hier? Glaubst du, ich möchte die Unsrigen verlassen, nur um dich hier in deinen schönen Abenteuern zu stören? Pah!«
Brétigny schien die Gebärde der Verachtung, die das letzte Wort begleitete, nicht zu bemerken und forderte begierig: »Erzähle! Ich muß alles wissen, alles! Sogleich!«
»Gern, mein Angebeteter! Meine unendliche Liebe zu dir hindert mich, dir eine so beglückende Nachricht auch nur eine Minute länger vorzuenthalten. Also höre: ich hatte besprochenermaßen in Rio mit einem Scheck zärtlich für dich gesorgt. Das Schiff war neu kalfatert, der Raum auf Massenquartier eingerichtet, und ich stach in See, um auf Ascension zuzuhalten. Dort trafen wir den ›Colombo‹ und nahmen einige hundert Mann Ebenholz, die er an der Goldküste gepreßt hatte, an Bord. Gelang es uns, den Engländern zu entkommen, so mußte ich auf den Antillen ein glänzendes Geschäft machen.«
»Bekamst du die Ladung wie immer auf Kredit?«
»Nein. Der Spanier klagte über die schlechten Zeiten und meinte, die Teerjacken seien so wachsam, daß der Handel nur noch gegen bar zu unternehmen sei. Wollte ich mir die Ware nicht entgehen lassen, so mußte ich meine Kasse bis auf den letzten Dollar leeren. Ich tat es, denn die Neger waren ohne Ausnahme kräftig, jung und bei guter Laune.«
»Welchen Kurs ließest du halten?«
»Ich steuerte auf Cuba und gelangte glücklich bis zur Höhe von Bahia. Dort nahm uns ein englisches Orlog in Sicht, dem sich bald eine Fregatte zugesellte, die sich als ein so trefflicher Segler erwies, daß an ein Entkommen ohne Kampf gar nicht zu denken war. Ich legte die schwarzen Halunken an die Kette und ließ die ›l'Horrible‹ unter Waffen setzen. Die Einzelheiten kannst du besser später erfahren, jetzt will ich kurz sein. Wir wurden von den beiden Engländern in die Mitte genommen und dermaßen zugerichtet, daß wir uns des Enterns nicht zu erwehren vermochten. Unsere Jungens verteidigten sich wie die Teufel; es half ihnen nichts. Sie wurden niedergehauen oder gefangen genommen und nach kurzem Verhör an die Raaen geknüpft. Die ›l'Horrible‹ war verloren.«
»Verloren!« knirschte de Brétigny. »Meine gute, meine herrliche ›l'Horrible‹ verloren, geentert und genommen von den englischen Zwiebackratten, die bisher schon zitterten, wenn sie nur meinen Namen hörten! Kapitän Kaiman, ha! Wäre ich nur dabei gewesen, ich hätte sie zu Paaren getrieben, wie stets und allemal!«
Er lief mit großen Schritten im Zimmer auf und ab und kämpfte mit einer Erregung, die ihm fast das Blut aus den Augen treten ließ. Auch der Chevalier war aufgesprungen; er hatte den Griff eines Messers erfaßt und zerfetzte mit der Klinge achtlos das kostbare Tafeltuch, das den vor ihm stehenden Tisch bedeckte. Die Erinnerung an die erlittene Niederlage verzerrte sein Gesicht zu einer häßlichen Fratze und ließ unter seiner weißen Stirnhaut dicke blaue Adern aufschwellen.
»Denkst du, die ›l'Horrible‹ habe einen einzigen Feigling an Bord gehabt, so stoße ich dir dieses kalte Eisen zwischen die Rippen!« zürnte er, indem ein leuchtender Blitz aus seinem Auge zuckte. »Du hast eine gute Faust und verstehst, einen wackeren Kiel zu führen. Aber glaubst du, daß ich weniger vermag als du? Es war unmöglich, das Schiff zu halten und damit basta! Ein einziges beleidigendes Wort noch von dir, und von den dreien, die noch übrig sind von der ›l'Horrible‹: du, ich und Marc – fährt einer zur Hölle!«
»Pah, Clairon, es ist noch nicht erwiesen, ob du mein Meister bist! Uebrigens habe ich ja noch keinen Vorwurf gegen dich ausgesprochen. – Also sie mußten alle dran glauben, meine tapferen Jungens?«
»Alle!«
»Und du? Wie war es dir denn möglich, dem ... dem – verteufeltes Wort! – dem Strang zu entgehen?«
»Das war nicht so schwierig! Ich sah, daß es mit uns zu Ende ging, eilte hinab, warf mich schleunigst in Frauenkleider, schloß mich ein und entledigte mich des Schlüssels durch die Außenlucke. Als ich gefunden wurde, gab ich mich für eine Gefangene aus und erregte durch meine Erzählung das Mitleid der Engländer in dem Grade, daß ich mit der größten Rücksicht und Sorgfalt behandelt und dann bei der ersten Gelegenheit an Land gesetzt wurde. Da ich deinen Aufenthalt kannte, hatte ich natürlich nichts Eiligeres zu tun, als dich aufzusuchen, um dir das Geschehene zu berichten. Die ›l'Horrible‹ ist hin und wir – wir sind Bettler!«
Er schwieg; auch der Vicomte sprach lange kein Wort. Er setzte seinen Zimmerspaziergang fort und war augenscheinlich bemüht, das verloren gegangene innere Gleichgewicht wieder zu erlangen.
»Bettler?« grollte er endlich, »nein, Bettler sind wir nicht. Die ›l'Horrible‹ ist hin, ja, aber nur auf kurze Zeit. Ich werde mir sie wieder holen!«
»Hab auch nichts andres von dir erwartet!« meinte der Chevalier. »Wir beide sind wohl Manns genug, das gute Fahrzeug wieder unter die Füße zu bekommen. Hast du schon an Mittel gedacht?«
»Nein!« lautete die zurückhaltende Antwort. »Ich zweifle aber nicht, daß sich bald eins finden wird.«
»Ich bin ganz derselben Gewißheit. Nur mit dem Unterschied, daß ich dieses Mittel schon kenne!«
»Ah, darf ich es hören?«
»Es ist das gleiche, an das du denkst.«
»Du irrst; ich habe noch keinen bestimmten Gedanken. Das einfachste wäre wohl, die ›l'Horrible‹, die jetzt als gute Prise wahrscheinlich zu Regierungszwecken benutzt wird, aufzusuchen, als Matrosen Heuer auf ihr zu nehmen und die Mannschaft zu unserm Glauben zu bekehren.«
»Hm!«
»Was meinst du?«
»Du bist klug genug, um die Ausführung dieses Vorschlags selbst auch für zu umständlich und unsicher zu halten. In dieser Weise handelt man bloß dann, wenn einem kein andrer Weg zu Gebote steht.«
»Du kennst einen andern und bessern?«
»Ja. Ich sagte schon, es ist ganz der gleiche, an den du denkst.«
»Und ich wiederhole, du irrst dich. Ich bin durch deine Nachricht so überrascht und angegriffen, daß mir ein ruhiges Ueberlegen jetzt einfach unmöglich ist.«
»Herr Vicomte!« klang es scharf und schneidend.
»Herr Chevalier!« tönte die Antwort in einem Ton, der Eindruck machen sollte.
Saccard lachte:
»Glaubst du wirklich, mir einen Gedanken verbergen zu können?«
»Glaubst du wirklich, allwissend zu sein?«
»Zuweilen, ja. Wenigstens in bezug auf dich.«
»Meinst du? Nun, wenn du wirklich so klug bist, so enthülle mir doch den Gedanken, den ich sonderbarerweise habe, ohne es zu wissen!«
»Schön!« Saccard lächelte überlegen. »Meine Meinung über dich ist, wie du weißt, keine überspannte; trotzdem halte ich dich für klug genug, um zu wissen, daß ...« er näherte sich dem Vicomte und flüsterte: »... daß die kostbaren Schmuckstücke für die Herzogin von Oerstädt, die bei dem Juwelier Thieme, deinem hiesigen Bekannten, liegen, uns die Mittel bieten, schneller und leichter zum Ziel zu gelangen.«
»Weib!« rief Brétigny zurückweichend. »Du bist ein Satan!«
»Ich danke dir für diese Schmeichelei und bin damit zufrieden, denn der Teufel ist für gewisse Fälle eine ganz beachtenswerte Persönlichkeit. Uebrigens ist dein Entsetzen der sicherste Beweis, daß ich das Richtige getroffen habe. Ist dieser Thieme ein kräftiger Mann?«
»Unsereinem ist er nicht gewachsen.«
»Das läßt sich denken! Montag, also morgen, abends gegen neun Uhr, hat der Juwelier den Schmuck abzuliefern. Etwas später wird er das Haus der Herzogin von Oerstädt mit einer Summe Geldes verlassen, die hinreicht, uns aus aller Verlegenheit zu helfen und es uns möglich zu machen, unsere ›l'Horrible‹ zurückzuholen. Doch verlaß mich jetzt; überleg dir die Sache noch einmal genau! In einer Stunde erwarte ich dich wieder, dann wird ein endgültiger Beschluß gefaßt.«
Gehorsam entfernte sich Brétigny. In seinem Zimmer angekommen, warf er sich tiefatmend aufs Sofa. Doch hielt es ihn nicht lange auf dem Polster. Er sprang auf und maß den Raum mit langen, hastigen Schritten.
»Wer hätte das noch vor einer Stunde gedacht! Die ›l'Horrible‹ ist hin und die Miß Admiral ist hier! Mit dem Herrn Vicomte ist es aus! Armer, liebenswürdiger Thieme, hättest du geahnt, daß der hochadelige Herr de Brétigny, den du in dein Haus und die Gesellschaft einführtest, der Kapitän Kaiman ist! Woher mag Clairon nur eine solch genaue Kenntnis aller Verhältnisse gewonnen haben? Jedenfalls befindet sie sich schon längere Zeit in der Nähe und hat alle meine Schritte beobachtet. Vielleicht hat sie auch das meiste nur erraten. Sie kennt mich und besitzt einen Scharfsinn, vor dem man sich in acht zu nehmen hat.«
Nachdem er seinen Zimmerspaziergang noch eine Weile fortgesetzt hatte, kehrte ihm allmählich die verloren gegangene Ruhe wieder. Und als die Stunde vergangen war, suchte er das Nebenzimmer mit ganz anderen Regungen auf, als er es vorher verlassen hatte.
Bei dem Anblick, der sich ihm bot, blieb er unwillkürlich an der Tür stehen. Der Chevalier de Saccard war verschwunden, und an seiner Stelle ruhte auf dem Diwan eine Dame von entzückender Schönheit.
»Clairon!« rief er.
»Tritt näher und setz dich zu mir!« bat sie und streckte ihm die kleine, feine Hand entgegen. Ihre Stimme klang jetzt ganz anders als vorher. Brétigny eilte auf sie zu und ließ sich bei ihr nieder. Die Art und Weise ihrer vorigen Unterhaltung schien völlig vergessen zu sein. – – –
Zwei Tage darauf wurde die kleine Stadt durch die Kunde bewegt, daß der Juwelier Thieme ermordet aufgefunden sei. Er war nicht nur der ungeheuren Summe, die den Preis für den Schmuck der Herzogin von Oerstädt bildete, sondern aller wertvollen Gegenstände, die er bei sich getragen hatte, beraubt worden. Erst spät fiel der Verdacht auf den Vicomte de Brétigny. Mit seinem Diener und einem Chevalier de Saccard war dieser nämlich schon seit der Mordnacht verschwunden. Ihre Spuren führten nach Hamburg. Dort hatten sich die drei Verdächtigen auf den ersten besten Dampfer nach Amerika eingeschifft und schwammen, als die Verfolger eintrafen, bereits auf dem Ozean. Damals aber waren Amerika und Europa noch nicht durch ein Telegraphenkabel verbunden. – – –