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Andermatt und Doktor Latonne gingen vor dem Kasino spazieren, auf der Terrasse, die mit den künstlichen Marmorvasen geschmückt war.
– Er grüßt mich nicht mal mehr, sagte der Arzt, indem er von seinem Kollegen Bonnefille sprach. Er sitzt da drüben in seinem Loch wie ein wilder Keiler, ich glaube er würde am liebsten, wenn er es könnte, unsere Quellen vergiften.
Andermatt hatte die Hände auf dem Rücken gefaltet, und der Hut, ein kleiner, steifer Hut aus grauem Filz, saß ihm ganz im Nacken, sodaß man den kahlen Kopf ahnte. Er dachte nach und antwortete endlich:
– Und in drei Monaten wird die Gesellschaft klein beigeben, wir sind schon bis auf zehntausend Francs handelseinig. Der elende Bonnefille stachelt sie nur auf gegen mich und bringt ihnen die Meinung bei, ich würde nachgeben! Aber da irrt er sich.
Der neue Inspektor antwortete:
– Sie wissen doch, daß sie seit gestern das Kasino geschlossen haben. Sie hatten keinen Menschen mehr.
– Ja, das weiß ich, aber auch wir haben nicht genug Badegäste. Die Leute bleiben zu sehr in den Hotels sitzen, und in den Hotels langweilen sie sich. Lieber Freund, man muß die Badegäste unterhalten, zerstreuen, den Eindruck erwecken, als wäre die Saison noch viel zu kurz.
Die von unserem Hotel Mont Oriol kommen jeden Abend, weil sie ganz nahe wohnen, aber die anderen zögern noch und bleiben zu Haus, es ist einfach eine Wegefrage, das ist die ganze Geschichte. Der Erfolg hängt immer von Kleinigkeiten ab, die man nur herausfinden muß.
Die Wege, die zu einem Vergnügungsorte führen, müssen selbst hübsch sein, als Vorbereitung zu der Unterhaltung, zu der man geht. Die Wege, die hierher führen, sind schlecht, steinig, hart, ermüdend. Wenn ein Weg, der irgendwo hinführt, wo man Lust hat hinzugehen, bequem ist, breit, am Tage schattig, leicht und nicht zu anstrengend für den Abend, so wird er ganz bestimmt gewählt, und alle anderen werden gemieden.
Wenn Sie wüßten, wie wir die Erinnerung an tausend Dinge in uns behalten, die unser Geist kaum sich Mühe gegeben festzuhalten. Ich glaube, das Gedächtnis der Tiere muß so sein. Hatten Sie einmal große Hitze, wenn Sie dort und dort hinmußten, haben Sie einen schlechten Weg auf hartem Gestein zurücklegen müssen, ist Ihnen ein Anstieg zu anstrengend gewesen, selbst ohne daß Sie es bemerkten, so empfinden Sie, wenn Sie dorthin zurückkehren wollen, eine Art unwiderstehliche physische Abneigung dagegen. Sie sprachen mit einem Freunde, Sie haben nichts von der Langeweile des Weges bemerkt, Sie haben nichts wirklich gesehen. Sie haben sich um nichts gekümmert, aber Ihre Beine, Ihre Muskeln, Ihre Lungen, Ihr ganzer Körper hat nichts vergessen und sagt dem Geist, wenn ihn der Geist denselben Weg zurückführen möchte: »Nein, das thue ich nicht, ich habe zu viel ausgehalten!«
Und der Geist gehorcht dieser Ablehnung, indem er sich der stummen Sprache seines Begleiters unterwirft.
Wir brauchen also schöne Wege, und das kommt darauf hinaus, daß ich eben den Grund und Boden dieses alten störrischen Esels, dieses alten Oriol brauche. Aber nur Geduld.
Übrigens nebenbei: Mas-Roussel hat seine Villa zu denselben Bedingungen wie Remusot erworben, das ist ein kleines Opfer für uns, aber wir werden schon entschädigt werden. Suchen Sie doch einmal Cloche zu ergründen.
– Er wird's genau so halten wie die anderen, sagte der Arzt. – Aber ich habe noch an etwas anderes gedacht seit ein paar Tagen, was wir ganz vergessen haben, nämlich an die Wetterwarte!
– Welche Wetterwarte?
– Sie in den großen Pariser Zeitungen zu veröffentlichen, das ist unbedingt nötig. Das Klima eines Badeortes muß besser, weniger dem Wechsel unterworfen sein, regelmäßiger, als das der Nachbar- und Konkurrenzbäder. Mieten Sie ein paar Zeilen Raum in den größten Zeitungen, und wir veröffentlichen eine Wetterwarte. Jeden Abend werde ich telegraphisch den Bericht über die atmosphärische Lage schicken, und ich will es schon so einrichten, daß das Klima am Ende des Jahres im Durchschnitt besser ist, als das aller Nachbarstationen.
Wenn wir eine große Zeitung in die Hand nehmen, fällt uns sofort in die Augen folgendes: die Temperaturen von Vichy, von Royat, Mont-Doré, Chatel-Guyon &c. für den Sommer, und im Winter die Temperaturen von Cannes, Menton, Nizza, Saint-Raphaël.
In jenen Gegenden muß es immer warm und schön sein, damit sich der Pariser sagt: Herrgott nochmal, die haben es gut, die nach dem Süden gehen!
Andermatt rief:
– Verflucht noch mal, da haben Sie recht, wie konnte ich das nur übersehen! Aber ich werde noch heute an die Sache herantreten. Haben Sie übrigens, da wir doch einmal von so etwas reden, den Professoren Larenard und Pascalis über unsern Brunnen geschrieben?
– Herr Präsident, bei denen ist gar nichts zu machen, es sei denn, es sei denn – – daß sie sich selbst nach genauem Ausprobieren überzeugt haben, daß unser Brunnen gut ist, und bei denen können Sie nur etwas erreichen durch Überzeugung – vorher gefaßte natürlich.
Sie kamen an Paul und Gontran vorüber, die eben gekommen waren, den Café nach dem Frühstück zu trinken. Andere Badegäste kamen auch, hauptsächlich Herren, denn die Damen gehen nach Tisch immer ein oder zwei Stunden aufs Zimmer.
Petrus Martel überwachte die Kellner und rief:
– Einen Kümmel! Eine Anisette! Einen Cognac! mit derselben tiefen, gewaltigen Stimme, die eine Stunde später bei der Probe klang.
Andermatt blieb ein paar Augenblicke stehen und schwatzte mit den beiden jungen Leuten, dann setzte er seinen Spaziergang mit dem Doktor fort.
Gontran hatte die Beine übereinandergelegt, die Arme gekreuzt, lag weit in seinen Stuhl zurück, das Genick auf der Lehne, Augen und Cigarre gegen den Himmel gerichtet. Er rauchte und befand sich ungemein wohl. Plötzlich sagte er:
– Willst Du nachher einen Spaziergang mit machen? In das Thal von Sanssouci? Die Kleinen gehen mit.
Paul zögerte, dann sagte er nach kurzem Nachdenken:
– Ja, meinetwegen.
Er fügte hinzu:
– Wie gehen Deine Geschäfte?
– Na die ist mir sicher! Nun läuft sie mir nicht davon.
Gontran hatte jetzt seinen Freund zum Vertrauten gemacht und erzählte ihm Tag für Tag von den Fortschritten, die er errungen. Er ließ ihn sogar Einblick thun in seine Rendezvous, die wirklich stattfanden. Er hatte sie von Louise Oriol auf eine feine Art erlangt.
Nach der Spazierfahrt nach Puy de la Nugère machte Christiane keine Ausflüge mehr mit, sodaß Begegnungen mit den Mädchen sehr schwer wurden. Durch diesen Entschluß seiner Schwester war Gontran zuerst etwas verstört, aber er suchte Mittel und Wege, um darüber hinwegzukommen.
An die Sitten von Paris gewöhnt, wo die Frauen von solchen Leuten wie Gontran wie ein Wild betrachtet werden, dessen Jagd oft schwierig ist, hatte er früher alle möglichen Listen angewendet, um denen nahezukommen, die er begehrte. Er hatte besser als irgend jemand sich Zwischenträger verschafft, Hilfsmittel aufgestöbert, mit einem Blick diejenigen gefunden, die seinen Absichten entgegenkamen.
Die unbewußte Hilfe, die ihm Christiane lieh, fehlte ihm so plötzlich, und er hatte in seiner Umgebung die schmiegsame Natur, wie er es nannte, gesucht, die an Stelle seiner Schwester treten könnte. Und da war er sofort auf die Frau des Doktor Honorat gekommen.
Vieles sprach für sie. Zuerst ihr Mann, der mit den Oriol eng befreundet, bei der Familie seit zwanzig Jahren Hausarzt war. Er hatte die Kinder geboren werden sehen, aß jeden Sonntag bei Oriols, und sie kamen jeden Nachmittag zu ihnen. Seine Frau, eine dicke, mittelalterliche, etwas pretentiöse Dame, war durch ihre Eitelkeit leicht zu gewinnen und würde gewiß beide Hände in Bewegung setzen für den Grafen Ravenel, dessen Schwager das Bad Mont Oriol besaß. Gontran hatte sie übrigens für sehr geeignet gehalten, rein durch ihr Äußeres, als er sie auf der Straße gesehen. Da sie wie eine Kupplerin aussah, dachte er, würde sie auch die dazu passende Gesinnung haben.
Er war daher eines Tages bei ihr eingetreten, als er ihren Mann nach Haus begleitete, hatte sich gesetzt, geschwatzt, der Dame ein paar Artigkeiten gesagt und als das Dienstmädchen zu Tisch rief, meinte er aufstehend:
– O, das riecht ja ausgezeichnet, bei Ihnen soll man besser aufgehoben sein wie im Hotel!
Frau Honorat schwoll vor Eitelkeit und stammelte:
– Ach Gott, wenn ich mir erlauben dürfte, Herr Graf, – – wenn ich mir erlauben dürfte – – –
– Erlauben, was, gnädige Frau?
– Nun, Sie zu bitten, unser einfaches Mahl zu teilen?
– Aber, mein Gott, ich würde ja sehr gern ja sagen . . . . .
Der Doktor brummte unruhig:
– Aber wir haben ja nichts, einfache Hausmannskost, Rindfleisch, Huhn.
Gontran lachte:
– Aber das ist ja sehr schön, ich nehme mit Vergnügen an.
Und er hatte beim Ehepaar Honorat gegessen. Die dicke Frau stand bei Tisch auf, nahm dem Mädchen die Schüsseln ab, damit sie ja keinen Saucenfleck auf das Tischtuch mache, und trotzdem ihr Mann ganz nervös wurde, servierte sie selbst.
Der Graf hatte ihr eine Schmeichelei über ihre Küche gesagt, über ihr Haus, über ihre Liebenswürdigkeit, und sie war ganz begeistert von ihm.
Er war wiedergekommen, hatte seinen Verdauungsbesuch gemacht, ließ sich von neuem einladen und ging jetzt unausgesetzt zu Frau Honorat, zu der die kleinen Oriols seit Jahren schon, als Nachbarinnen und Freudinnen alle Augenblicke kamen.
So saß er stundenlang mit den drei Frauen, war artig, vor allem zu den beiden Schwestern, und es ward von Tag zu Tag klarer, daß er Louise bevorzugte. Die Eifersucht, die zwischen ihnen entkeimt war, sobald er artig gegen Charlotte gewesen, wuchs zu einem förmlichen Hasse bei der älteren Schwester und ward Verachtung bei der jüngeren.
Louise hatte in ihrer reservierten Art, obgleich sie gegen Gontran immer eine gewisse Zurückhaltung zu bewahren schien, etwas Koketteres als die Schwester vorher mit all ihrem frohen, freien Benehmen. Charlotte war bis ins tiefste Herz gekränkt, sie versteckte aber aus Stolz ihr Leid, es schien, als merkte sie gar nichts und kam ruhig mit einer augenfälligen Gleichgiltigkeit zu all den Stelldicheins bei Frau Honorat. Sie wollte nicht fortbleiben, aus Furcht, man möchte denken, es thäte ihr weh, es schmerze sie, der Schwester den Platz zu überlassen.
Gontran war viel zu stolz auf seine Leistung, um sie zu verstecken, er konnte gar nicht anders und erzählte es Paul. Paul fand die Sache komisch und lachte. Er hatte sich übrigens vorgenommen seit jener scharfen Unterredung mit seinem Freunde, sich gar nicht mehr um dessen Angelegenheiten zu kümmern, und manchmal fragte er sich voller Unruhe: »Ob er wohl etwas von Christiane und mir ahnt?«
Er kannte Gontran zu genau, um nicht zu wissen, daß er sehr wohl fähig sei über ein Verhältnis seiner Schwester das Auge zuzudrücken. Aber warum hatte er es nicht früher zu verstehen gegeben, daß er es erriet oder etwas wußte?
Gontran war in der That einer von jenen, die der Ansicht sind, jede Dame der Gesellschaft müsse einen oder mehrere Liebhaber besitzen; einer, für den die Familie nur eine Art Versicherungsanstalt auf Gegenseitigkeit ist, für den die Moral nur eine unentbehrliche Äußerlichkeit ist, um mit ihr die Verschiedenheit des Geschmackes zu verschleiern, den die Natur uns gegeben, einer, für den die gesellschaftliche Anständigkeit nur die Fassade bedeutet, hinter der man angenehme Laster verbergen kann. Wenn er übrigens seiner kleinen Schwester zugeredet, Andermatt zu heiraten, so war das mit dem stillschweigenden Hintergedanken geschehen, daß dieser Jude auf alle Art und Weise von der ganzen Familie ausgebeutet werden sollte. Und er hätte vielleicht Christiane ebenso verachtet, wenn sie diesem Manne treu geblieben wäre, den sie doch nur aus Nützlichkeitsgründen und Verstandesrücksichten geheiratet, wie er sich selbst lächerlich vorgekommen wäre, wenn er nicht den Geldbeutel seines Schwagers in Anspruch genommen hätte.
Paul dachte an alles das, und alles das bewegte seine Seele eines modernen, übrigens zu Kompromissen bereiten Don Quixote. Und da war er seinem rätselhaften Freund gegenüber sehr zurückhaltend geworden. Als also Gontran erzählt, weshalb er bei Frau Honorat verkehrte, hatte Brétigny gelacht und sich nun schon seit einiger Zeit zu der würdigen Dame mitnehmen lassen. Es machte ihm viel Vergnügen, sich mit Charlotte zu unterhalten.
Die Frau des Arztes fügte sich in die Rolle, die ihr zugedacht war, mit dem größten Vergnügen, bot um fünf Uhr Thee an, wie die Damen in Paris, mit kleinen Kuchen, die sie selbst gebacken. Als Paul zum erstenmal in das Haus kam, empfing sie ihn wie einen alten Freund, bat, er möchte sich setzen, nahm ihm selbst den Hut ab, trug ihn auf den Kamin und stellte ihn neben die Uhr. Dann gab sie sich Mühe, die gute Wirtin zu spielen, lief von einem zum andern mit dem Riesenbauch, den sie vor sich hertrug und fragte:
– Wollen Sie nicht was genehmigen?
Gontran machte Scherze, lachte, schien sich wohl zu fühlen. Er zog einen Augenblick Louise ans Fenster, während Charlottes Augen ihnen erregt folgten. Frau Honorat, die mit Paul sich unterhielt, sagte ihm in mütterlichem Ton:
– Die lieben Kinder, da kommen sie so ein paar Augenblicke her um zu schwatzen, das ist doch ganz unschuldig, Herr Brétigny.
– O ganz unschuldig, Frau Doktor.
Als er dann wiederkam, nannte sie ihn freundschaftlich: »Herr Paul,« indem sie ihn so ein wenig als Mitschuldigen behandelte. Und von da ab erzählte Gontran mit seinem ewigen Witz alle Gefälligkeiten der Dame, der er noch am Tage vorher gesagt:
– Warum gehen Sie nicht mal mit den Mädchen auf der Straße nach Sanssouci spazieren?
Sie antwortete:
– Aber Herr Graf wir gehen sehr gern; wir gehen.
– So zum Beispiel morgen um drei Uhr?
– Morgen um drei Uhr, Herr Graf.
– Gnädige Frau, Sie sind zu liebenswürdig!
– O ganz wie Sie wollen, Herr Graf!
Und Gontran erklärte Paul:
– Hör mal, Du begreifst wohl, im Salon kann ich der älteren in Gegenwart der jüngeren nicht näher kommen, aber wenn wir mal im Wald sind, gehe ich voraus, und ihr bleibt mit Charlotte ein bißchen zurück. Kommst Du mit?
– Ja, sehr gern.
– Nun also.
Und sie standen auf und gingen langsam die Chaussee hinab. Als sie durch La Roche-Pradière kamen, bogen sie links ab und bummelten das baumreiche Thal zwischen den Bäumen hinunter. Als sie über den kleinen Fluß gekommen waren, setzten sie sich am Waldesrand um zu warten.
Bald kamen die drei Frauen, Louise voraus, Frau Honorat hinten. Auf beiden Seiten schien man sehr erfreut, sich zu begegnen. Gontran rief:
– Das ist aber eine famose Idee, daß Sie gerade hierher kamen.
Die Frau des Arztes antwortete:
– Ja, es war meine Idee.
Und sie setzten zusammen den Spaziergang fort. Louise und Gontran liefen immer schneller, sodaß sie bald einen Vorsprung gewannen und sich so weit entfernten, daß man sie bei den Wendungen des schmalen Fußweges nicht mehr sehen konnte. Die dicke Dame, die ganz außer Atem war, brummte:
– Ja ja, die jungen Leute, die können noch laufen, ich kann nicht so schnell mit.
Charlotte rief:
– Warten Sie mal, ich werde sie rufen.
Und sie wollte davon. Aber die Frau des Arztes hielt sie zurück:
– Ach Kleine, störe sie doch nicht, sie wollen sich unterhalten, das ist nicht nett sie zu stören. Sie werden schon von selbst wieder zurückkommen.
Und sie setzte sich ins Gras in den Schatten einer Tanne und wedelte sich mit dem Taschentuche Luft zu. Charlotte warf Paul einen traurigen Blick zu, einen bittenden, verzweifelten. Er verstand und sagte:
– Wissen Sie was, gnädiges Fräulein, wir werden der Frau Doktor die Ruhe lassen und Ihrer Schwester nachgehen, was?
Sie antwortete sofort:
– Ja, sehr, gern!
Frau Honorat meinte nur:
– Na geht nur Kinder. Ich warte hier, aber bleibt nicht zu lange aus.
Und nun gingen Sie davon. Sie liefen zuerst schnell, denn sie sahen die beiden andern nicht mehr, aber hofften, sie bald einzuholen. Da standen sie nach ein paar Minuten still, Louise und Gontron mußten sich links abgewendet haben oder rechts in den Wald hineingegangen sein. Charlotte rief mit zitternder Stimme fortwährend, aber, niemand antwortete. Sie stöhnte:
– Mein Gott, wo sind sie denn?
Paul fühlte wieder jenes tiefe Mitleid, jene schmerzliche Weichheit, die er einst am Krater von Nugère empfunden, er wußte nicht, was er dem verzweifelten Mädchen sagen sollte, er hatte plötzlich Lust, sie väterlich in seine Arme zu schließen, sie zu küssen, irgend etwas Süßes und Trostreiches für sie zu finden. Aber was?
Sie wandte sich nach allen Seiten mit verzweifelten Blicken und stammelte:
– Ich glaube, sie sind hier gegangen! Nein dort! Hören Sie nichts?
– Nein, gnädiges Fräulein, ich höre nichts.Es wird das Beste sein, wir erwarten sie hier.
– Ach mein Gott nein, wir müssen sie finden!
Er zögerte ein paar Sekunden, dann sagte er ganz leise zu ihr:
– Thut es Ihnen denn so leid?
Sie blickte ihn verzweifelt an, Thränen stiegen in ihren Augen auf und verdeckten mit noch durchsichtigem Wasser wie eine leichte Wolke den Blick, Thränen die noch durch die von langen, braunen Wimpern eingefaßten Lieder zurückgehalten waren. Sie wollte sprechen, sie konnte nicht, sie wagte es nicht, und doch empfand ihr schmerzvolles Herz ein solches Bedürfnis, sich jemanden anzuvertrauen. Er fragte:
– Sie lieben ihn wohl sehr? Aber hören Sie mal, er ist wirklich Ihrer Liebe nicht wert.
Jetzt konnte sie nicht mehr, schlug die Hände vor die Augen, um ihre Thränen zu verbergen und rief:
– Nein, nein, ich liebe ihn nicht, ihn nicht. Er ist zu schlecht gewesen! Er hat mich zum Narren gehabt, das ist zu häßlich, zu feige! Aber es thut mir trotzdem weh, sehr weh, weil es sehr hart ist, sehr hart, jawohl. Und noch mehr weh thut mir meine Schwester, die mich auch nicht liebt, die noch viel schlechter gewesen ist als er. Ich fühle, sie liebt mich nicht mehr, gar nicht mehr, sie haßt mich! Und ich hatte nur sie, ich habe keinen Menschen mehr, und ich habe doch nichts gethan!
Er sah nur ihr Ohr und ihren zarten jungen Hals, der aus dem Kragen ihres Kleides wuchs, unter dem leichten Stoff, der runde Formen verbarg, und er fühlte sich erfüllt von Mitgefühl und Zärtlichkeit, und jenes Gefühl von Ergebenheit bemächtigte sich seiner, wie jedesmal, wenn ihm eine Frau Liebe einflößte. Und seine schnell begeisterte Seele ward ganz erregt, durch den unschuldigen, verwirrenden, naiven Schmerz. Er streckte die Hand nach ihr aus mit unbewußter Geberde, so wie man es thut, um zu schmeicheln, um die Kinder zu beruhigen und legte sie ihr um den Leib nahe der Schulter von hinten herum.
Da fühlte er mit schnellen Schlägen ihr Herz klopfen, wie man das kleine Herz eines gefangenen Vogels fühlt.
Und dieses fortwährende schnelle Klopfen stieg ihm in den Arm hinauf zu seinem eigenen Herzen, dessen Schläge eiliger gingen. Er fühlte dieses eilige Klopfen, das von ihr kam und ihn durch ihren Körper hindurch packte, in seine Muskeln und Nerven überging, indem es aus ihren beiden Herzen nur ein krankes Herz machte, das dasselbe Leid erregte, das genau so klopfte, wie eine jener elektrischen Uhren, die durch Drähte verbunden Sekunde auf Sekunde gleichmäßig gehen.
Aber sie enthüllte plötzlich ihr rotes, immer hübsches Gesicht, wischte sich schnell die Thränen ab und sagte:
– Ach, ich hätte Ihnen das nicht sagen dürfen, ich bin ja verrückt, wir wollen schnell zu Frau Honorat zurückkehren. Und bitte, vergessen Sie, wollen Sie mir das versprechen?
– Ich verspreche es Ihnen.
Sie hielt ihm die Hand entgegen:
– Ich habe Vertrauen zu Ihnen, ich glaube, Sie meinen es ehrlich!
Sie kehrten wieder zurück, er hob sie auf, um sie über den Bach zu tragen, wie er das Jahr vorher Christiane hinübergetragen. Christiane! Wie oft war er denselben Weg mit ihr gegangen, zu jener Zeit, da er sie liebte. Er dachte, indem er sich über den Wechsel wunderte, wie kurz jene Liebe war!
Charlotte legte einen Finger auf seinen Arm und flüsterte:
– Frau Honorat ist eingeschlafen, wir wollen uns ganz still hinsetzen.
Frau Honorat schlief in der That, sie hatte sich an den Baum gelehnt, hatte ihr Taschentuch über das Gesicht gedeckt und die Hände über den Leib gefaltet. Sie setzten sich ein paar Schritte von ihr entfernt und sprachen nicht, um sie nicht zu wecken.
Da ward das Schweigen des Waldes so tief, daß es ihnen schmerzlich war wie ein Leid. Man hörte nur das Wasser ein Stück entfernt über die Steine rieseln und dann jenes kaum merkliche Geräusch, das irgendwo ein Tier hervorbringt, jenes leise Summen der Fliegen oder der großen schwarzen Insekten, unter denen das abgefallene Laub raschelt.
Wo waren nur Louise und Gontran? Was trieben sie? Plötzlich hörte man sie ganz in der Ferne; sie kamen zurück. Frau Honorat erwachte und war erstaunt, als sie Paul und Charlotte sah, da sie dieselben nicht hatte kommen hören.
– Und die andern, wo waren sie denn?
Paul antwortete:
– Da kommen sie eben!
Man hörte Gontran lachen, und dieses Lachen nahm ein Bleigewicht von Charlottes Seele, sie hätte nicht sagen können warum. Nun gewahrte man sie bald. Gontran lief fast, er zog das junge Mädchen, das ganz rot war, beim Arm, und ehe sie noch angekommen waren, rief er, so eilig hatte er es, die Geschichte zu erzählen:
– Denken Sie mal, wen wir überrascht haben?! Ganz kurz: Doktor Mazelli mit der Tochter des berühmten Professor Cloche, die junge Witwe mit dem Rotkopf. O ich sage nur, überrascht haben wir sie – – überrascht – – – na, Donnerwetter, konnte der Kerl küssen! Na, nana!
Frau Honorat wollte würdig sein, angesichts dieser zügellosen Heiterkeit:
– Aber, Herr Graf, denken Sie doch an die jungen Damen!
Gontran verbeugte sich:
– Gnädige Frau, Sie haben ganz recht, mich auf meine Pflicht aufmerksam zu machen, Sie denken auch an alles!
Dann nahmen die beiden jungen Leute, damit sie nicht alle zusammen zurückehrten, Abschied von den Damen und gingen durch den Wald.
– Nun? – fragte Paul.
– Nun ich habe ihr auseinandergesetzt, ich bete sie an und ich würde der glücklichste der Sterblichen sein, sie heimzuführen.
– Und was hat sie gesagt?
– Sie hat mit reizender Vorsicht nur geantwortet:
»Das ist Sache meines Vaters, ihm werde ich antworten.«
– Na, da gehst Du also wohl hin?
– Ja, ich werde sofort meinen Botschafter Andermatt mit der offiziellen Werbung betrauen, und wenn der alte Bauer etwa Schwierigkeiten macht, werde ich das Mädchen einfach kompromittieren.
Und da Andermatt noch immer mit Doktor Latonne auf der Terrasse des Kasinos sich unterhielt, rief Gontran seinen Schwager zur Seite und teilte ihm sofort die Lage mit.
Paul ging auf der Straße nach Riom, er mußte allein sein, so fühlte er sich erregt mit Körper und Seele, wie jedesmal bei der Begegnung mit einer Frau, die er im Begriff stand zu lieben. Seit einiger Zeit schon unterlag er, ohne es selbst zu wissen, dem frischen, starken Reiz dieses verlassenen Mädchens. Er fand sie so reizend, so einfach, so gut, so ehrlich, so naiv, daß er zuerst von Mitleid gepackt war, von jenem zärtlichen Mitleid, das uns jedes Frauenleid einflößt.
Als er sie nun öfters sah, wuchs in ihm jene Zärtlichkeit, die so schnell in uns wirkt und so schnell in uns groß wird, und vor allen Dingen seit einer Stunde fühlte er sich ganz von ihr gepackt, dachte er fortwährend an die Abwesende; sie war immer bei ihm, obgleich sie nicht da war, dieses erste Zeichen der Liebe. Er ging auf der Straße hin, er dachte an ihren Blick, an den Ton ihrer Stimme, an ihr Lächeln, an ihr ganzes Wesen, und er dachte sogar an die Farbe ihres Kleides. Er sagte sich: Ich glaube, ich bin verrückt, das ist zu dumm, ich kenne mich schon, ich sollte lieber nach Paris zurück, verflucht, das ist doch ein junges Mädchen, mit der kann ich doch kein Verhältnis anfangen!
Dann dachte er an sie, so wie er das Jahr zuvor an Christiane gedacht, wie doch das ganz anders war, als bei den übrigen Frauen, die er kennen gelernt, die in der Stadt geboren und groß geworden waren, anders als bei den jungen Mädchen, die von Kindheit an durch die mütterliche Koketterie, oder durch die Koketterie, die sie überall sehen, erzogen sind. Sie war nicht nur ein neues reines Wesen, sondern entstammt auch einer gesunden Race, ein echtes Mädchen des Landes, das im Begriff steht, ein Stadtkind zu werden.
Und er ward ganz erregt, indem er sich für sie abmühte, den Widerstand, den er noch in sich fand, zu überwinden. Poetische Gestalten aus Romanen kamen ihm, Geschöpfe von Walter Scott, von Dickens, von George Sand, die noch mehr seine immer von Frauengestalten erfüllte Phantasie aufstachelten.
Gontran hatte von ihm gesagt: Paul ist ein durchgehender Gaul, dem immer irgend eine Verliebtheit im Sattel sitzt, und wenn er eine abgeworfen hat, sitzt eine andere auf.
Brétigny merkte plötzlich, daß es Abend ward. Er war lange gegangen, und er kehrte heim. Als er an dem neuen Bade vorüberkam, sah er dort Andermatt und die beiden Oriol, die eben im Begriff waren, die Weinberge abzuschreiten und zu messen. Und er sah an ihren Bewegungen, daß sie sehr erregt unterhandelten.
Eine Stunde später trat Will in den Salon, wo die ganze Familie versammelt war und sagte zum Marquis:
– Mein lieber Schwiegerpapa, ich melde Dir hierdurch, daß Dein Sohn Gontran in sechs bis acht Wochen Fräulein Louise Oriol heimführen wird.
Der Marquis war ganz erschrocken:
– Was sagst Du, Gontran?
– Ich sage, daß er in sechs oder acht Wochen mit Deiner Zustimmung Fräulein Louise Oriol heimführen wird, Fräulein Louise Oriol, die sehr reich ist.
Da antwortete der Marquis ganz einfach:
– Gott wenn er will, mir solls recht sein!
Und der Bankier erzählte seine Begegnung mit dem Bauer. Sobald er gehört, daß sein Schwager und das junge Mädchen einverstanden waren, hatte er die Absicht gehabt, augenblicklich die Einwilligung des Bauern zu erzwingen, ohne ihm Zeit zu lassen, allerlei Schliche zur Anwendung zu bringen.
Er lief also zu ihm und fand den alten Oriol gerade dabei, auf einem Stück fettigen Papier, unter Beihilfe des Kuluß, der an den Fingern addierte, Rechnungen auszustellen. Er setzte sich und sagte:
– Ich möchte gern einen Schluck von Ihrem guten Wein trinken.
Sobald der Kuluß mit zwei Gläsern wiedergekommen war, fragte er, ob Fräulein Louise da sei und bat, sie zu rufen. Als sie vor ihm stand, erhob er sich, machte eine Verbeugung und sagte:
– Gnädiges Fräulein, wollen Sie bitte einen Augenblick mich als alten Freund ansehen, dem man alles sagen darf? Nicht wahr? Nun also, ich habe eine sehr delikate Sendung an Sie übernommen. Mein Schwager, Graf Raoul Olivier Gontran von Ravenel hat sich in Sie verliebt, woran er sehr recht thut, und hat mich gebeten, Sie in Gegenwart Ihrer Familie zu fragen, ob Sie seine Frau werden wollten.
So völlig überrascht, blickte sie verwirrt ihren Vater an, und der alte Oriol starrte erschrocken auf seinen Sohn, seinen gewöhnlichen Berater; Kuluß aber blickte Andermatt an, der nun fortfuhr:
– Gnädiges Fräulein, Sie verstehen, daß ich diesen Gang nur übernommen habe mit dem Versprechen, meinem Schwager sofort eine Antwort zu bringen. Er fühlt sehr wohl, daß er keine Gnade vor Ihren Augen finden kann, und in diesem Falle würde er morgen sofort abreisen und nie wieder hierher zurückkehren. Außerdem weiß ich, daß Sie ihn genügend kennen, um mir einfach sagen zu können, ich will oder ich will nicht.
Sie ließ den Kopf sinken, errötete und stammelte ganz entschlossen:
Dann lief sie so schnell davon, daß sie beim Hinausrennen sich an der Thür stieß.
Andermatt hatte sich wieder gesetzt, goß sich, wie die Bauern es thun, ein Glas Wein ein und sagte:
– So, nun wollen wir mal über das Geschäftliche reden.
Und ohne die Möglichkeit auch nur zuzulassen, daß die Sache verschoben werden könnte, sprach er sofort von der Mitgift, indem er sich auf die Erklärung stützte, die ihm der Bauer vor drei Wochen gemacht. Er schätzte das Vermögen von Gontran auf dreihunderttausend Francs, wozu noch das käme, was er einmal erben würde, und ließ durchblicken, daß, wenn ein Mann wie der Graf Ravenel sich herbeiließe, um die Hand der kleinen Oriol zu bitten – übrigens ein reizendes junges Mädchen! – die Familie des jungen Mädchens diese Ehre unzweifelhaft durch ein größeres Geldopfer anerkennen müßte.
Da versuchte der Bauer ganz verstört, aber doch geschmeichelt beinahe wehrlos, seinen Besitz zu verteidigen. Die Unterhandlung dauerte lange, und doch hatte sie eine Erklärung Andermatts von Anfang an erleichtert, der gesagt:
– Wir verlangen kein baar Geld, keine Papiere, nur Grund und Boden, den, den Sie mir schon als Fräulein Louises Mitgift bezeichnet haben, dann noch ein paar Grundstücke, die ich Ihnen nennen kann.
Die Aussicht, kein Baargeld herausrücken zu müssen, dieses lange aufgeschichtete Geld, das Frank um Frank, Sou um Sou ins Haus gekommen war, jenes gute Geld, weiß oder gelb, abgenutzt durch Finger, durch Geldbörse, durch die Taschen, durch die Tische der Cafés, die tiefen Fächer alter Schränke, jenes Geld, das man mit so viel Mühe, Arbeit und Sorgen erworben, das dem Herzen, dem Auge, dem Finger des Bauern so lieb, viel lieber noch als die Kuh, der Weinberg, das Haus, das Feld. Jenes Geld, das man manchmal schwerer hergiebt, als das Leben selbst.
Und die Aussicht, es nicht mit dem Kinde zugleich zu verlieren, beruhigte sofort Vater und Sohn und machte sie von vornherein geneigt nachzugeben, und erweckte in ihnen eine geheime Freude, die sie aber sorgfältig verhehlten.
Sie verhandelten trotzdem lange, um noch irgend ein Stück Land behalten zu können. Der genaue Plan von Mont Oriol lag auf dem Tisch, und nacheinander wurden alle einzelnen Grundstücke, die Louise bekommen sollte, mit Kreuzen bezeichnet. Eine Stunde mußte Andermatt unterhandeln, um die beiden letzten Felder noch zu erlangen und, damit ja kein Mißverständnis auf der einen oder anderen Seite herauskommen könnte, ging man dann an Ort und Stelle mit dem Blatt in der Hand, und so wurde jedes einzelne durch Kreuze bezeichnete Grundstück noch besichtigt und dann noch einmal angestrichen. Aber Andermatt war noch nicht beruhigt, er hielt die beiden Oriol für fähig, später einen Teil der Grundstücke, die sie hatten abtreten wollen, abzuleugnen, und er suchte nach einem praktischen sicheren Mittel, um die Abmachung festzumachen. Da kam ihm ein Gedanke, daß er zuerst lachen mußte, aber der ihm doch ausgezeichnet schien, so sonderbar er auch war, und er sagte:
– Wenn es Ihnen recht ist, wollen wir mal das alles ein bißchen aufschreiben, daß wir später nichts vergessen.
Und als sie ins Dorf zurück kamen, blieb er bei einer Tabak-Trafik stehen um zwei Stempelbogen zu kaufen, denn er wußte, daß die Liste der Grundstücke auf gestempeltem Papier geschrieben in den Augen der beiden Bauern ihnen nun fast unantastbar sein würde. Denn diese Stempelbogen vertraten das Gesetz, immer unsichtbar und drohend, das der Gendarm schützte, Geldstrafe und Gefängnis.
Er schrieb also auf ein gestempeltes Papier und machte eine Abschrift auf das andere.
»Auf Grund des Eheversprechens zwischen Graf Gontran von Ravenel und Fräulein Louise Oriol übergiebt Herr Oriol als Mitgift seiner Tochter folgende Grundstücke . . .«
Und es wurde sorgfältig, eins nach dem andern aufgezählt nach den Kataster-Nummern. Dann kam das Datum darunter, er unterschrieb, er ließ den Vater Oriol unterschreiben, der seinerseits verlangt hatte, daß der Besitz des Bräutigams auch festgestellt würde, und dann ging er zum Hotel das Papier in der Tasche.
Alle Welt lachte über die Geschichte und Gontran noch mehr als alle anderen.
Dann sagte der Marquis mit großer Würde zu seinem Sohn:
– Heute abend werden wir alle beide der Familie einen Besuch machen, und ich werde den Antrag, der durch meinen Schwiegersohn gemacht ist, noch einmal wiederholen, das ist vielleicht korrekter.