Guy de Maupassant
Mont Oriol
Guy de Maupassant

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Erster Teil

I

Die Frühaufsteher unter den Badegästen, die schon ihr Bad genommen hatten, gingen zu Zweit oder allein unter den großen Bäumen längs des Baches spazieren, der aus den Schluchten von Enval herabrinnt. Andere kamen vom Dorf und eilten in das Kurhaus, ein großes Gebäude, dessen Erdgeschoß allein die Thermen enthielt, während im ersten Stock sich das Kasino befand, ein Café und die Billardsäle.

Nachdem Doktor Bonnefille in dem Thalgrund von Enval die große Quelle entdeckt hatte, die er Bonnefille-Brunnen genannt, hatten einzelne Grundbesitzer aus der Gegend, vorsichtige Spekulanten, sich entschlossen, mitten in dem wilden, und doch heiteren, mit Nußbäumen und gewaltigen Kastanien bepflanzten Thal der Auvergne ein großes Gebäude zu errichten. Es diente gleicherweise Heil- wie Vergnügungszwecken, unten wurde Mineralwasser verkauft, Douchen und Bäder abgegeben und oben Bier, Getränke aller Art und Musik.

Man hatte einen Teil der Thalsenkung längs des Baches umzäunt, als Kurpark, der nun einmal zu jedem Badeort gehört. Drei Alleen waren angelegt worden, eine fast gerade und zwei, die im Bogen gingen. Am Beginn der ersten ließ man einen künstlichen Brunnen graben, eine Abzweigung der Hauptquelle, die in einem großen Cementbecken brodelte; ein Strohdach war darüber errichtet worden und unter diesem saß zur Bedienung eine immer freundliche Frau, die man allgemein familiär »Marie« nannte. Die Auvergnatin trug stets ein schneeweißes Mützchen und war beinahe ganz von einer gewaltigen weißen tadellos sauberen Schürze umbauscht, die ihre Kleidung darunter verbarg.

Sobald sie auf dem Wege einen Brunnengast auf sich zukommen sah, stand sie langsam auf. Wenn sie dann erkannt, wer es war, entnahm sie sein Glas einem kleinen Glasschränkchen und füllte es langsam, indem sie es in eine Zinkhülse setzte, die an einem langen Stock befestigt war. Der traurige Brunnengast lächelte, trank, gab sein Glas zurück und sagte:

– Danke Marie!

Dann machte er Kehrt, ging davon, und Marie setzte sich wieder auf ihren Strohstuhl, um den Folgenden zu erwarten.

Übrigens waren der Gäste nicht gar viele. Das Bad von Enval existierte erst seit sechs Jahren und hatte, nachdem es diese sechs Jahre überstanden, kaum mehr Gäste als zur Zeit, da es eröffnet worden. Vielleicht fünfzig Menschen kamen hin, hauptsächlich von der Schönheit der Gegend angelockt, durch den Reiz dieses kleinen, ganz unter riesigen Bäumen verborgenen Dorfes, unter knorrigen Stämmen, die so groß fast waren wie die Häuser, angelockt vom Ruf der Schönheit dieses seltsamen Dörfchens, das an einem Ende auf die weite Ebene der Auvergne sich öffnete, am anderen von einem hohen, von erloschenen Kratern durchfurchten Berge abgeschlossen wurde, der zuletzt in ein wildes Felsgebiet überging voll drohender Steinbildungen, durch die ein Bach sich über die gewaltigen Felsen in Kaskaden herabstürzte, vor jedem einzelnen einen kleinen See bildend.

Dieser Badeort hatte begonnen wie alle, durch die Herausgabe einer Broschüre des Doktor Bonnefille über seine Quelle. Er rühmte darinnen zuerst die alpinen Reize der Gegend in bombastischem und sentimentalem Stil. Er hatte sonderbare Ausdrücke gewählt, die einen gewissen Eindruck machen, ohne doch zuviel zu sagen. Nach ihm war die ganze Gegend pittoresk, voll grandioser Aussichtspunkte und von eigenem Reiz; alle, auch die nächsten Spaziergänge besaßen etwas ganz Eigenes, Originelles, einen Zauber, der Künstler und Reisende festhielt.

Dann erklärte er in der Broschüre ohne weiteren Übergang plötzlich die therapeutischen Eigenschaften des Bonnefille-Brunnens, der Bicarbonicum, Soda, Kohlensäure, Eisen und so weiter enthielt und gegen alle Krankheiten indiziert war. Übrigens hatte er sie zusammengefaßt unter dem Namen »chronische oder akute Leiden, für die speciell Enval angezeigt ist.« Es war eine lange, bunte Reihe, die allen, allen Leidenden Trost verlieh. Die Broschüre endigte mit allerlei praktischen Ratschlägen über das Leben in Enval, Preise der Wohnungen, der Hotels. Denn drei Hotels waren zu gleicher Zeit mit dem Kurhaus aus dem Boden gewachsen: das Splendid-Hotel, ganz neu, an der Berglehne über den Bädern erbaut, das Bade-Hotel, ein ausgebautes ehemaliges Wirthaus, und das Hotel Vidaillet, einfach dadurch hergestellt, daß man drei benachbarte Häuser erworben und sie vermittelst Durchbrechen zu einem einzigen umgewandelt hatte.

Zu gleicher Zeit waren zwei neue Ärzte hingekommen, sie waren eines Morgens, ohne daß man eigentlich recht wußte woher, da, denn in den Bädern scheinen die Ärzte förmlich aus den Quellen aufzusteigen, wie die Kohlensäure. Das war Doktor Honorat, ein Auvergnate, und Doktor Latonne aus Paris.

Doktor Latonne und Doktor Bonnefille waren sofort tötlich verfeindet, während Doktor Honorat, ein dicker, sauber gekleideter, wohlrasierter, lächelnder, schmiegsamer Mann, dem einen seine Rechte, dem anderen seine Linke gereicht hatte und sich mit beiden gut vertrug. Aber Doktor Bonnefille beherrschte die Situation durch seinen Titel: Chefarzt der Thermen von Enval-les-Bains.

Auf diesem Titel beruhte seine Bedeutung, das Kurhaus war seine Domäne. Dort war er den ganzen Tag zu finden, es wurde sogar behauptet die Nacht. Hundertmal täglich ging er von seinem Hause, das im Dorf ganz in der Nähe lag, zu seinem Sprechzimmer rechts am Eingang. Dort saß er wie eine Spinne im Netz, überwachte Kommen und Gehen der Kranken, betrachtete seine Patienten mit ernsten und die anderen mit wütenden Blicken. Alle Welt redete er an, beinahe wie ein Kapitän auf See, und ängstigte alle Neuankommenden, bis auf die, die über ihn lachten.

Als er heute mit eiligen Schritten angebraust kam, daß die langen Schöße seines alten Überrockes wie zwei Flügel hinter ihm drein flatterten, ward er plötzlich durch eine Stimme aufgehalten, die da rief:

– Doktor!

Er wandte sich um. Sein mageres, von tiefen, schwarz scheinenden Falten durchzogenes Gesicht, auf dem ein grauer, schlecht gehaltener Bart sproß, bemühte sich zu lächeln. Er nahm seinen ein wenig schmutzigen, fettigen Cylinder ab, mit dem er sonst sein langes, pfeffer- und salzfarbenes Haar, wie sein Gegner, Doktor Latonne, zu sagen pflegte, bedeckte, trat einen Schritt vor, verbeugte sich und sagte:

– Guten Morgen, Herr Marquis, wie geht's? Wie steht's?

Ein kleiner, sorgfältig gekleideter Herr, der Marquis Ravenel, streckte dem Arzt die Hand entgegen und antwortete:

– Sehr gut! Sehr gut! Oder wenigstens nicht schlecht. Ich habe immer noch Schmerzen in der Seite, aber es geht besser, viel besser; ich habe ja auch erst zehn Bäder genommen, voriges Jahr trat die Reaktion erst beim sechszehnten ein, erinnern Sie sich noch?

– O gewiß!

– Aber davon wollte ich Ihnen nicht sprechen. Meine Tochter ist heute früh angekommen, und vor allen Dingen wollte ich darüber mit Ihnen reden, weil mein Schwiegersohn, Herr Andermatt, William Andermatt, der Bankier . . .

– O gewiß, ich weiß!

– Mein Schwiegersohn hat nämlich einen Empfehlungsbrief an Doktor Latonne; ich habe nur zu Ihnen Vertrauen, und ich bitte Sie, zum Hotel zu gehen, ehe – Sie begreifen schon, ich wollte lieber ganz offen mit Ihnen reden. Also haben Sie jetzt vielleicht Zeit?

Doktor Bonnefille hatte sehr unruhig, sehr erregt den Hut wieder aufgesetzt und sagte sofort:

– Gewiß, sofort, darf ich Sie begleiten?

– Aber gewiß!

Sie wandten dem Kurhaus den Rücken und folgten eilig jener im Bogen führenden Allee, die sie zum Splendid-Hotel brachte, das der Aussicht wegen an der Berglehne lag. Im ersten Stock traten sie in den Salon, der zu den Zimmern der Familie Ravenel und Andermatt gehörte, und der Marquis ließ den Arzt allein, um seine Tochter zu holen.

Einen Augenblick darauf kam er mit ihr zurück. Es war eine junge blonde Frau, klein, bleich, sehr hübsch, mit fast kindlichen Zügen, während ihr braunes Auge keck blickte und die Leute entschlossen ansah. Das verlieh dieser reizenden, zierlichen Frau eine entzückende Sicherheit und etwas ganz Eigenes.

Ihr fehlte nichts Besonderes, sie fühlte sich nicht wohl, sie war traurig, sie weinte ab und zu ohne irgendwelche Ursache, geriet ohne Grund in Wut, kurz, sie war eben blutarm. Vor allem wollte sie ein Kind haben; seit den zwei Jahren, die sie verheiratet war, wartete sie vergebens darauf.

Doktor Bonnefille behauptete, der Brunnen von Enval wäre dazu gerade sehr geeignet und schrieb sofort Verhaltungsmaßregeln auf. Diese boten etwa den schrecklichen Anblick eines richterlichen Erkenntnisses. Auf einem großen weißen Blatt standen da eine Menge Paragraphen. Jede Verordnung zwei oder drei Zeilen lang, in stürmischer Hast hingeworfen, ein wildes Heer von Buchstaben-Spitzen. In wütender Reihenfolge kamen Mittel, Pillen, Pulver, die man nüchtern, früh, mittags oder abends gebrauchen sollte. Es war, als lese man dort: »Da Herr X an einer chronischen, unheilbaren, tötlichen Krankheit leidet, so wird ihm hierdurch verordnet:

1. Chinin, das ihn taub macht und sein Gedächtnis schwächt.

2. Brom, wird ihm den Magen ruinieren oder seine intellektuellen Fähigkeiten schwächen, einen Ausschlag hervorbringen und dazu üblen Atem.

3. Jod, um seine Drüsen vertrocknen zu machen, die des Hirns wie alle übrigen, daß es ihn nach kurzer Zeit körperlich wie geistig auf den Hund bringt.

4. Salicyl, dessen Heilkraft noch nicht gänzlich feststeht, das aber voraussichtlich die damit behandelten Kranken schnell und sicher tötet.

Und dazwischen: Chloral, das verrückt macht, Belladonna, die die Augen ruiniert, und dann alle vegetarischen Mittel, mineralischen Zusammensetzungen, die die Blutzirkulation stören, die Organe angreifen, die Knochen zerfressen und allein durch ihre Heilkraft alle töten, die sonst der Krankheit nicht zum Opfer fallen.«

Er beschrieb das Blatt auf beiden Seiten und unterzeichnete dann, etwa wie ein Beamter einen Haftbefehl. Die junge Frau, die ihm gegenübersaß, blickte ihn an, mit dem Lachen kämpfend, sodaß ihr Mund zuckte. Nachdem er nach tiefer Verbeugung verschwunden war, nahm sie das von Tinte ganz schwarze Papier, zerknüllte es zu einer Kugel und warf es in den Kamin. Dann lachte sie herzlich und rief:

– Aber Papa, wo hast Du denn diese alte Ausgrabung entdeckt? Das sieht Dir wirklich ähnlich! So einen Arzt, der noch aus der Zeit vor der Revolution stammt, auszubuddeln. Herrgott ist der komisch! Und schmierig, wahrhaftig, ich glaube, er hat meine Briefmappe ganz schmutzig gemacht!

Die Thür öffnete sich, und man hörte Herrn Andermatts Stimme, der da rief:

– Treten Sie ein, Doktor!

Doktor Latonne erschien. Mager, aufrecht, korrekt, mit einem Aussehen, daß man sein Alter nicht hätte bestimmen können. Sehr elegant gekleidet, hielt er in der Hand den Cylinder, an den man in beinahe allen Bädern der Auvergne den Pariser Arzt erkennt. Er sah, glatt rasiert, ohne Schnurrbart oder Backenbart, wie ein Schauspieler auf Sommerfrische aus.

Der Marquis war erschrocken, er wußte nicht, was er sagen sollte, während seine Tochter sich ihr Taschentuch vorhielt, als müßte sie husten, um nicht dem neuen Ankömmling gerade ins Gesicht zu lachen. Der verbeugte sich sicher, und auf einen Wink der jungen Frau setzte er sich.

Herr Andermatt, der ihm folgte, erzählte peinlich genau vom Zustand seiner Frau, von den Störungen mit all ihren Symptomen, was die Pariser Ärzte alle gesagt, fügte dann seine eigenen Ansichten hinzu mit ganz genauen und technischen Ausdrücken. Es war ein noch sehr junger Mensch, Jude, reicher Geschäftsmann. Er machte alle möglichen Geschäfte. Anschmiegsamen Geistes, war er zu allem zu gebrauchen; er fand sich ungeheuer schnell in jeden Stoff und hatte ein ganz merkwürdiges, erstaunlich sicheres Urteil. Für seine kleine Figur war er schon zu dick, etwas aufgeschwemmt, hatte eine Glatze und besaß etwas von einer Puppe, fette Hände, kurze Schenkel, ein zu frisches, ungesundes Aussehen. Er sprach ununterbrochen.

Er hatte aus kluger Berechnung die Tochter des Marquis Ravenel geheiratet, um seine Spekulationen auf Gesellschaftskreise auszudehnen, denen er nicht angehörte. Übrigens hatte der Marquis etwa dreißigtausend Francs Rente und nur zwei Kinder. Aber Herr Andermatt besaß, als er sich verheiratete, in einem Alter von kaum dreißig Jahren, schon fünf oder sechs Millionen und hatte Unternehmungen im Gang, die ihm gewiß noch zehn oder zwölf sicherten.

Der Marquis war ein unentschlossener Mensch, der mal so urteilte, mal so, schwach und unsicher. Als man ihm von der Verbindung sprach, ward er zuerst wütend, empört bei dem Gedanken, seine Tochter mit einem Israeliten verheiratet zu sehen, aber nach einem halben Jahr Widerstand gab er nach unter dem Zwange der Millionen, mit der Bedingung, daß die Kinder katholisch werden müßten.

Aber man wartete und kein Kind erschien. Da erinnerte sich der Marquis, der seit zwei Jahren für Enval schwärmte, daß nach der Broschüre des Doktors Bonnefille dort auch die Unfruchtbarkeit geheilt wurde. Er ließ also seine Tochter kommen, die sein Schwiegersohn begleitete, um die ersten Einrichtungen hier zu treffen und auf Wunsch seines Pariser Arztes sie dem Doktor Latonne anzuvertrauen. Andermatt hatte ihn, sobald er angekommen, aufgesucht, und er zählte nun immer mehr die Symptome auf, die er bei seiner Frau entdeckt. Er schloß damit, daß er erklärte, wie sehr ihn die Kinderlosigkeit schmerze.

Doktor Latonne ließ ihn ruhig ausreden, dann wandte er sich zu der jungen Frau:

– Gnädige Frau, haben Sie noch etwas hinzuzufügen?

Sie antwortete ernst:

– Nein, nichts, Herr Doktor!

– Dann bitte ich, legen Sie Ihr Reisekleid ab und Ihr Korsett und bitte ziehen Sie einen einfachen weißen Frisiermantel an, ganz weiß.

Sie war erstaunt, aber er erklärte lebhaft sein System:

– Mein Gott, gnädige Frau, die Sache ist ganz einfach. Früher war man davon überzeugt, daß alle Krankheiten von falscher Blutzusammensetzung kämen oder von irgendeinem kranken Organ. Heute nehmen wir einfach an, daß in sehr vielen Fällen, und vor allem in Ihrem besonderen Fall, Ihre kleinen Leiden und sogar größere Störungen, ernste, tötliche, ganz allein daher kommen können, daß irgend ein Organ unter gewissem leicht erklärlichen Einfluß sich anormal entwickelt hat zum Schaden der Nachbarorgane, die ganze Harmonie stört, das Gleichgewicht des menschlichen Körpers, seine Funktionen verändert, wohl gar einstellt und dies sogar auf alle übrigen Organe überträgt. Eine Schwellung des Magens genügt vollkommen, um ein Herzleiden vorzuspiegeln, da das Herz dann, in seinen Bewegungen gehindert, stärker, unregelmäßiger schlägt und ab und zu sogar aussetzt. Störungen der Leber oder gewisser Drüsen können Erscheinungen hervorrufen, die der nicht aufmerksame Arzt oft auf ganz andere Ursachen zurückführt.

So ist also das erste was wir thun müssen, festzustellen, ob alle Organe eines Kranken genau die richtige Größe haben und am normalen Fleck sitzen, denn sehr wenig genügt, um die Gesundheit eines Menschen vollkommen zu stören. Ich werde Sie also, gnädige Frau, wenn Sie erlauben, ganz genau untersuchen und auf ihrem Frisiermantel die Grenzen die Abweichungen und die Stellung Ihrer Organe aufzeichnen. –

Er hatte seinen Hut auf einen Stuhl gestellt und sprach mit größter Gemütlichkeit. Sein breiter Mund zog, während er sich öffnete und schloß, auf den glattrasierten Wangen eine tiefe Falte, was ihm fast das Aussehen eines Geistlichen gab.

Andermatt rief ganz glückselig:

– Hören Sie mal, hören Sie mal, das ist großartig! Das ist eine famose Erfindung, ganz neu, riesig modern!

»Riesig Modern« war bei ihm immer der Gipfel der Begeisterung.

Der jungen Frau machte die Geschichte Spaß; sie stand auf, ging in ihr Schlafzimmer und kam nach ein paar Minuten in einem weißen Frisiermantel zurück. Der Arzt ließ sie sich aufs Sofa legen, dann zog er aus der Tasche einen dreifarbigen Bleistift, schwarz, rot, blau, und begann seine neue Patientin zu behorchen und zu beklopfen, indem er ihren Frisiermantel mit großen farbigen Strichen von oben bis unten bedeckte und jede Beobachtung notierte. Nach einer Viertelstunde sah sie wie eine Landkarte aus, auf der alle Kontinente, Meere, Kaps, Flüsse, Königreiche und Städte verzeichnet und die Namen all dieser Erdteile stehe, denn der Doktor schrieb an jede seiner Linien zwei oder drei lateinische Worte, die nur er verstand.

Nachdem er dann alle inneren Geräusche der Frau Andermatt behorcht und alle dumpfen oder hellen Töne gehört, zog er aus seiner Tasche ein rotledernes Notizbuch mit Goldschnitt, das eine alphabetische Einteilung besaß suchte an einer bestimmten Stelle und schrieb:

– Untersuchung 6347 Frau A. 21 Jahre.

Dann ging er vom Kopf bis zu den Füßen die farbigen Notizen auf dem Frisiermantel durch, las sie, wie ein Ägyptologe Hieroglyphen entziffert, und übertrug sie in das Notizbuch. Endlich erklärte er, als er damit fertig war:

– Nichts Beunruhigendes, nichts Anormales, nur eine leichte, ganz leichte Störung, die durch etwa dreißig Bäder zu beheben ist. Außerdem werden Sie jeden Morgen bis Mittags drei halbe Becher trinken, weiter nichts. In vier oder fünf Tagen werde ich mir erlauben, wieder vorzusprechen.

Dann stand er auf, grüßte und entfernte sich mit einer solchen Schnelligkeit und Bestimmtheit, daß sie alle baff stehen blieben. Das war seine Manier, sein Chik, seine Spezialität, dieser jähe Aufbruch. Er fand es riesig anständig, und er meinte, es müßte auf die Kranken wirken.

Frau Andermatt besah sich im Spiegel und schüttelte sich vor kindlichem Lachen:

– Herrgott, sind die komisch! Sind die komisch! Sagt mal, giebt es etwa noch einen? Den muß ich auch konsultieren! Will, hol mir doch mal den dritten, es muß noch ein dritter da sein, den muß ich auch sehen!

Ihr Mann fragte ganz erstaunt:

– Was denn ein dritter? Wieso denn ein dritter?

Der Marquis mußte es erklären, indem er sich entschuldigte, denn er hatte vor seinem Schwiegersohn eine gewisse Angst. Er erzählte also, Doktor Bonnefille wäre zu ihm gekommen, und er hätte ihn Christiane vorgestellt, um seine Ansicht zu hören, denn er setze viel Vertrauen in die Erfahrungen des alten Arztes, der aus der Gegend ja stamme und die Quelle entdeckt hatte.

Andermatt zuckte die Achsel und erklärte, nur Doktor Latonne würde seine Frau behandeln, sodaß der Marquis sich sehr beunruhigt fühlte und nachzudenken begann, wie er es machen sollte, um sich mit dem anderen Arzt im Guten auseinanderzusetzen.

Christiane fragte:

– Ist Gontran hier?

Das war ihr Bruder. Ihr Vater antwortete:

– Ja, seit vier Tagen, mit einem seiner Freunde, von dem er uns öfters erzählt hat, Herrn Paul Brétigny, sie machen zusammen eine kleine Reise durch die Auvergne; sie kommen vom Mont Dore und La Bourboule, Ende nächster Woche wollen sie nach Cantal.

Dann fragte er die junge Frau, ob sie sich bis zum Frühstück ausruhen wolle nach dieser Nacht in der Eisenbahn, aber sie hatte im Schlafwagen sehr gut geschlafen und verlangte nur eine Stunde Zeit, um sich umzuziehen, dann wollten sie Dorf und Kurhaus ansehen. Ihr Vater und ihr Mann zogen sich auf ihre Zimmer zurück, um zu warten, bis sie fertig wäre. Bald darauf ließ sie sie rufen und sie gingen hinaus.

Sie war sofort begeistert beim Anblick des in den Wald hineingebauten Dorfes und des tiefen Thals, das von allen Seiten durch hohe Kastanienbäume abgeschlossen war wie durch Mauern. Überall wuchsen sie, irgendwo zufällig hingekommen in ihrem vierhundertjährigen Bestand: vor den Thüren, vor den Höfen, in den Straßen, und überall auch gab es Brunnen aus einem großen, schwarzen, aufrechtstehenden Stein gebildet, der am oberen Ende durchbohrt war, aus dem dann ein Strahl klaren Wassers schoß. Und überall sah man langsam dahinschreitend oder vor ihren Häusern stehend Auvergnatinnen, die mit schneller Fingerbewegung an einem schwarzen Wollknäuel strickten, das an ihrem Gürtel hing. Unter ihren kurzen Kleidern sah man die dürren Knöchel in den blauen Strümpfen, und ihre Taillen waren auf den Schultern durch eine Art Hosenträger festgehalten; daraus ragten frei die weißen Hemdsärmel, in denen magere, dürre Arme und knochige Hände steckten.

Plötzlich klang eine komische hüpfende Musik vor den Spaziergängern, wie ein Leierkasten, alt, kaput und verbraucht. Christiane rief:

– Was ist denn das?

Ihr Vater begann zu lachen:

– Das ist die Kurmusik. Vier Kerls verüben den Lärm.

Und er führte sie an einen roten Anschlagszettel an einem Bauernhof, worauf in schwarzen Buchstaben stand:

Casino von Enval

Direktion: Petrus Martel vom Odéon.

———

Sonnabend, den 6. Juli

Großes Konzert des maëstro Saint-Landri.

2. Grand-Prix des Konservatoriums.

Klavier: Herr Javel, erster Konservatoriums-Preis.
Flöte: Herr Noirot, preisgekrönt am Konservatorium.
Contre-Baß:  Herr Nicordi, 1. Preis der Kgl. Belgischen Akademie.

Nach dem Konzert große Vorstellung:

Verirrt im Walde

Komödie in einem Akt von Pointillet.

Personen:

Pierre de Lapointe  Herr Petrus Martel vom Odéon
Oscar Lèveillé Herr Petitnivelle vom Vaudeville
Jean Herr Lapalme vom Stadttheater in Bordeaux.
Philippine Fräulein Odelin vom Odéon.

Das Orchester spielt während der Vorstellung gleichfalls
unter Leitung des maëstro Saint-Landri.

Christiane las laut vor und lachte erstaunt. Ihr Vater meinte aber:

– Das wird Dir Spaß machen, wir wollen nur hingehen.

Sie wandten sich rechts in den Park. Die Badegäste gingen ernst, langsam auf den drei Alleen spazieren, tranken ihren Brunnen und entfernten sich wieder. Einige saßen auf den Bänken und malten mit den Stöcken oder Sonnenschirmen im Sand, sie sprachen nichts, sie schienen nachzudenken, kaum zu leben, wie betäubt von der Langeweile der Bäder. Nur das seltsame Geräusch der Kapelle zitterte in der milden, ruhigen Luft, kam von irgendwo her, hervorgerufen man begriff eigentlich nicht wie, zog unter den Bäumen hin und schien diese traurigen Spaziergänger in Bewegung zu bringen. Eine Stimme rief:

– Christiane!

Sie drehte sich um, es war ihr Bruder. Er lief auf sie zu, umarmte sie, und nachdem er Andermatts Hand gedrückt, nahm er seine Schwester beim Arm und zog sie mit fort, indem er seinen Vater und Schwager zurückließ. Er war ein großer, eleganter Mensch, immer lustig wie sie, beweglich, einer, dem alles ganz gleich war, der aber immer Geld brauchte.

– Herrgott ich dachte, Du schliefst, sonst hätte ich Dir guten Tag gesagt. Und dann hat mich Paul heute früh nach dem Schloß von Tournoël geschleppt.

– Wer ist das: Paul? Ach so, Dein Freund.

– Paul Brétigny. Richtig, Du kennst ihn ja nicht. Er sitzt jetzt gerade im Bade.

– Ist er krank?

– Nein, aber er will trotzdem geheilt sein, er ist eben verliebt gewesen.

– Und da nimmt er kohlensaure Bäder – nicht wahr, man sagt doch: »kohlensaure Bäder«? – um wieder gesund zu werden?

– Gewiß, er thut alles, was ich ihm sage. Es hat ihn furchtbar gepackt, er ist ein schrecklich heftiger Mensch, er wäre beinahe daran gestorben, er hätte sich beinahe totgeschossen und sie auch. Es war eine Schauspielerin, eine ganz bekannte Schauspielerin. Er hat sie ganz irrsinnig geliebt, und dann war sie ihm nicht treu, verstehst Du, es war ein schreckliches Drama. Da habe ich ihn mitgenommen, jetzt geht es ihm besser, aber er denkt noch immer an sie.

Sie hatte bisher gelächelt, nun wurde sie ernst und meinte:

– O, es interessiert mich, den kennen zu lernen!

Und doch bedeutete für sie die Liebe nicht viel. Manchmal dachte sie daran, wie einer, der arm ist, an ein Perlenhalsband denkt, an ein Brillant-Diadem mit einem dumpfen Wunsch, dies vielleicht, aber doch nur sehr ungewiß, einmal zu erhalten. Sie hatte davon nur eine Vorstellung durch einige Romane, die sie aus Langeweile gelesen, ohne weiter etwas darauf zu geben. Sie hatte nie weiter geträumt und gehofft, sie war immer glücklich, ruhig, zufrieden gewesen, und obgleich sie seit zweieinhalb Jahren verheiratet war, war sie noch nie aus diesem Zustand erwacht, in dem die naiven jungen Mädchen leben, aus diesem Schlaf des Herzens, der Gedanken und der Sinne, der bei manchen Frauen währt, solange sie leben.

Das Dasein schien ihr einfach ganz angenehm, ohne besondere Schwierigkeiten, nie hatte sie nach dem Warum geforscht. Sie lebte, schlief, zog sich gern geschmackvoll an, lachte, war zufrieden, was wollte sie mehr?

Als man ihr Andermatt als ihren Bräutigam vorgestellt, hatte sie sich zuerst geweigert in kindischer Empörung, einen Juden heiraten zu sollen. Ihr Vater und ihr Bruder, die die gleiche Abneigung besaßen wie sie, antworteten, mit ihr und wie sie, durch eine förmliche Ablehnung.

Andermatt verschwand, stellte sich tot, aber nach drei Monaten hatte er Gontran zwanzigtausend Francs geliehen, und der Marquis begann aus anderen Gründen anderer Ansicht zu werden. Er gab aus Prinzip immer nach, wenn man öfters anklopfte, aus egoistischem Ruhebedürfnis. Seine Tochter sagte von ihm:

– Papa weiß nicht, was er will!

Und das stimmte. Er hatte keine unumstößlichen Ansichten, keinen Glauben, er war nur immer ab und zu für irgend etwas anderes begeistert. Ab und zu berauschte er sich in einer flüchtigen poetischen Anwandlung an den alten Überlieferungen seiner Rasse und wünschte sich einen König, aber einen klugen, liberalen Monarchen, einen mit der Neuzeit fortgeschrittenen König. Und dann wieder, wenn er ein Buch von Michelet oder irgend einem demokratischen Denker gelesen hatte, schwärmte er für Gleichheit der Menschen, für moderne Ideen, für Entschädigung der Armen, der Bedrückten, der Leidenden. Er glaubte an alles, je nach Stimmung und Stunde.

Und als seine alte Freundin Icardon, die mit vielen Juden bekannt war und gern die Partie Christiane-Andermatt gemacht hätte, ihm zuzureden begann, wußte sie ganz genau, wie man ihn fassen mußte. Sie setzte ihm auseinander, für das jüdische Volk wäre jetzt die Zeit der Rache gekommen, es wäre ein armes, unterdrücktes Volk, wie die Franzosen vor der Revolution, aber nun würde es die anderen unterkriegen durch die Macht seines Goldes.

Der Marquis, der keinen religiösen Glauben besaß und überzeugt war, daß der Gottesbegriff nur ein politischer Begriff sei, besser geeignet, die Dummen und Furchtsamen zu stützen, als der Glaube an die staatliche Gerechtigkeit, betrachtete die Dogmen mit respektvoller Gleichgiltigkeit und hatte für Confucius, Mahomed und Christus die gleiche Hochachtung. Daß man Jesus ans Kreuz geschlagen, erschien ihm nicht als schweres Unrecht, sondern mehr wie eine politische Ungeschicklichkeit.

So bedurfte es nur ein paar Wochen, und dann war er voll Bewunderung für die unausgesetzte, heimliche, unermüdliche, allmächtige Arbeit der überall verfolgten Juden. So sah er ihre augenscheinliche Übermacht mit anderen Augen an, nämlich als einen gerechten Entgelt für ihre lange Knechtschaft; er erblickte sie als Herren der Könige, die wiederum Herren der Völker sind, als Stützen oder als Zerstörer der Throne, die ein ganzes Volk zum Bankrott bringen konnten, wie man einen Weinhändler bankrott macht. Er sah sie stolz vor kleingewordenen Fürsten, sah sie ihr unsauber erworbenes Gold in die offenen Kassen der allerchristlichsten Herrscher werfen, und sah sie von diesen belohnt mit Adelstiteln und Eisenbahn-Konzessionen.

Und er willigte ein in die Ehe zwischen William Andermatt und Christiane von Ravenel.

Sie aber stand unter dem Druck der Frau Icardon, einer Freundin ihrer Mutter, die seit dem Tode der Marquise ihre intimste Ratgeberin geworden war, und zu diesem Druck kam noch der ihres Vaters und die egoistische Gleichgiltigkeit ihres Bruders. Da willigte sie endlich ein, den reichen Mann zu heiraten, der zwar nicht übel war, aber ihr gar nicht gefiel, genau so, wie sie eingewilligt hätte, etwa einen Sommer in einer häßlichen Gegend zu verbringen.

Jetzt fand sie, er sei ein ganz guter Kerl, gefällig, nicht dumm, zu Haus sehr nett. Aber mit Gontran, dem das Gefühl der Dankbarkeit dem Schwager gegenüber lästig war, machte sie sich oft über ihn lustig. Er sagte zu ihr:

– Dein Herr Gemahl ist rosiger und kahler denn je. Er sieht aus wie eine kranke Blume, oder wie ein geschorenes Spanferkel. Wo hat er nur die Farbe her?

Sie antwortete:

– Ich weiß wahrhaftig nicht. Manchmal möchte ich ihn am liebsten auf eine Bonbonniere kleben.

Sie kamen an das Kurhaus, dort saßen zwei Männer auf den Strohstühlen, den Rücken an der Mauer, zu beiden Seiten der Thür und rauchten ihre Pfeifen. Gontran sagte:

– Sieh mal, das sind zwei echte Typen. Sieh nur den rechts an mit der griechischen Mütze, das ist der alte Printemps, früher Gefängniswärter in Riom, der jetzt hier Portier, beinahe Direktor des Kurhauses ist. Für ihn hat sich nichts geändert, der schuhriegelt hier die Kranken wie früher seine Gefangenen, denn die Kurgäste sind immer Gefangene. Die Badekabinen sind wie Gefängnis-Zellen, der Douchesaal wie ein Kerker, und der Ort, wo Doktor Bonnefille den Magen auspumpt, das ist die reine Folterkammer. Unter diesem Gesichtspunkt grüßt er keinen Menschen, denn alle Gefangenen sind minderwertige Geschöpfe. Gegen die Damen ist er viel artiger, er hat gegen sie etwas halb wie Achtung, halb wie Erstaunen, denn im Gefängnis von Riom gabs keine, das ist nämlich bloß eine Anstalt für Männer, auch ist er die Unterhaltung mit Frauen nicht gewöhnt. – Der andere ist der Kassierer, wir wollen Dich mal einschreiben lassen, dann wirst Du sehen.

Und Gontran sagte langsam zu dem Manne zur Linken:

– Herr Séminois, meine Schwester, Frau Andermatt, möchte ein Abonnement auf zwölf Bäder.

Der Kassierer, groß, mager, etwas armselig gekleidet, erhob sich, trat in das Bureau, das dem Sprechzimmer des Arztes gegenüberlag, öffnete sein Buch und fragte:

– Wie ist der Name?

– Andermatt!

– Wie meinen Sie?

– Andermatt.

– Wie wird das geschrieben?

– A-n-d-e-r-m-a-t-t.

– Sehr wohl!

Und er schrieb langsam. Als er fertig war, fragte Gontran:

– Bitte, wollen Sie den Namen mal wiederholen?

– Gewiß mein Herr: Frau Anterpat.

Christiane lachte bis zu Thränen, dann fragte sie:

– Sag mal,was ist denn das für ein Lärm da oben?

Gotran nahm sie am Arm:

– Komm mit!

Wütendes Schreien tönte die Treppe herab; sie stiegen hinauf, öffneten eine Thür, und gewahrten einen großen Caféhaussaal, ein Billard in der Mitte. Zu beiden Seiten des Billards brüllten sich zwei Männer in Hemdsärmeln, das Billard-Queue in der Hand, wütend an:

– Achtzehn!

– Siebzehn!

– Ich sage Ihnen, es sind Achtzehn!

– Das ist nicht wahr, Sie haben Siebzehn!

Es war der Kasino-Direktor, Herr Petrus Martel vom Odéon, der seine gewohnte Partie spielte mit dem Komiker seiner Truppe, Herrn Lapalme vom Stadttheater in Bordeaux. Petrus Martel, dessen gewaltiger Leib unter dem Hemd wackelte über der Hose, die, man wußte nicht wie, festgemacht war, war Kasino-Direktor von Enval geworden, nachdem er als Schmieren-Komödiant in allen Städten sich umhergetrieben. Jetzt verbrachte er den Tag damit, die für die Kurgäste bestimmten Getränke zu konsumieren. Er hatte einen gewaltigen Wachtmeister-Schnurrbart, an dem von früh bis abends der Bierschaum hing oder die süße Fettigkeit der Schnäpse. Und er hatte dem von ihm angeworbenen alten Komiker eine fabelhafte Begeisterung für das Billardspiel beigebracht.

Kaum waren sie aufgestanden, so spielten sie eine Partie,, schimpften und bedrohten sich, wischten einander die angekreideten Striche aus, begannen wieder von neuem, hatten kaum Zeit zum Frühstück und duldeten nicht, daß irgend jemand anders etwa auch spielte. So hatten sie alle übrigen Menschen in die Flucht geschlagen und fanden ihr Leben sehr erträglich, obgleich für das Ende der Saison Petrus Martel der Bankrott drohte.

Die Buffetdame sah von früh bis abends dieser endlosen Partie zu und hörte von früh bis abends den ununterbrochenen Streit und reichte von früh bis abends Bier und Schnaps den beiden unermüdlichen Spielern.

Gontran zog seine Schwester weiter:

– Komm in den Park, da ist es frischer!

Am Ende der Kuranlagen erblickten sie plötzlich das Orchester in einem chinesischen Kiosk. Ein langer, blonder Mensch spielte begeistert Violine, dirigierte mit dem Kopf und mit den wild hin- und herfliegenden Haaren, mit seinem ganzen Leib; bog sich zusammen, richtete sich wieder auf, drehte sich nach rechts und links wie der Taktstock des Kapellmeisters. Drei seltsame Musiker saßen ihm gegenüber. Es war der Maëstro Saint-Landri. Er und seine Gehilfen, ein Klavierspieler, dessen Instrument auf Rollen jeden Morgen vom Vorsaal des Kurhauses bis zum Kiosk geschoben wurde, ein Flötist, der immer aussah, als saugte er an einem Streichholz, das er mit seinen dicken, fetten Fingern klopfte, und ein Contre-Bassist, der lungenkrank aussah. Diese vier Menschen brachten mit schrecklicher Anstrengung diese wunderbare Nachahmung eines üblen Leierkastens hervor, die Christiane schon auf der Dorfstraße aufgefallen war. Als sie stehen blieb, um die Leute zu betrachten, grüßte jemand ihren Bruder.

– Guten Morgen, lieber Graf!

– Guten Morgen, Doktor!

Gontran stellte vor:

– Doktor Honorat – meine Schwester.

Sie konnte kaum ihre Heiterkeit bemeistern, als sie den dritten Arzt ansah. Er grüßte und meinte artig:

– Ich hoffe, gnädige Frau, Sie sind nicht krank?

– Doch ein wenig.

– Oh!

Er fragte nicht weiter, sondern sprach von anderem.

– Lieber Graf, Sie wissen doch daß uns bald etwas sehr Interessantes bevorsteht?

– Was denn?

– Der alte Oriol will seinen Felsen sprengen. Ja, das ist für Sie weiter nichts Besonderes, aber für uns ein großes Ereignis.

Und er erklärte, der alte Oriol wäre der reichste Bauer der ganzen Gegend, – man schätze ihn auf mehr als fünfzigtausend Francs jährliches Einkommen und er besäße alle Weinberge an der Mündung des Thales von Enval. Da gab es nun gerade am Ausgang des Dorfes, wo das Thal ganz weit wurde, einen kleinen Berg, oder vielmehr einen großen Hügel, und auf diesem Hügel waren die besten Weinbergs-Anlagen des alten Oriol.

Mitten darin, zwei Schritt nur vom Bach, an der Straße erhob sich ein gewaltiger Stein, ein Fels, der für den Weinbau sehr hinderlich war und auf einen großen Teil des Feldes, das er überhöhte, Schatten warf.

Seit zehn Jahren kündigte der alte Oriol fortwährend an, er würde seinen Fels sprengen, aber er konnte sich nie dazu entschließen. Jedesmal, wenn jemand aus der Gegend zum Militär ausgehoben wurde, sagte der Alte zu ihm:

– Wenn Du uf Urlaub kummst, bring mir ä Bissl Pulver mit für mei Stein.

Und alle die Rekruten brachten dann immer ein wenig Pulver in der Tasche mit, das sie für den Stein des alten Oriol gemaust hatten. Er hatte jetzt einen ganzen Kasten voll zu Haus, und der Fels flog noch immer nicht in die Luft. Jetzt aber, seit einer Woche saßen Vater und Sohn, – sein Sohn der große Jakob mit dem Spitznamen »Koloß« oder wie die Auvergnaten sagten: »Kuluß« – darunter und wühlten. Heute früh hatten sie die Höhlung unter dem großen Felsblock mit Pulver gefüllt, dann hatte man alles zugestopft und nur eine Öffnung für die Lunte gelassen, eine Lunte, wie man sie zu den Feuerzeugen benutzt, die man beim Zigarrenhändler kauft. Um zwei Uhr sollte sie angesteckt werden, fünf oder spätestens zehn Minuten nach zwei, denn die Zündschnur war sehr lang, mußte der Fels springen.

Christiane interessierte sich für die Geschichte, ihr machte die Sprengung Spaß, es erinnerte ihre einfache Seele an ein Spiel aus ihrer Kinderzeit. Sie kamen an das Ende des Parkes:

– Wo geht's hier hin?

Doktor Honorat antwortete:

– Ans Ende der Welt, gnädige Frau, das heißt in eine Höhle ohne Ausgang, berühmt in der ganzen Auvergne, es ist eine der größten Sehenswürdigkeiten der Gegend.

Aber eine Glocke klang hinter ihnen. Gontran rief:

– Ah, man läutet zum Frühstück.

Sie drehten um. Ein junger Mann kam ihnen entgegen. Gontran rief:

– Meine kleine Christiane, ich stelle dir meinen Freund Brétigny vor.

Dann sagte er zu dem andern:

– Du, das ist meine Schwester.

Sie fand ihn häßlich. Er hatte schwarzes, glattes, straffes Haar, zu runde Augen von fast hartem Ausdruck. Der Kopf war gleichfalls rund, stark, einer jener Schädel, bei denen man unwillkürlich an Kanonenkugeln denkt. Der junge Mann hatte breite Schultern und sah ein wenig schwer, brutal und wild aus. Aber sein Anzug, seine Wäsche, vielleicht seine Haut strömte einen zarten eigenen Duft aus, den die junge Frau nicht kannte, und sie fragte sich: »Nach was riecht denn der?«

Er fragte:

– Gnädige Frau, Sie sind heute früh angekommen?

Seine Stimme klang ein wenig dumpf. Sie antwortete:

– Jawohl.

Aber Gontran sah jetzt den Marquis und Andermatt, die ihnen Zeichen machten, schnell zum Frühstück zu kommen. Doktor Honorat verabschiedete sich von ihnen, indem er noch einmal fragte, ob sie wirklich die Sprengung des Felsens mit ansehen wollten. Christiane sagte:

– Auf jeden Fall!

Sie lehnte sich auf ihres Bruders Arm und flüsterte ihm zu, während sie ihn zum Hotel zog:

– Ich bin hungrig wie ein Wolf, ich schäme mich ordentlich vor Deinem Freunde so viel zu essen.

 


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