Guy de Maupassant
Mont Oriol
Guy de Maupassant

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III

Am nächsten Tage wollte man eben zu Tisch gehen in das Privatzimmer, wo Andermatts und Ravenels aßen, als Gontran die Thür öffnete und rief:

– Die beiden Fräulein Oriol!

Sie traten etwas verlegen ein, indem er sie lachend hereinnötigte und dabei erklärte:

– Ich habe sie auf der Straße alle beide eingefangen. Übrigens war man allgemein empört, denn ich habe sie mit Gewalt hereingeschleppt, da ich mich mit Fräulein Louise auseinandersetzen muß, das konnte ich doch nicht vor allen Leuten.

Er nahm ihnen die Hüte ab, die Sonnenschirme, die sie trugen, denn sie kamen von einem Spaziergang, ließ sie sich setzen, umarmte seine Schwester, drückte seinem Vater, seinem Schwager und Paul die Hand und wandte sich dann zu Louise Oriol:

– Nun, gnädiges Fräulein, wollen Sie mir mal sagen, was Sie seit einiger Zeit gegen uns haben?

Sie schien ängstlich wie ein im Netz gefangener Vogel, den der Vogelsteller mit sich nimmt:

– O nichts, Herr Graf, gar nichts, warum glauben Sie das?

– O bitte, gnädiges Fräulein, Sie kommen nicht mehr herüber, Sie fahren nicht mit in der Arche Noah (so hatte er den Landauer getauft) Sie machen ein finsteres Gesicht, wenn ich Ihnen begegne und wenn ich mit Ihnen spreche.

– Aber durchaus nicht, ich versichere Ihnen – –

– O bitte, ich versichere Ihnen auch. Jedenfalls möchte ich nicht, daß es so weiter geht, und wir wollen den Frieden jetzt unterzeichnen. Und wissen Sie, ich bin eigensinnig, ich werde dem schon ein Ende machen, und Sie zwingen nett zu sein, wie Ihre Schwester, die ein Engel an Nettigkeit ist.

Das Essen wurde gemeldet, und sie gingen in das Eßzimmer. Gontran reichte Louise den Arm. Er war voll Aufmerksamkeit für sie und ihre Schwester, indem er mit wundervollem Takt seine Komplimente verteilte. Er sagte zur älteren:

– Gnädiges Fräulein, ich will Sie erobern, und ich sage Ihnen das als korrekter Feind vorher, ich werde Ihnen sogar den Hof machen. O Sie erröten, das ist ein gutes Zeichen. Sie werden sehen, daß ich sehr nett bin, wenn ich nur will, nicht wahr, Fräulein Charlotte?

Und sie erröteten in der That alle beide. Louise stammelte in ihrer ernsten Art:

– Ach, Sie sind ja ganz närrisch!

Aber er antwortete:

– Ach was, Sie werden noch ganz andere Sachen hören, später in der großen Welt, wenn Sie erst verheiratet sind, was ja nicht mehr lange dauern wird. Da wird man Ihnen aber Komplimente machen!

Christiane und Paul Brétigny fanden es sehr gut, daß er Louise Oriol mitgebracht, der Marquis lächelte, durch dieses kindliche Geplauder angeregt, und Andermatt dachte: der Kerl ist gar nicht dumm! Aber Gontran, der angeregt war durch die Rolle, die er spielen mußte, obgleich seine Sinne ihn zu Charlotte zogen, brummte zwischen den Zähnen, indem er Louise zulächelte:

– Ja, Dein alter Vater, der hat mich reinlegen wollen, aber ich werde Dich jetzt im Triumphe holen und Du sollst mal sehen, ob ich das nicht schlau anfange.

Er sah sie eine um die andere an und verglich sie. Die jüngere gefiel ihm besser, sie war lebhafter mit ihrer etwas aufgeworfenen Nase, ihren lebhaften Augen, ihrer schmalen Stirn und den schönen, ein wenig zu großen Zähnen in dem ein wenig zu großen Mund. Aber die andere war auch hübsch, nicht so heiter, sie würde nicht viel Geist entwickeln, aber wenn man auf einem Ball melden würde: Frau Gräfin Ravenel, so könnte sie ihren Namen mit Ehren tragen, besser vielleicht als die jüngere, die nur wenig mit der vornehmen Welt in Berührung gekommen war.

Aber mochte das sein, wie es wollte, er war wütend, er war empört auf alle beide, auf den Vater und auf den Bruder und er nahm sich vor, es jenen später mal heimzuzahlen, wenn er der Herr war.

Als man in den Salon zurückgekehrt war, ließ er sich von Louise die Karten deuten, die das sehr gut verstand. Der Marquis, Andermatt und Charlotte hörten aufmerksam zu, wider Willen von dem Reiz des Unbekannten, des Unwahrscheinlichen, von diesem unwiderstehlichen Glauben an das Wunderbare angezogen, der die Menschen quält und oft die stärksten Geister angesichts der thörichten Erfindung eines Charlatans frappiert.

Paul und Christiane plauderten am offenen Fenster. Sie war unglücklich seit einiger Zeit, sie fühlte sich nicht mehr so geliebt, und die gegenseitige Verstimmung wuchs täglich durch beiderseitige Schuld. Zum erstenmal hatte sie das herannahende Unglück geahnt am Abend des Festes, als sie mit Paul auf der Straße gegangen. Und da sie einsah, daß er nicht mehr dieselben zärtlichen Blicke für sie hatte, denselben liebenden Ausdruck in der Stimme, sich nicht mehr so leidenschaftlich um sie kümmerte wie früher, ward sie sehr traurig. Sie konnte den Grund der Veränderung, die in ihm vorgegangen, nicht herausfinden, und doch war es schon so seit langem, seit jenem Tage, wo sie ihm in ihrem Glück zugerufen:

– Hör mal, ich glaube, ich bin wirklich guter Hoffnung!

Da hatte er sofort ein unangenehmes Gefühl empfunden. Nun sprach sie ihm jedes Mal, wo sie sich sahen, von ihrem Zustand, der sie glückselig machte. Und dieses Beschäftigen mit etwas, das er häßlich, schmutzig fand, löschte seine Bewunderung für sein Idol. Später, als er sie verändert fand, abgemagert, mit hohlen Wangen, gelber Hautfarbe, meinte er, sie hätte ihm das ersparen und ein paar Monate verreisen sollen, um nachher frischer und hübscher wie je wieder zu erscheinen, indem sie diesen Zwischenfall vergessen zu machen verstand, oder vielleicht zu dem koketten Reiz der Geliebten noch einen anderen Reiz, den klugen und diskreten der jungen Mutter hinzufügte, die ihr Kind nur von weitem sehen läßt, in Spitzen und rosa Bändern.

Übrigens gab es eine gute Gelegenheit, den Takt zu zeigen, den er von ihr erwartete, indem sie den Sommer in Mont Oriol verbrachte und ihn ruhig in Paris ließ, daß er sie nicht so matt und entstellt sah. Er hoffte, sie würde das fühlen. Aber kaum war sie in die Auvergne gekommen, so hatte sie ihm unaufhörlich verzweifelte Briefe gesandt, in denen sie ihn zu sich rief, daß er aus Schwäche, aus Mitleid gekommen war. Und nun überschüttete sie ihn mit ihrer Zärtlichkeit, und er fand das unendliche Bedürfnis, sie zu verlassen, sie nicht mehr zu sehen, ihr unpassendes, verstimmendes Liebeslied nicht mehr zu hören. Er hätte ihr alles sagen mögen, was er auf dem Herzen hatte, ihr erklären, wie unsinnig und thöricht sie sich benahm; aber er konnte es nicht thun, und er wagte auch nicht abzureisen, aber er konnte sich nicht enthalten, ihr seine Ungeduld in bitteren und verletzenden Worten zu zeigen.

Sie litt darunter umsomehr, als sie sich täglich kränker und schwerer fühlte und alle Unannehmlichkeiten der Frauen in ihrem Zustand durchmachen mußte und mehr wie je getröstet, verwöhnt und geliebt sein wollte. Sie liebte ihn mit jener Hingebung des Körpers und der Seele, ihres ganzen Wesens, das aus der Liebe manchmal ein rückhaltloses, unbegrenztes Opfer macht. Sie hielt sich nicht mehr für seine Geliebte, sondern für seine Frau, seine Gefährtin, seine treue, für ihn im Staub liegende Sklavin. Für sie handelte es sich nicht mehr um Galanterie oder Koketterie, nicht mehr um den Wunsch, ihm zu gefallen, da sie ihm doch vollkommen gehörte, da sie durch jene süße und so starke Kette miteinander verbunden waren – das Kind.

Sobald sie allein am Fenster standen, begann sie mit ihrer traurigen Stimme:

– Paul, mein lieber Paul, sag, liebst Du mich noch so sehr?

– Ja gewiß. Aber das sagst Du mir unaufhörlich, das wird nun langweilig.

– Verzeihe mir, aber ich kanns nicht mehr glauben, und ich muß es immer wieder von Dir hören, ich muß es von Dir hören, daß Du es mir unausgesetzt sagst, dieses süße Wort. Und da Du es mir nicht mehr so oft sagst wie früher, muß ich Dich eben fragen, bitten und betteln.

– Nun ja, ich liebe Dich, aber nun wollen wir bitte von etwas anderem reden.

– O, bist Du hart!

– Nein, ich bin nicht hart, nur weißt Du, Du verstehst nicht . . . Du verstehst nicht, daß . . . .

– Ja ja, ich verstehe, daß Du mich nicht mehr liebst, ach wenn Du wüßtest, wie ich leide!

– Herrgott, Christiane, ich beschwöre Dich, mach mich doch nicht nervös, wenn Du nur selbst wüßtest, wie kindlich Du Dich benimmst.

– Ach, wenn Du mich liebtest, würdest Du nicht so sprechen.

– Nun, zum Donnerwetter noch mal, wenn ich Dich nicht liebte, wäre ich doch nicht gekommen!

– Höre mal, Du gehörst mir jetzt, Du gehörst mir und ich Dir. Zwischen uns ist dieses unzerreißbare Band eines neuen Lebens, aber versprich mir, daß Du es mir sagst, wenn Du mich einmal, später, nicht mehr liebst.

– Ja, ich verspreche es Dir.

– Schwörst Du es mir?

– Ich schwöre es Dir.

– Und wir würden trotzdem Freunde bleiben?

– Ja, wir würden Freunde bleiben.

– Also an dem Tage, wo Du mich nicht mehr liebst, wirst Du zu mir kommen und mir sagen: Meine kleine Christiane, ich habe Dich gern, aber es ist nicht mehr so wie früher. Wir wollen gute Freunde sein, nur Freunde.

– Gut, einverstanden, ich verspreche es Dir.

– Du schwörst es mir?

– Ich schwöre.

– Ach ich werde trotzdem so vielen Kummer haben! O, wie liebtest Du mich letztes Jahr!

Da schrie eine Stimme hinter ihnen:

– Die Frau Herzogin von Ramas Aldavarra!

Sie kam als gute Nachbarin, denn Christiane empfing jeden Abend die vornehmsten Badegäste in ihren Räumen. Doktor Mazelli folgte der schönen Spanierin mit ergebener Miene. Die beiden Frauen drückten sich die Hand und begannen sich zu unterhalten.

Andermatt rief Paul:

– Mein lieber Freund, kommen Sie doch, Fräulein Oriol legt ganz großartig die Karten, sie hat mir erstaunliche Dinge gesagt.

Er nahm ihn beim Arm und fügte hinzu:

– Was sind Sie für ein komischer Mensch! In Paris sehen wir Sie beinahe nie, einmal monatlich, trotz aller Bitten meiner Frau, und hier sind Sie erst nach fünfzehn Briefen gekommen und seitdem Sie angekommen sind, sehen Sie aus, als ob Sie täglich eine Million verloren hätten, so ein Gesicht machen Sie. Haben Sie irgend etwas, was Sie stört, kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein, sagen Sie es doch.

– Aber nein, gar nicht, mein Lieber, ich komme in Paris nicht öfter, weil in Paris – – verstehen Sie – –

– Ja, ja, ich verstehe, nun aber hier wenigstens müssen Sie ein bißchen guter Laune sein. Ich werde zwei oder drei Feste arrangieren, die, denke ich, sehr hübsch werden.

Man meldete Frau Barre und Herrn Professor Cloche. Er trat mit seiner Tochter ein, einer jungen, rothaarigen, kecken Witwe, und fast zu gleicher Zeit meldete der Diener Herrn Professor Mas-Roussel. Seine Frau begleitete ihn, bleich, überreif, mit glatt an die Schläfen geklebtem Haar.

Professor Rémusot war am Tage vorher abgereist, nachdem er seine Villa gekauft hatte, wie man erwartet, zu äußerst günstigen Bedingungen. Die beiden anderen Ärzte hätten gern die Bedingungen erfahren, aber Andermatt antwortete nur:

– O wir haben die Sache so vorteilhaft wie möglich gemacht für alle Teile, und wenn Sie auch wollen, so würden wir, denke ich, schon einig werden. Wenn Sie sich etwa entschieden haben, so sagen Sie es mir nur bitte, wir werden dann weiter über die Sache reden.

Doktor Latonne erschien auch, dann Doktor Honorat ohne seine Frau, die er nie zeigte. Nun erfüllte den Salon Stimmengewirr. Gontran kam Louise Oriol nicht mehr von der Seite, sprach ihr ganz nahe über die Schulter, und ab und zu sagte er zu irgend jemand, der gerade vorüber kam:

– Ich erobere eine feindliche Festung!

Mazelli hatte sich neben die Tochter des Professor Cloche gesetzt. Seit ein paar Tagen folgte er ihr unausgesetzt, und sie nahm sein Courmachen fast herausfordernd entgegen.

Die Herzogin verlor ihn nicht aus den Augen, sie schien erregt, und plötzlich erhob sie sich, ging durch den Salon und unterbrach das Gespräch ihres Arztes mit der hübschen Rotblonden:

– Hören Sie mal, Mazelli, wir wollen gehen, ich befinde mich nicht ganz wohl.

Sobald sie draußen waren, näherte sich Christiane Paul und sagte:

– Arme Frau, sie muß viel leiden!

Er fragte verwirrt:

– Wer denn?

– Die Herzogin. Sahen Sie nicht, wie eifersüchtig sie ist?

Er antwortete hart:

– Na wenn Sie jetzt über jede Sache sich aufregen wollen, werden Sie noch viel weinen müssen.

Sie wandte sich ab, wirklich fast Thränen in den Augen, so grausam fand sie ihn, und setzte sich zu Charlotte Oriol, die ganz allein geblieben war, und sie sagte zu dem jungen Mädchen, das den Sinn ihrer Worte nicht begriff:

– Es giebt Tage, wo man am liebsten tot sein möchte!

Andermatt erzählte, von den Ärzten umgeben, den außergewöhnlichen Fall des alten Clovis, dessen Beine wieder ordentlich bewegungsfähig wurden. Er schien von der Sache so überzeugt, daß niemand an seinem guten Glauben zweifeln konnte. Seitdem er all die Listen des alten Bauern und des Gelähmten durchschaut und begriffen hatte, daß er sich hatte ein Jahr zuvor reinlegen lassen, allein durch seinen Wunsch, an die Wunderwirkung der Quellen zu glauben, seitdem er sich des Alten gefährliches Gejammer nicht hatte vom Leibe schaffen können ohne zu zahlen, hatte er eine gewaltige Reklame daraus gemacht und trug sie nun überall hin.

Mazelli kehrte zurück, er war jetzt frei, er hatte seine Patientin auf ihr Zimmer gebracht.

Gontran nahm ihn beim Arm:

– Sagen Sie mal, schöner Doktor, geben Sie mir mal einen Rat, welche der beiden Oriols ist Ihnen lieber?

Der hübsche Arzt flüsterte ihm ins Ohr:

– Ohne Ring am Finger die Jüngere, mit Ring die Ältere!

Gontran lachte:

– Wir sind ganz einer Ansicht, das freut mich.

Dann ging er zu seiner Schwester, die immer noch mit Charlotte sprach:

– Du weißt es wohl noch nicht, ich habe eben ausgemacht, daß wir am Donnerstag nach Puy de la Nugère fahren? Das ist der schönste Krater in der ganzen Bergkette. Alle sind einverstanden, ist es fest abgemacht?

Christiane sagte gleichgültig:

– Ich thue alles, was ihr wollt.

Aber Professor Cloche, von seiner Tochter begleitet, hatte eben Abschied genommen, und Mazelli, der sich beeilte, sie nach Haus zu bringen, verließ den Salon hinter der jungen Witwe.

Ein paar Minuten darauf brachen alle auf, Christiane ging um elf Uhr zu Bett, der Marquis, Paul und Gontran begleiteten die beiden Oriol. Gontran und Louise gingen voraus, und Brétigny, ein paar Schritte hinterdrein, fühlte, wie Charlottes Hand auf seinem Arm ein wenig zitterte.

Man trennte sich und rief:

– Also Donnerstag elf Uhr Frühstück im Hotel.

Als sie zurückkehrten, begegneten sie Andermatt, an der Gartenecke von Professor Mas-Roussel zurückgehalten, der ihm sagte:

– Also wenn es Ihnen recht ist, werde ich morgen früh zu Ihnen kommen, um über die Angelegenheit wegen der Villa zu sprechen.

William schloß sich den beiden jungen Leuten an um heimzukehren und flüsterte seinem Schwager ins Ohr:

– Allerhand Hochachtung, das hast Du ausgezeichnet gemacht!

Gontran war seit zwei Jahren von Geldnot fortwährend gequält, was ihm sein ganzes Leben vergiftete. Solange er das Vermögen seiner Mutter verbrauchte, hatte er mit der Gleichgiltigkeit, die er von seinem Vater geerbt, dahingelebt unter den jungen, reichen, blasierten, verdorbenen Leuten, die jeden Morgen in den Zeitungen erwähnt werden, die der guten Gesellschaft angehören, aber selten dort zu finden sind, und die durch fortwährenden Verkehr mit der Halbwelt, innerlich und äußerlich wie jene Mädchen werden.

Es war etwa ein Dutzend, die zusammenhielten; jede Nacht konnte man sie in demselben Restaurant auf dem Boulevard zwischen zwei und drei Uhr früh treffen. Sie waren sehr elegant gekleidet, trugen immer Frack und weiße Weste, Knöpfe in den Hemden von zwanzig Louisdors Wert und zwar jeden Monat andere, die sie bei den ersten Juwelieren kauften. Sie lebten nur zu ihrer Unterhaltung, nur um Frauen zu verführen, nur mit dem Bedürfnis, von sich reden zu machen und sich auf alle mögliche Art Geld zu verschaffen.

Da sie nichts anderes kannten, als den neuesten Skandal, Klatsch aus der Halbwelt und aus der Stallatmosphäre, Duelle, Spielgeschichten, so war ihr Horizont wie mit Mauern umgeben. Sie hatten alle, auf dem Liebesmarkt bemerkenswerten Frauen gehabt, hatten sie von einer Hand zur andern gegeben, sie sich abgetreten, sie sich geborgt und sprachen untereinander von ihren Reizen, wie man von den Qualitäten eines Rennpferdes spricht.

Sie verkehrten auch in der lärmenden betitelten Welt, die immer genannt sein will und deren Frauen beinahe alle ganz bekannte Liebschaften hatten bei einem Ehemann, der nichts sieht oder nichts sehen will aus Gleichgiltigkeit, aus Dummheit oder aus Bequemlichkeit. Auch diese Frauen beurteilten sie wie die andern und machten wegen ihrer Geburt und ihrer sozialen Stellung nur einen ganz kleinen Unterschied.

Ihre moralischen Begriffe hatten sich gänzlich verschoben, da sie immerfort, um Geld aufzubringen, das sie zu ihrem Leben brauchten, neue Listen ersinnen mußten, die Wucherer zu täuschen, überall gepumpt zu bekommen, die Lieferanten anzuführen, den Schneider auszulachen, der ihnen alle halbe Jahr die um dreitausend Francs vergrößerte Rechnung präsentierte, und dabei wurden sie von den Mädchen mit allen Mitteln ausgesogen, und wußten und fühlten, daß alle Welt sie selbst übers Ohr haute, die Diener, die Kaufleute, die Restaurateure und alle anderen, und dann ließen sie sich in gewisse Börsenmanöver und alle möglichen zweifelhaften Geschichten ein die ihnen vielleicht ein paar Louis einbrachten. Ihr einziger Ehrenpunkt war, jeden zu fordern, der sie verdächtigte, irgend etwas gethan zu haben von all den Dingen, die sie wirklich begangen oder zu begehen im Stande waren.

Alle oder beinahe alle mußten, nachdem sie ein paar Jahre dieses Leben geführt, mit einer reichen Heirat enden oder mit einem Skandal, oder durch Selbstmord, durch geheimnisvolles Verschwinden, das dem Tode gleichkommt. Aber sie rechneten doch alle auf die reiche Heirat. Die einen hofften, jemand aus ihrer Familie könne sie ihnen verschaffen, die anderen suchten selbst, ohne daß es den Anschein hatte, und besaßen Listen aller Erbinnen, wie ein Verzeichnis von Häusern die verkäuflich sind. Sie spähten vor allen Dingen nach den exotischen Damen aus, den Nord- oder Süd-Amerikanerinnen, die sie durch ihren Chick fesseln könnten, durch ihren Ruf als Lebemann, durch das Renommé ihrer Erfolge und durch ihre persönliche Eleganz. Und ihre Lieferanten hofften ebenso auf eine reiche Heirat. Aber diese Jagd nach den reichen Erbinnen konnte immerhin lange dauern, jedenfalls verlangte sie Vorbereitung, gewisse Anstrengungen, Besuche, Liebenswürdigkeiten, einen ganzen energischen Feldzug, zu dem Gontran der von Natur phlegmatisch war, gänzlich unfähig schien.

Seit langer Zeit schon sagte er sich, da er täglich mehr seinen Geldmangel empfand: Ich muß mal losgehen! Aber er ging nicht los und fand nichts. Er war dahin gekommen, alle möglichen Mittel zu versuchen, sich nur die geringste Summe zu ergattern, und hatte alle Schliche benutzt wie Leute, die am Ende ihrer Mittel sind. Und nun am Schluß hatte ihm Andermatt plötzlich den Gedanken eingeflößt, die kleine Oriol zu heiraten.

Zuerst schien ihm das junge Mädchen denn doch zu tief zu stehen, als daß er auf diese Mißheirat eingegangen wäre, aber als er ein paar Minuten nachgedacht, hatte er seine Absicht schnell geändert und hatte sich entschieden, Charlotte den Hof zu machen in einer Art, die ihn nicht kompromittierte und die ihm immer die Möglichkeit zum Rückzug ließ.

Da er seinen Schwager genau kannte, so wußte er bestimmt, daß dieser Vorschlag das Produkt von langen Überlegungen sein mußte, daß er von langer Hand vorbereitet war, und daß, wenn er es sagte, es sich um eine große Summe handelte, die auf andere Weise wohl kaum zu erwerben wäre.

Übrigens war es weiter ja gar nicht schwer, sich mit einem hübschen Mädchen zu unterhalten, denn die jüngere gefiel ihm sehr, und er hatte sich schon früher oft gesagt, es wäre ganz angenehm, sie später einmal wieder zu sehen. So hatte er Charlotte Oriol gewählt und sie in kurzer Zeit derartig bearbeitet, daß er regelrecht hätte anhalten können. Da nun aber der Vater der anderen Tochter die Mitgift gab, die Andermatt brauchte, hätte Gontran entweder auf die Heirat überhaupt verzichten, oder sich der älteren zuwenden müssen.

Er war sehr unzufrieden zuerst und hatte daran gedacht, seinen Schwager Schwager sein zu lassen und Junggeselle zu bleiben, bis sich eine andere Gelegenheit böte. Aber er befand sich gerade völlig auf dem Trocknen, so auf dem Trocknen, daß er zu seiner Partie im Kasino Paul um fünfundzwanzig Louis hatte bitten müssen, zu vielen anderen, die er ihm nie wiedergegeben.

Und dann hätte er sie erst suchen müssen diese Frau, sie finden, sie gewinnen, vielleicht hätte er sogar gegen eine ganze feindliche Familie anzukämpfen, während er so, ohne sich von der Stelle zu bewegen, nach ein paar Tagen Bemühungen und Aufmerksamkeiten, die älteste genau so gewinnen konnte, wie er es bei der jüngeren gethan, und auf diese Weise sicherte er sich dann in seinem Schwager einen Bankier, den er immer verantwortlich machen konnte, dem er ewig Vorwürfe machen durfte, dessen Kasse ihm immer offen stand.

Seine Frau aber wollte er einfach nach Paris bringen und sie dort vorstellen als die Tochter von Andermatts Teilhaber. Übrigens trug sie auch den Namen des Badeortes, wo er sie niemals, nie, nie wieder hinführen würde, nach dem Grundsatze, daß die Flüsse nicht zu ihren Quellen zurückkehren. Sie sah gut aus, sie hatte ein anständiges Benehmen und machte jetzt schon einen so vornehmen Eindruck, daß sie es vielleicht einmal ganz werden konnte. Sie war klug genug um sich in die Welt zu schicken, sich dort zu bewegen und ihre Rolle auszufüllen, sogar ihm Ehre zu machen. Man würde dann sagen: »Der Kerl hat eine schöne Frau geheiratet, aber er scheint sich nicht viel aus ihr zu machen.«

Und in der That, er würde sich nicht viel um sie kümmern, denn er würde, wenn er nur Geld in der Tasche hatte, sein Junggesellenleben wieder beginnen.

Er hatte sich also zu Louise Oriol gewendet und ohne es zu wissen, fand er einen Bundesgenossen in der Eifersucht, die in dem leicht erregten Herzen des jungen Mädchens tobte, und die in ihr eine noch schlafende Koketterie erweckt, den unbestimmten Wunsch, ihrer Schwester den schönen Liebhaber, den man: »Herr Graf« nannte, zu stehlen. Sie hatte sich das nicht gesagt, sie hatte nicht nachgedacht, nicht irgend welche Pläne gemacht, sie war erstaunt, als sie jetzt mit ihm gesprochen und als sie sah, wie er ihr den Hof machte. Sie hatte gefühlt an seinem Benehmen, an seinem Blick, an seiner ganzen Haltung, daß er gar nicht in Charlotte verliebt war, und ohne weiter zu blicken, fühlte sie sich glücklich darüber, als sie zu Bett ging.

Am nächsten Donnerstag zögerte man lange, ehe man nach Puy de la Nugère fuhr. Der Himmel war voller Wolken, daß man Regen befürchten mußte, aber Gontran bat so sehr, daß er die anderen überredete. Das Frühstück war langweilig, denn Christiane und Paul hatten sich am Tage vorher ohne eigentliche Ursache gezankt. Andermatt aber fürchtete, die Ehe Gontrans würde nicht zustande kommen, denn der Vater Oriol hatte noch am Morgen von ihm in nicht gerade sehr liebenswürdiger Weise gesprochen. Gontran wußte es, war wütend und wollte unbedingt zum Ziele gelangen. Charlotte, die den Triumph ihrer Schwester ahnte, ohne doch etwas davon zu begreifen, wollte durchaus im Dorf bleiben, und es kostete Mühe, sie zum Mitfahren zu bewegen.

Die Arche Noah nahm also wieder ihre gewohnten Insassen mit zu jenem kleinen Plateau, das über Volvic liegt.

Louise Oriol war plötzlich gesprächig geworden. Sie erklärte, wie die Volvicer Steine, die nichts anderes als Lava sind, zum Baumaterial gedient haben für alle Kirchen und alle Häuser in der ganzen Gegend, was den Orten der Auvergne ihr dunkles, rußiges Aussehen giebt. Sie zeigte die Brüche, wo man den Stein gewinnt.

Dann stieg man zum höheren Plateau hinauf, die Pferde gingen Schritt auf der langen, steilen Straße. Schöne, grüne Wälder lagen rechts und links des Weges. Niemand sprach mehr.

Christiane dachte an Tazenat, es war derselbe Wagen, es waren dieselben Menschen darin, aber nicht mehr dieselben Herzen. Alles schien gleich, und doch, und doch . . . . Was war denn nur geschehen? . . . Beinahe nichts . . . . Ein wenig mehr Liebe bei ihr, etwas weniger Liebe bei ihm, weiter nichts . . . Der Unterschied zwischen dem aufsteigenden und dem wieder verlöschenden Wunsch. Beinahe nichts . . . Und die unsichtbare Wunde, die die Gleichgiltigkeit der Liebe zufügt, beinahe nichts, beinahe nichts . . . Und der andere Blick derselben Augen, derselben Augen, die nicht mehr aus demselben Gesicht schauen . . . Was ist ein Blick? Beinahe nichts!

Der Kutscher hielt an und sagte:

– Hier rechts der Fußweg durch den Wald, Sie brauchen ihm nur zu folgen, dann kommen Sie hin.

Alle stiegen aus, nur der Marquis nicht, der es zu heiß fand. Louise und Gontran gingen voraus, Charlotte blieb hinter ihnen mit Paul und Christiane, die kaum mehr gehen konnte. Der Weg schien ihnen lang durch den Wald, aber sie kamen bald durch hohes Gras, das sie immer langsam aufwärts führte an den Rand des einstigen Kraters.

Louise und Gontran blieben oben stehen, groß, schlank alle beide. Sie standen dort wie in den Wolken. Als man sie eingeholt, brach Paul Brétignys empfängliche Seele in Begeisterung aus. Um sie herum, hinter ihnen, rechts, links, waren sie von seltsamen Kegeln umgeben, mit abgeschnittenen Spitzen, die einen schlank, die andern breit und alle mit ihrem eigentümlichen Charakter der erloschenen Vulkane.

Diese schweren Kegel mit abgeplatteter Spitze erhoben sich vom Süden bis zum Westen auf einem riesigen Plateau, das grau aussah, tausend Meter über der Limagne, und von hier ging der Blick ins Unendliche, bis zum unsichtbaren Horizont, der unter den Nebeln immer blau dalag.

Rechts überragte der Puy de Dôme alle seine Brüder, nämlich sechzig bis achtzig ganz erloschene Krater, wie die Puys de Gravenoire, de Crouel, de La Pedge, de Sault, de Noschamps, de la Vache, dann die Puys du Pariou, de Côme, de Jumes, de Tressoux, de Louchadière und viele andere.

Die jungen Leute blickten erstaunt hin, zu ihren Füßen lag der erste Krater von de la Nugère wie eine tiefe mit Rasen bewachsene Schüssel, in deren Grund man noch drei Riesenblöcke braune Lava gewahrte, die der letzte Ausbruch des Kolosses in die Höhe geworfen und die da in sein verloschenes Maul zurückgefallen waren und dort seit Jahrhunderten und für immer lagen.

Gontran rief:

– Ich klettere hinunter, ich muß mal sehen wie das unten ist. Nun meine Damen kommen Sie, wir wollen mal einen kleinen Wettlauf den Abhang hinab machen.

Und er nahm Louises Arm und zog sie davon. Charlotte folgte ihnen und lief hinter ihnen drein, Plötzlich aber blieb sie stehen, sah sie davoneilen. Arm in Arm hinabspringend. Sie wandte sich um und stieg zu Christiane und Paul wieder hinauf, die am Rand des Kraters im Grase saßen. Als sie wieder neben ihnen stand, sank sie in die Kniee, verbarg ihr Gesicht im Kleid der jungen Frau und begann zu schluchzen.

Christiane, die sie verstand und die seit einiger Zeit alles Leid anderer traf, wie Wunden, die sie selbst empfangen, legte ihr den Arm um den Hals und durch ihre Thränen gerührt, flüsterte sie:

– Arme Kleine! Arme Kleine!

Das Mädchen weinte immer weiter, niedergebeugt, das Gesicht versteckt, und mit ihren Händen am Boden riß sie unwillkürlich die Grashalme ab.

Brétigny hatte sich erhoben, um so zu thun, als sähe er dies Mädchenleid nicht, und der Kummer dieses unschuldigen Dings erfüllte ihn plötzlich mit Empörung gegen Gontran. Er, den das seelische Leiden Christianes nicht rührte, war bis ins Tiefste gerührt durch diese erste jungfräuliche Enttäuschung. Er kehrte um und kniete nieder, um seinerseits mit ihr zu sprechen:

– Ach beruhigen Sie sich nur, bitte, beruhigen Sie sich nur, sie werden ja gleich wiederkommen, beruhigen Sie sich. Man darf Sie nicht weinen sehen.

Erschrocken bei dem Gedanken, ihre Schwester könnte sie mit Thränen in den Augen erblicken, erhob sie sich. Das Schluchzen blieb ihr in der Kehle, und sie hielt es zurück, schluckte es hinab, preßte es in ihr Herz, daß es noch leidvoller und schwerer wurde, und sie stammelte:

– Ja ja . . . es ist aus! Es ist nichts . . . nicht wahr, man siehts nicht mehr – – nicht wahr, man siehts nicht mehr?

Christiane tupfte ihr mit ihrem Taschentuch die Wangen, dann wischte sie sich selbst die Augen und sagte zu Paul:

– Sehen Sie doch mal nach, was sie machen, man sieht sie ja gar nicht mehr. Sie sind zwischen den Lavablöcken drinnen, ich werde die Kleine hierbehalten und sie trösten.

Brétigny erhob sich und sagte mit zitternder Stimme:

– Ich will hingehen, ich werde sie zurückholen, und Ihr Bruder solls mit mir zu thun kriegen, heute noch, er soll mir sein unglaubliches Benehmen nach dem, was er uns neulich gesagt hat, aufklären.

Und er rannte den Abhang hinab nach der Mitte des Kraters zu.

Gontran hatte Louise mit sich gezogen, mit aller Kraft den steilen Abhang hinunter, bemüht, sie zu halten, zu stützen, sie atemlos zu machen, sie zu verwirren und sie zu erschrecken. Sie stammelte im rasenden Lauf, indem sie zu bremsen suchte:

– Aber nicht so schnell, ich falle, Sie sind ja verrückt, ich falle!

Sie stießen an die Lavablöcke und blieben außer Atem beide stehen, dann gingen sie Arm in Arm weiter, erblickten eine große Wölbung darunter wie eine Art Höhle mit doppeltem Ausgang. Als der Vulkan im Sterben jene Lava ausgeworfen, konnte er sie nicht wie früher bis zum Himmel schleudern, er hatte sie dick, schon halb erkaltet nur ausgespieen und sie war hängen geblieben an den Lippen des Sterbenden.

– Wir wollen mal darunterkriechen, sagte Gontran, und er steuerte das junge Mädchen vor sich her, und sobald sie in der Grotte standen, rief er:

– Nun, gnädiges Fräulein, ist der Augenblick gekommen, daß ich Ihnen eine Erklärung mache.

Sie war paff:

– Eine Erklärung, mir?

– Ja nur vier Worte: Ich finde Sie entzückend!

– Das müssen Sie meiner Schwester sagen!

– Ach Sie wissen ganz genau, daß ich Ihrer Schwester nichts gesagt habe!

– Na, na!

– Bitte, Sie wären doch keine Frau, wenn Sie nicht gemerkt hätten, daß ich ihr nur den Hof gemacht habe, um zu sehen, was Sie für ein Gesicht dazu machten und welches Gesicht Sie mir zeigen würden. Sie haben mir ein wütendes Gesicht gezeigt, und das hat mich riesig gefreut, und nun habe ich versucht, Ihnen in aller Form klar zu machen, was ich von Ihnen denke!

Noch nie hatte man so mit ihr gesprochen, sie fühlte sich verwirrt und doch glückselig, das Herz voll Freude und Stolz. Er fuhr fort:

– Sie wissen wohl, daß ich gegen Ihre kleine Schwester recht schlecht gewesen bin, ja ich kanns nicht ändern, sie hats auch richtig aufgefaßt. Sie sehen, sie ist oben geblieben, sie wollte nicht mit uns, sie hats ganz genau verstanden.

Dann nahm er Louise Oriols Hände und küßte ihre Fingerspitzen, indem er flüsterte:

– Sie sind so hübsch! Sie sind so hübsch!

Sie stützte sich gegen die Lava-Wand, sie hörte ihr Herz schlagen vor Bewegung, sie sagte nichts, aber ihr Gedanke, der einzige, der in ihrem verwirrten Geist sich regte, war der des Triumphes: sie hatte ihre Schwester besiegt!

Da erschien ein Schatten am Eingang der Höhle. Paul Brétigny sah ihnen zu. Gontran ließ wie ganz natürlich die kleine Hand, die er an den Lippen hielt, niedersinken und sagte:

– Ach da bist Du, bist Du allein da?

– Ja, man war erstaunt, daß ihr hier verschwunden seid!

– So, wir kommen gleich zurück mein Lieber, wir wollten uns das Ding mal ansehen, ist das nicht merkwürdig?

Louise war errötet bis zu den Schläfen. Sie verließ zuerst die Höhle und begann langsam den Abhang in die Höhe zu steigen, von den beiden jungen Leuten gefolgt, die leise hinter ihr sprachen.

Christiane und Charlotte sahen sie kommen und erwarteten sie Hand in Hand. Man kehrte zum Wagen zurück, in dem der Marquis zurückgeblieben war, und die Gesellschaft fuhr nach Enval heim.

Plötzlich blieb der Landauer mitten in einem Tannenwald halten, und der Kutscher begann zu fluchen. Ein alter toter Esel versperrte den Weg. Alle Welt wollte ihn sehen und stieg aus. Er lag auf dem schwärzlichen Staub der Straße, so mager, daß aus der abgeschundenen Haut die Knochen herausstanden und es aussah, als wenn das Tier von ihnen durchbohrt worden wäre, wenn es nicht vorher krepiert war.

Unter dem abgeschabten Fell der Flanken zeichnete sich das Gerippe ab, der Kopf sah riesig aus, ein armer, haariger Schädel mit geschlossenen Augen, der ruhig auf seinem Bett von zerfahrenen Steinen lag, so ruhig, so tot, daß er fast glücklich aussah und wie überrascht, nun endlich Ruhe gefunden zu haben. Die großen, schlaffen Ohren hingen wie ein Paar Lappen herab, zwei frische Wunden an den Knieen deuteten an, daß er oft gefallen war, noch heute, bevor er sich zum letztenmal niedergelegt, und eine andere Wunde an der Seite bezeichnete die Stelle, wo sein Herr das Tier seit Jahren und Jahren mit einer an einem Stock befestigten Eisenspitze in die Seiten gestoßen, um seinen langsamen Gang zu beschleunigen.

Der Kutscher packte den Esel bei den Hinterbeinen und schleppte ihn zum Graben, und das Vieh streckte sich, als wolle es nochmal I-ahen und eine letzte Klage ausstoßen. Sobald er im Grase lag, rief der Mensch wütend:

– So eine niederträchtige Bande, das Vieh mitten auf der Straße liegen zu lassen!

Keiner der anderen hatte ein Wort gesagt, man stieg wieder in den Wagen. Christiane war traurig, erschüttert, sie sah das ganze elende Leben des hier am Wege verreckten Tieres vor sich. Den kleinen, lustigen Esel mit dem großen Kopf, aus dem große Augen leuchteten, komisch und gutmütig mit seiner borstigen Mähne und den großen Ohren, wie er noch frei zwischen den Beinen der Mutter herumsprang. Dann dachte sie an das erste Anspannen, das erste Ziehen, die ersten Schläge und dann der unaufhörlichen gräßlichen Gänge auf den endlosen Wegen. Und an die Schläge, die Schläge, an seine viel zu schweren Lasten, an die glühende Sonne, und dabei als Nahrung nur wenig Stroh, ein wenig Heu und immer rechts und links am Wege die verlockenden grünen Wiesen.

Und dann kam das Alter, die Eisenspitze ersetzte die Peitsche, das fürchterliche Martyrium des alten, kaputen Tieres begann, das außer Atem war, immer überladene Wagen ziehen mußte, dem alle Glieder schmerzten, der ganze alte Leib durchlöchert wie der Rock eines Bettlers. Und dann der Tod, der erlösende Tod, drei Schritt vom Grase am Grabenrand, wohin es fluchend der nächste, der vorüberkam, schleppte, um die Straße frei zu machen.

Christiane begriff zum erstenmal das Elend der Kreatur in der Sklaverei, und für Augenblicke erschien auch ihr der Tod als etwas Köstliches.

Plötzlich kamen sie an einem kleinen Wägelchen vorüber, das ein fast nackter Kerl, eine Frau in Lumpen und ein keuchender Hund zogen, müde bis zum Umfallen. Man sah, wie sie schwitzten und keuchten. Der Hund, mager, schlecht gepflegt, zog mit heraushängender Zunge zwischen den Rädern. In dem Wägelchen lag zusammengelesenes Holz, das irgend etwas zu verstecken schien, darauf Lumpen und auf den Lumpen ein Kind. Nur einen Kopf sah man aus den grauen Fetzen herausragen, eine elende Kugel mit zwei Augen, einer Nase und einem Mund.

Es war eine Familie, eine menschliche Familie. Der Esel war den Mühen erlegen, und der Mann, der kein Mitleid mit seinem toten Helfer gehabt, hatte ihn nicht einmal zur Seite gezerrt sondern mitten auf dem Weg liegen lassen im Geleis der Wagen, die da vorüberkamen. Da hatte er sich mit seiner Frau in das leere Geschirr gespannt und zog nun, wie bis jetzt das Tier gezogen.

Sie trotteten dahin. Wohin, wozu? Hatten sie nur einen Pfennig in der Tasche? Diesen Wagen – ach Gott, würden sie ihn ewig selbst schleppen, wenn sie kein Tier kaufen konnten? Und wovon würden sie leben? Sie würden wahrscheinlich krepieren wie der Esel. Waren sie wohl verheiratet, das Gesindel, oder lebten sie nur so zusammen? Und ihr Kind würde wohl einst thun wie sie, dies kleine noch unförmliche Wesen, das unter dem schmutzigen Zeug versteckt lag.

Christiane dachte an alles das, und in ihrer erschrockenen Seele kam ihr immer von neuem der Gedanke, sie sah immer vor sich das Elend dieser Armen.

Gontran sagte plötzlich:

– Ich weiß nicht warum, mir kommt die Idee, es müßte herrlich sein, wenn wir heute abend alle im Café Anglais säßen. Ich möchte gern den Boulevard mal wiedersehen.

Aber der Marquis brummte:

– Ach was, hier ist es sehr schön, das neue Hotel ist viel besser wie das frühere.

Sie kamen durch Tournoël, und in der Erinnerung zuckte Christianes Herz, als sie eine Kastanie wiedererkannte. Sie sah Paul an, der die Augen geschlossen hatte und ihren flehenden Blick nicht bemerkte.

Bald darauf sahen sie vor dem Wagen zwei Winzer, die von der Arbeit heimkehrten, mit dem Arbeitszeug auf der Schulter, in langen müden Schritten der Landleute dahingehen. Die kleinen Oriol erröteten bis zu den Schläfen, es war ihr Vater und ihr Bruder, die aus dem Weinberg zurückkamen, wo sie den ganzen Tag im Schweiße ihres Angesichts ihre Erde bearbeitet, ihre Erde, die sie reich gemacht, wohin sie von früh bis abends wieder gingen, während die schönen schwarzen Röcke sorgsam zusammengelegt in der Kommode lagen und die hohen Cylinder im Schrank. Die beiden Bauern lächelten freundlich, während sie alles im Landauer grüßte.

Sobald der Wagen ankam und Gontran ausstieg, um zum Kasino hinaufzugehen, begleitete ihn Brétigny, und er sagte sofort:

– Hör mal, mein Alter, ich muß Dir etwas sagen. Du thust unrecht. Ich habe Deiner Schwester versprochen, mit Dir darüber zu reden.

– Worüber?

– Darüber, wie Du Dich seit einiger Zeit benimmst.

Gontran machte ein impertinentes Gesicht:

– Benehmen, gegen wen?

– Gegen die Kleine. Es ist nicht schön, wie Du sie plötzlich schwimmen läßt!

– Findest Du?

– Ja, ich finde es und ich bin berechtigt es zu finden!

– Na höre mal, Du bist ja recht feinfühlig geworden, was schwimmen lassen anbetrifft.

– Nun, mein Lieber, es handelt sich hier nicht um eine Dirne, sondern um ein anständiges Mädchen.

– Das weiß ich sehr wohl, aber ich habe sie nicht gehabt, das ist ein großer Unterschied.

Sie gingen weiter Seite an Seite. Das Benehmen Gontrans machte Paul wütend, und er sagte:

– Wenn ich nicht dein Freund wäre, würde ich Dir höllisch grob werden!

– Und ich würde mir das verbitten!

– Sei doch mal vernünftig! Das Mädel thut mir leid. Sie hat vorhin sehr geheult.

– Das ist ja recht schmeichelhaft für mich!

– Nun mach keine dummen Witze! Was soll denn werden?

– Werden? Gar nichts!

– Ja hör mal, Du hast Dich mit ihr so eingelassen, daß Du sie kompromittiert hast. Du hast neulich erst Deiner Schwester und mir gesagt, daß Du sie heiraten wolltest.

Gontran blieb stehen und sagte in einem Ton, aus dem eine Art Drohung klang:

– Meine Schwester und Du, ihr würdet besser daran thun, euch nicht um die Techtel-Mechtel anderer zu kümmern. Ich habe Dir gesagt, daß das Mädchen mir sehr gut gefällt, und daß, wenn ich sie etwa heiraten würde, ich klug und vernünftig handelte, und weiter nichts! Nun aber gefällt mir eben heute die andere besser, ich bin anderer Ansicht geworden, das kommt doch jeden Tag vor.

Dann sah er ihm gerade ins Gesicht:

– Was thust Du, wenn Du eine Frau nicht mehr magst? Bist Du etwa sehr zartfühlend?

Paul Brétigny war erstaunt, er suchte den tieferen Sinn der Worte, wurde erregt und antwortete heftig:

– Ich muß Dir nochmals sagen, es handelt sich nicht um eine Dirne, auch nicht um eine verheiratete Frau, sondern um ein junges Mädchen, das Du kompromittierst durch Dein Benehmen. Das thut ein anständiger Mann nicht!

Gontran war bleich geworden und unterbrach ihn in scharfen Ton:

– Schweige! Du hast schon viel zu viel geredet, und ich habe schon viel zu viel mit anhören müssen, und ich kann Dir meinerseits sagen, daß, wenn ich nicht Dein Freund wäre, ich Dir beweisen würde, daß ich keinen Spaß verstehe. Noch ein Wort, und es ist zwischen uns aus, für immer aus!

Dann sagte er, indem er langsam seine Worte abwog und sie ihm ins Gesicht warf:

– Ich bin Dir keine Erklärung schuldig, ich könnte höchstens eine von Dir fordern. Ein anständiger Mann thut etwas anderes nicht, der macht sich nicht einer Art Unzartheit schuldig, die zwar überall auftreten kann, die aber vor der Freundschaft Halt machen sollte, und die durch Liebe nicht entschuldigt wird.

Plötzlich veränderte er den Ton und sagte beinahe scherzend:

– Na, und was die kleine Charlotte anbetrifft, weißt Du, wenn Du so viel Mitleid mit ihr hast und sie Dir gefällt, Herrgott, dann heirate Du sie doch. Die Ehe ist oft die beste Lösung in schwierigen Lagen, ein gutes Heilmittel und die beste Manier, sich gegen hartnäckige Hoffnungen, die sich ein anderer macht, zu schützen. Sie ist hübsch und reich, einmal muß es bei Dir doch kommen. Es wäre doch sehr nett, wenn wir uns hier am gleichen Tage verheirateten denn ich heirate die ältere, ich sage Dir das im Vertrauen, bitte sage es nicht weiter. Und bitte, vergiß nicht, daß Du weniger, als irgend ein anderer, das Recht hast, von sentimentaler Ehrlichkeit und von etwaigen Skrupeln und Zweifeln der Liebe zu reden. Und nun gehe Deinen Weg und ich gehe meinen Weg. Gute Nacht!

Und indem er plötzlich sich zur Seite wandte, eilte er zum Dorf.

Paul Brétigny ging erregt und zerstreut langsam dem Hotel Mont Oriol zu. Er suchte sich jedes Wort klar zu machen, jedes einzelnen sich zu erinnern, seinen Sinn zu erfassen, und er wunderte sich über die geheimen nicht einzugestehenden, schmachvollen Winkelzüge in den Seelen mancher Leute.

Als Christiane ihn fragte:

– Was hat denn Gontran geantwortet?

Stammelte er:

– Mein Gott, ihm ist die ältere jetzt lieber, ich glaube, er will sie sogar heiraten. Und auf meine etwas erregten Vorstellungen hat er geantwortet und mir den Mund verschlossen durch für uns beide ein wenig beunruhigende Äußerungen.

Christiane sank auf einen Stuhl und flüsterte:

– Mein Gott! Mein Gott!

Da aber trat Gontran ein, denn es wurde zum Essen geklingelt, küßte sie heiter auf die Stirn und fragte:

– Nun Schwesterchen, wie geht es Dir denn, bist Du nicht sehr müde?

Dann drückte er Paul die Hand und wandte sich zu Andermatt, der ihm folgte:

– Sag mal, Du Perle aller Schwäger und Freunde, sag mir doch mal, was ist denn wohl genau ein alter Esel wert, der tot auf der Straße liegt?

 


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