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Ich meine nicht den Wüstensand,
Den Tummelplatz des wilden Hirschen,
Die Körner mein' ich, die am Strand
Des Meeres unter mir erknirschen,
Freiligrath.
Wir hatten Hamburg verlassen. Der vielstimmige, vielsprachige Lärm des Handels verklang, und im Fluge führte uns das Eisenroß durch stille Auen und noch stillere Heiden der schleswigschen Küste zu. Hier, in Husum, endigte die Bahn. Aber ehe es mir möglich ward, das kleine Städtchen zur durchstreifen, das als Geburtsort Theodor Storms mit hellerer Schrift in meinem Gedächtnis verzeichnet stand, rief schon vom Hafen her die Glocke des Dampfschiffes zu neuer Fahrt. Denn »nach Sylt!« lautete die Parole.
Seit Jahren war diese entlegenste der friesischen Inseln ein Ziel meiner Wünsche gewesen, zum Teil eben deswegen, weil sie wirklich eine der Grenzmarken ist, auf welcher deutsches Wesen und deutsche Weise herrscht, und nun sollte die langgehegte Hoffnung sich endlich erfüllen. Noch einige Minuten – das Schaufelrad begann zu schwingen, und langsam schwammen wir dahin.
Wir hatten zunächst vollkommen Zeit, uns jenen schwelgenden Vorahnungen zu überlassen, mit denen der Mensch des Binnenlandes zum ersten Male einen Hafen oder ein Seeschiff zu betreten pflegt, indem unser Dampfer nur dem Saume der Küste folgte, so daß man allerdings auch hätte meinen können, auf einem Teiche zu fahren, wenn nicht der Wellenschlag bereits in jenen mächtigen und schweren Hebungen erfolgt wäre, welche dem Meere eigentümlich sind. Aber allmählich rückte die »faste Wall« (das Festland) in weitere Ferne, und bald schweifte Auge und Seele in ungehemmter Freiheit über das große Bild. Und doch war, was wir sahen, noch lange nicht das eigentliche Meer, sondern nur ein vielgewundener, breiter Sund. Denn ringsum in Nord und West tauchte jetzt, wie eine Reihe von Wasserburgen, der Archipel der Halligen auf.
Wer hätte nicht schon von diesen Eilanden gehört, die als letzte Reste einer untergegangenen Küste auf einer Strecke von mehreren Meilen hin das jetzige Westgestade von Schleswig begleiten? Anscheinend kaum einen bis zwei Fuß über die Fläche erhoben, bilden sie einförmig lange, nackte Linien und verschwinden schon bei geringer Entfernung im Dunste des immer bewegten Elements; nur das einsame Haus des Halligbauern ragt auf seiner Werft noch lange hervor wie ein schwimmendes Wrack. In der Tat ein seltsam märchenhafter Anblick! Da mitten aus der Flut steigt, mitten auf der Flut schwebt die Wohnstätte des Menschen: du siehst das Strohdach, siehst die Fenster, siehst darüber den weißen Bogen, und mit dem Fernglase erkennst du auch wohl ein paar weidende Schafe oder einen Knaben, der jetzt wahrscheinlich ebenso gleichmütig dein Schiff betrachtet, als du verwundert seine Insel. Aber indem noch zwischen »Trug und Wahrheit« dein Auge zweifelt, versinkt alles wie eine Fata Morgana, um plötzlich etwa nach halbstündiger Kreuzfahrt wieder zu erscheinen oder von einer neuen Hallig verdeckt zu werden. So geht es an zehn, fünfzehn Eilanden vorbei, oft so dicht, daß du glaubst, hinüberrufen zu können; ja einmal tauchte eines derselben bis zum Greifen nahe neben dem Schiffe auf. Von rosenroter Heide ganz überdeckt, glich es einem Blumenkissen, das, von keinem Fuß betreten, seine stillen Blüten aus der wogenden Flut emportrieb. Auch war sie wirklich die einzige ganz unbewohnte Insel, während jede der anderen ein oder mehrere Häuser trug.
Hat man sich endlich überzeugen müssen, daß es nicht bloße Nebelbilder sind, welche die Sinne täuschen, und hat man nicht bloß gesehen, sondern auch beobachtet: dann erst beginnt man zu staunen. Man fragt bewundernd, woher dem Menschen der Mut kam, auf dieser Spanne Land ein Dasein zu gründen? wie er vermochte, sein Geschlecht Jahrhunderte hindurch fortzuerhalten auf einem Boden, wo ihm alles fehlt, was sonst die Erde gewährt? wie es möglich, eine Heimat zu lieben und mit allen Fasern des Herzens an ihr zu haften, die den Menschen überall nur mit Gefahr und Not umgibt? Denn hier lohnt kein Acker die Mühe des Sämanns; hier spendet kein Baum die wärmende Flamme; hier ist mitten im Wasser kein Brunnen, kein Quell. Sand und Heide, höchstens auf toniger Erde ein spärlicher Graswuchs: das ist die Hallig. Und nicht einmal das Fundament eines Hauses bietet der trügerische Grund. Erst wenn der arme Insulaner mit schwerer Mühe Rasen, Steine, Balken und Lehm, zum Teil vom Festlande her, herbeigeholt und die Werft aufgetürmt hat, kann er daran denken, sich selbst den Herd und seinen Tieren ein Obdach zu bauen. Vielleicht, daß er daneben auch ein erhöhtes Plätzchen für sein Heu beschafft, das er wörtlich mit Stricken festbinden und mit Blöcken belasten muß, damit Sturm und Flut ihm nicht diese einzige Ernte entreißen. Das Wasser aber, welches die Erde versagt, kann nur der Himmel geben. Darum sind allenthalben Zisternen gegraben, den Regen zu sammeln, und aus ihnen trinkt der Halligbauer und seine Herde. Es ist ein karger Ersatz für das notwendigste der Bedürfnisse, und doch darf selbst auf ihn nicht mit Sicherheit gerechnet werden; vielmehr versiegt er nicht selten in der Dürre des Hochsommers, oder er wird auch für die Tiere ungenießbar, wenn herbstliche Hochfluten sich über die Insel wälzen und mit Schlamm und Salz die Gruben füllen. Und dann muß der Mann von der Hallig hinübersegeln nach der Küste oder nach einer der größeren Inseln, um Wasser zu kaufen, wie er da sonst Brot, Feuerung und das wenige kauft, was seine Genügsamkeit bedarf.
In Wahrheit, wer müßte nicht ein solches entsagendes Leben bewundern?
Aber denkt man nun weiter über die nächste Notdurft des Tages hinaus, denkt man an Gesittung und Bildung, an Kirche und Schule: so erschrickt man. Hier sollte man meinen, unter ewigen Entbehrungen, Sorgen und Gefahren, könne der Mensch nicht anders als verrohen oder verkümmern. Und doch wäre ein solches Urteil ein falsches. Dort, jenes Haus, auf der einen Seite fest vermauert, auf der andern eine Flucht größerer Fenster zeigend, ist die Kirche; daneben der taubenschlagähnliche Holzbau bedeutet den Turm, von dem auch hier eine Glocke den Sonntag begrüßt, und beiden gegenüber wohnt der Pfarrer. Er ist der eigentliche Herr der Insel. Denn er ist eben nicht bloß Prediger, sondern auch Lehrer, Seelsorger, Richter, unter Umständen selbst Arzt; seinem Ausspruche folgen wie dem Worte eines Patriarchen die Alten, und zu ihm segeln von den anderen Halligen her die Kinder, um sich unterrichten zu lassen. Unter solcher Pflege gedeiht denn eine sittliche Tüchtigkeit, welche Achtung gebietet, ein bei aller Abgeschlossenheit offener, freier Geist, ein Sinn der Ordnung und des Maßes, der jedem Elend wehrt.
Freilich wider die Uebermacht der Elemente vermag die Menschenkraft den ungleichen Kampf immer nur bis zu einem gewissen Punkte fortzusetzen, um ihr dann zu erliegen; und wie einzelne der Halligen schon von früheren Sturmfluten spurlos hinabgerissen wurden, so drohet dasselbe Schicksal auch allen noch übrigen. Niemand hat die Schrecken dieser Katastrophe mit größerer Wahrheit geschildert, als J. Ch. Biernatzki, der vor mehreren Jahrzehnten hier selbst Pfarrer war. Die Bilder, welche er vor dem Leser aufrollt, sind wahrhaft furchtbar, und unter ihrem Eindrucke wendet man sich mit Grausen von diesen halbverschollenen Schauplätzen eines ohnmächtigen Ringens, und möchte mit dem Römer ausrufen: misera gens! Armes Volk!
Die Schilderung des Plinius gilt zwar zunächst von dem alten friesischen Stamme der Chauken zwischen Ems und Elbe; aber sie paßt Zug für Zug auch auf die Halligen und deren Bewohner. Er sagt im Anfange des 16. Buches seiner Naturgeschichte höchst bezeichnend: »Der Ozean wird dort endlos in gewaltiger Strömung hin- und hergetrieben, und zwar in regelmäßigen Gezeiten, je zweimal täglich und nächtlich. So verwischt er den ewigen Widerstreit der Natur: es wird zweifelhaft, ob dieser Teil des Landes Erde oder Meer ist. Dort bewohnt ein armes Volk hohe Hügel (Warften, Werften) oder künstliche Deiche, die man bis zu der, wie die Erfahrung lehrt, höchsten Flut aufgeschichtet hat. Mit den darauf errichteten Hütten gleichen sie Seefahrern, sobald das Gewässer die Umgebung bedeckt, Schiffbrüchigen aber gleichen sie, wenn die Wasser zurückgeflutet sind, und sie machen um ihre Hütten Jagd auf die mit dem Meere zurückfliehenden Fische. Diese Menschen können sich kein Vieh halten, können sich nicht mit Milch nähren wie ihre Nachbarn, sie können nicht einmal mit den Tieren der Wildnis kämpfen, da alles Gewächs fernab ist. Aus Schilf und Sumpfbinsen flechten sie Taue, und den mit den Händen geformten Schmutz (Torf, oder vielmehr diejenige Art des Torfes, welche »Darg« genannt wird) lassen sie mehr vom Winde als von der Sonne trocknen, und so wärmen sie mit Erde die Speisen und den von nordischer Kälte frierenden Magen; als Getränk haben sie nur Regenwasser, das sie in Gruben am Hauseingang aufbewahren.«
Aber schon ist inzwischen auch die letzte der Halligen am abendlichen Horizonte verschwunden. Das Meer ist freier und bewegter geworden. Der Dampfer schwankt, und während die Wellen schäumend am Bugsprit emporbrausen, wirbeln die Funken in ganzen Garben durch die Rauchsäule des Schornsteins. Dazu regt sich die tagüber so unscheinbare Tätigkeit der Schiffsmannschaft immer lebendiger: der Kapitän späht unermüdlich von der Brüstung herab, das schmale Fahrwasser nicht zu verlieren; der Lotse geht »peilend« mit der Meßstange am Bord auf und ab; wieder ein anderer ruft durchs Sprachrohr dem Maschinisten drunten die nötigen Weisungen zu. Das alles betrachtet der Laie mit einem Gefühle der Teilnahme und der Dankbarkeit; denn er muß sich sagen, daß solch ein Schiff doch noch etwas weit Unsichreres ist, als eine Hallig. Zwar jetzt schwimmt es mit seiner Menschenfracht ruhig und ungefährdet durch die Wellen; aber wie, wenn im Dunkel die Straße verloren würde? wenn die Brise zum Sturm wüchse und das gebrechliche Haus an die Küste würfe oder auch nur meilenweit hinaus in die tobende See? Und Vorstellungen dieser Art drängen sich dem Neuling um so unabweisbarer auf, je mehr die herabsinkende Nacht ihm das einzige nimmt, was er noch hatte: den freien Umblick.
Doch da mit einem Male blitzt landverkündend ein Licht auf! Aller Augen richten sich dahin; es ist kein Zweifel: wir sehen die Flamme des Leuchtturms. »Wenn der Himmel sein Gestirn verhüllt hat, dann steckt die Erde ihre Sterne an!« rief mir eine liebe Frauenstimme zu, und in der Tat sprach dies Wort auch meine Empfindung aus.
Es mag vielleicht kaum einen zweiten Anblick geben, der so beschwichtigend und ermutigend wirkte, als das Licht, welches dem nächtlichen Wanderer die Nähe des Menschen verheißt; aber hier, auf dem pfadlosen, nachtverhüllten Meere – wie viel tiefer ist dieser Eindruck doch hier! Ich wenigstens gestehe, daß ich bei dem ersten Schimmer der Leuchtturmlaterne nicht minder als so oft bei der Pracht des Sonnenaufgangs es fühlte, warum unsere Dichter das Licht das »heilige« nennen, und unwillkürlich gedachte ich jenes Preisgesangs, den in der griechischen Tragödie der Chor der Thebaner anstimmt, als über die vom Feinde befreite Stadt das Morgenrot des neuen Tages heraufzieht. Gewiß es ist ein heiliges, heilbringendes Element das Licht!
Erst seit 1855, erzählte der Kapitän, sei der Leuchtturm aufgerichtet, und während vordem in jedem Winter fünf bis sechs Schiffe allein an den Küsten der nahen Insel zerschellt worden, seien jetzt bereits ebensoviel Jahre hingegangen, ohne daß ein einziges gescheitert. Allerdings wird dieses Feuerzeichen nun auch fünf, sechs Meilen weit gesehen, und wenn das Uhrwerk, welches dasselbe in beständig kreisender Bewegung erhält, jezuweilen eine Verdunkelung bewirkt, so geschieht es nur, um den mit der Erscheinung vertrauen Seemann desto sicherer zu orientieren und im nächsten Augenblicke sonnenartig die ganze Stärke des Lichts in die Finsternis hinauszustrahlen. Der Hügel aber, auf dem die Meereswarte steht, ist das Grabmal eines allen Friesenkönigs. Tief im Innern haben ihn seine Getreuen versenkt, nachdem er im siegreichen Kampfe gefallen, und da sitzt er nun in seiner Rüstung, auf dem goldenen Wagen, und die Brandung singt ihm das alte Schlachtenlied; über ihm aber von der kristallenen Krone des Pharus flammt das Fanal, als wache noch immer der treue Hüter seines Volkes.
Es mochte noch eine Stunde verflossen sein, bis das Schiff Anker warf. Kleine Boote nahmen uns auf, und in der nächsten Minute hatten wir terra firma Festen Boden unter den Füßen: wir standen auf Sylt. Aber wohin zu so später Stunde uns wenden? wo die ruhebedürftigen Glieder betten? Das war nun eine »wohlaufzuwerfende«, doch kaum zu lösende Frage, als, auch diese Sorge zu verscheuchen, ein paar Wagen heranrollten und uns noch einmal »durch Nacht und Wind« davontrugen. Aus dem schwarzen Heidegrund stieg der Duft von Millionen unsichtbarer Blüten, und durch die Stille hallte mir der Hufschlag unserer Pferde.
Um Mitternacht in »Westerland« angelangt, fanden wir das kleine Dorf völlig in Aufruhr; denn alles hatte auf das Dampfschiff, alles auf Gäste gewartet. Das scheinbare Rätsel war mir jedoch schon unterwegs gelöst worden, da ich erfuhr, daß man den – mutmaßlich glücklichen oder doch industriösen – Gedanken gefaßt, ein Seebad zu begründen. Jedenfalls kam uns jetzt die wachsame Sorge der Sylter trefflich zustatten, indem wir nicht bloß Erquickung, sondern, was mehr wert war, ein Obdach fanden. Ich für meinen Teil ward von dem rührigen Wirte der »Dünenhalle« einem freundlichen Manne zugewiesen, der sich mir als Kapitän bezeichnete und mich alsbald in sein schmuckes Häuschen führte, wo unterm Ticken der urväterlichen Wanduhr der Schlaf mich ungesucht überkam.
Nach wenigen köstlichen Stunden deckte der Tag mir die neue Wohnstätte auf; aber fast schien es, als wolle nun erst der Traum sein Spiel beginnen. Denn wie war hier doch alles anders als daheim im Binnenlande, wo in der Straßen langer Zeile sich die Häuser drängen, wo der rasselnde Verkehr seinen Lärm und Staub hinauf bis in die Mansarde schickt, wo um das Dorf sich rings mit strenger Grenze Acker an Acker reiht und selbst der Bach den freien Lauf in gerade Linien schnüren lassen muß!
Doch ich will zunächst versuchen, den äußeren Umriß der Insel zu zeichnen.
Sylt liegt genau unter dem 55sten Grade nördlicher Breite und dem 26sten östlicher Länge, um ein Merkliches höher als die übrigen »Uthlande«. Mit diesem Namen, der soviel bedeutet als »Außenlande«, bezeichnet man den ganzen Gürtel der friesischen Gestadeinseln, die Halligen mit eingerechnet. In langem Zuge erstreckt es sich vier und eine halbe Meile hin, während sich nur in der Mitte dieser Linie, nach Osten zu, ein ausgedehnteres Vorland von etwa zwei Stunden Breite ansetzt. Die Form der Insel erhält dadurch etwas Arabeskenartiges, wenn auch lange nicht in dem Maße, wie etwa das polypenähnlich gestaltete Rügen, das allenthalben Land ins Meer schickt und Meer ins Land zieht. Wo nach dem Festlande zu im ruhigen »Wattenwasser« der »Schlick« sich niederschlägt, da allein gedeihet Gras und Korn. Aber dieses Marschland nimmt wohl kaum den sechsten Teil der anderthalb Quadratmeilen haltenden Insel ein. Alles übrige ist Sand, den wechselnd beide Arten der Heide (Erica vulgaris und Erica tetralix) überziehen.
Auf diesem sauberen, dicht ineinandergestrickten Teppich stehen nun malerisch zerstreut die Häuser und Gehöfte, und schon in der Vereinzelung derselben spricht sich der abgeschlossene insularische Charakter aus. Jedes Haus ist selbst gleichsam wieder eine Insel, oder, wenn man will, ein Schiff, das hier friedlich geankert. Alle sind klein, alle in ihrem Strohdach fast hüttenartig anzusehen, aber alle zeigen die Freude ihrer Bewohner an buntem Zierat, und die zahlreichen Fenster blinken so lockend, daß man glauben möchte, irgendein Riesenkind habe diese Häuschen dahingestellt und sei, des Spielzeugs müde, auf eine Weile davongegangen.
Daß die glatte Pflanzendecke des Bodens derartige Anschauungen und Stimmungen begünstigt, ward schon angedeutet. Aber man vergegenwärtige sich das Bild recht lebendig! Unsere Wohnungen stehen eben in Straßen beisammen und das einzelne Haus prägt selten noch eine Individualität aus, sondern verliert sich unterschiedslos in der Masse der übrigen. Selbst wo es allein steht, verdecken es Nebengebäude, Gärten und Bäume, beeinträchtigen Feld und Fahrweg und alle die mannigfaltigen Zeichen des Anbaus den Blick. Dort aber steigt das Haus einzeln und unverdeckt aus dem gleichförmigen, gleichfarbigem Heidegrunde, den fast nie eine Kultur berührt hat. Kaum mag man die Linie eines Fußpfades erkennen, noch seltener von Aeckern eine Spur, und die kleinen Gärtchen gar sind so klein, daß man sie beinahe übersieht.
Wir verglichen vorher diese Häuschen den Schiffen. Wirklich haben sie nun im Innern durchaus eine Schiffsarchitektur, ja sie werden auch fast ausschließlich von Schiffern oder Fischern bewohnt. Es sind meist alte graue Kapitäne, welche hier, nachdem sie drei, vier Jahrzehnte das Meer gepflügt, auf ihrer Heimatinsel den festen Grund gesucht haben. Aber damit das Bild des geliebten Fahrzeuges ihnen nie verschwinde, stellt das ganze Haus gleichsam nun ein Verdeck samt seiner Kajüte dar, und im Hofe ragt noch immer der Mast, das sturmgewohnte Herz zu erfreuen. Sie haben eben in jedem Sinne des Wortes »ihr Schiffchen ins Trockene gebracht«. – Wie ferner jedes Schiff seinen Namen vorn an der Brust trägt, so ist hier mitten aus dem Strohdach, an der Vorderseite des Hauses, ein Giebel herausgebaut, der den Namen seines Besitzers oder Erbauers in eisernen Lettern zeigt. Th. M. D.stand über dem meinigen: Theide Michel Decker. So hieß mein wackerer Wirt, ein Mann im Anfang der Sechzig, mit seinen, wohlwollenden Zügen, welche Tüchtigkeit und Bescheidenheit, aber nichts von jener Rauheit verrieten, die wir uns gewöhnlich von dem Charakter des Seemanns untrennbar denken. Er hatte alle Meere befahren, auf alle Erdteile den Fuß gesetzt, hatte die Prachtstädte der alten und neuen Welt gesehen; aber als ich ihn nach der Nachbarinsel Föhr fragte, gestand er, noch niemals dagewesen zu sein. So ist es: immer ins Weite strebt der Mensch, das Nahe bleibt ihm fremd oder gleichgültig. Uebrigens konnte der Kapitän als ein Mustertypus seiner Art gelten, und obgleich ich nur zwei Nächte unter seinem Dache geweilt, hat er durch seine Liebenswürdigkeit und Uneigennützigkeit mir den Aufenthalt unvergeßlich gemacht.
Allein nicht von den Menschen – ich wollte von ihren Häusern sprechen.
Sobald du die kleine, niemals verschlossene Tür geöffnet, betrittst du eine Art Flur, die in ihren braungebeizten Dielen oder in ihrer bunten Kieselpflasterung sogleich gemütlich anspricht. Rechts, links, geradeaus tun sich andere Türen auf; aber vor jeder liegt ein kleiner weicher Teppich, um ja alles zu entfernen, was sich ungebührlich an deine Sohle geheftet haben könnte. Denn Reinlichkeit ist die Kardinaltugend des Friesen, zumal des Sylters, wie auch seine alte, absterbende Sprache einen überraschenden Reichtum von Worten zur Bezeichnung des Reinigens und Säuberns aufweist. Man zählt nicht weniger als sechzehn sogenannte Synonyme für den einen Begriff.
Als ich nun aber dem freundlichen Wirte immer und immer wieder meine Verwunderung über eine solche, im Binnenlande unbekannte Nettigkeit aussprach, bemerkte er lächelnd: das schreibe sich vom Schiffe her. Dort im engen, menschenüberfüllten Gebäu sei ein Leben und Wohlsein nicht möglich ohne die strengste Reinhaltung. Ueberdies hätten die Sylter ganz Art und Weise jener Holländer angenommen, die sich vorzeiten auf der Insel angesiedelt. Ob die letztere Behauptung des Kapitäns begründet ist, vermag ich weder zu bejahen, noch zu verneinen; aber holländisch ist diese Sauberkeit gewiß, nur ohne den den Holländern angedichteten Pedantismus. Da war nirgends ein Stäubchen zu entdecken, alles glänzte und blitzte, selbst der kleine Stall war gefegt und mit Sand ausgestreut, so daß man ohne Bedenken darin hätte speisen können. – Was uns aber, die wir immer mehr an kasernenartige Häuser und hohe, hohle Zimmer gewöhnt werden, in den Sylter Wohnungen besonders auffällt, ist die sparsame und äußerst geschickte Benutzung des Raumes. Das Haus meines Kapitäns konnte als Beispiel dienen; denn in demselben wohnte außer mir noch ein Gast, und doch hatte ein jeder von uns Stube und Kammer, ja mir waren deren selbst zwei zugewiesen. Es mag das Gefühl des Behaglichen, welches man nun einmal hier überall empfindet, vielleicht auch dadurch noch gesteigert werden, daß man nirgends etwas von Kalk oder Maueranstrich oder gar von unserer anspruchsvollen Papiertapete sieht. Vielmehr sind die Wände durchgehends mit kleinen porzellanartigen Kacheln (sogenannten »Klinkern«) von meist bunter Farbe bekleidet. Auf solche Weise bildet sich eine Mosaik, die glänzt, ohne zu prahlen, die immer sauber ist, ohne empfindlich zu sein, und die ganz im Gegensatz zum Stein und zur Tapete etwas Trauliches, ich möchte sagen, Erwärmendes hat, sei es auch nur, weil sie an die aus gleichem Material erbauten Oefen unserer Zimmer erinnert. Wo nicht Klinkern die Wand verkleiden, ist es Holz. Und kann man dies Holzwerk auch nicht gerade Getäfel nennen, so ist der Eindruck desselben doch ebenfalls ein sehr reinlicher und heimischer, wie ja das Holz als der weichere und organische Stoff uns immer mehr anmutet als der kalte, harte, leblose Stein. Selbst die Decke der Stuben ist mit Holz belegt und glänzend weiß gefirnißt, zuweilen sogar nach Kajütenart gewölbt. Kurz, man erkennt in dem allen jene Gemächlichkeit, die eben von dem »Gemache« verlangt wird, aber man erkennt auch sogleich das Haus des Seemanns. Dazu stimmen endlich nicht minder die See- und Landkarten an den Wänden, und im Fenster das aufgezogene Fernrohr. Das einzige, was neben ihnen wohl noch einen Platz erhalten hat, ist ein Vogelbauer oder ein paar bunte Blumen. Denn Farben liebt der Sylter, gleich dem Niederländer, um so mehr, je einfarbig grauer um ihn her die Landschaft ist. Ebendarum bemalt er auch außen die Fenster lustig grün und rot, verhängt er sie innen mit den weißesten Gardinen.
Uebrigens versteht sich nun in einer solchen Wohnung die höchste Bequemlichkeit von selbst. Alle Räume, vom Wohnzimmer bis zum Stalle, liegen in einem Zusammenhang, und wenn die Wand mit Holzwerk ausgelegt ist, kann man sicher sein, daß sie einen Schrank verdecke, der dem Blicke so manches entzieht, was bei uns plunderartig herumliegt, oder sich prunkend zur Schau stellt. Aus einem solchen Verstecke zog jetzt auch der Kapitän ein Fernrohr, und nun gingen wir dem Strande zu. Ueberall dieselben Häuser, überall Bewohner von derselben Herzlichkeit und meist auch desselben Standes. Selten nur verriet irgendein Zeichen den Handwerker. Was aber vorzüglich befremdete, war, daß man fast nie jüngeren Männern begegnete. Die, hieß es, seien draußen auf der See. Dort bleiben sie, wie die Väter und Vorväter, dreißig, vierzig Jahre, und dann kehren sie müde, aber mit reichen Ersparnissen zurück ins Elternhaus, oder – sie finden im Meeresgrunde ihr Grab. Manch einen Alten sahen wir, der so vereinsamt war und seine Söhne im Ozean liegen hatte! Waren doch in der ersten Hälfte des Jahrhunderts aus einer Bevölkerung von noch nicht dreitausend Seelen über sechshundert im Meere umgekommen, und zählte doch ein sorgfältiger Beobachter im Jahre 1850 allein einhundertundsiebzig Witwen. An dieses Seemannsverhängnis erinnerte auch sogleich unfern des Dorfes der Friedhof für gestrandete Leichen. Eine rohe Mauer von Heiderasen umschloß die Gräber; ich zählte ihrer sieben. Aber niemand vermochte zu sagen, wer die Schläfer seien, die unter ihnen ruhten: kein Stein bezeichnete auch nur Jahr oder Tag der Bestattung. Und dennoch ergriff gewiß noch jeden die schlichte Stätte; denn wenn es nicht die Liebe war, so war es doch ein Sinn schönster Menschlichkeit, der sie geschaffen. Vor wenigen Jahren hatte man sich begnügt, die Leiche da, wo die Welle sie ausgeworfen, zu verscharren. Aber da das immer vordringende Meer oft schon in einigen Tagen die leichte Gruft wieder zerstörte und selbst längst moderndes Gebein wieder hervorwühlte, so entschloß man sich, hier an sicherer Stelle die Toten zu bergen und den »Heimatlosen eine Heimat« zu geben.
Die Sicherheit aber gewähren die Dünen, welche sich wenige hundert Schritt hinter dem Kirchhof erheben: ohne Zweifel das eigentümlichste, was die Insel bietet.
Wie ein Gebirge steigen sie an, und schon ihre mannigfach gebrochenen Linien üben einen Reiz, der um so bedeutsamer wirkt, je mehr man alle Maßstäbe des Festlandes verloren hat, und je höher die Dünen im Gegensatz nicht bloß zu der flachen Insel, sondern vor allem zu der unendlichen Ebene des Meeres erscheinen. Daher gewähren sie, von dort aus gesehen, auch den imposanteren Anblick. Bald wölben sie sich zu Kuppen, bald ziehen lange Mauern hin, bald wieder schieben sich Zacken und Kegel empor, immer aber entwickeln sich malerische Formen, und wechselnd spielen die Sonnenlichter auf den hellen, fast blendenden Massen. Vom Lande her betrachtet, löst sich jedoch das mannigfaltige Bild in einfachere Züge auf. Man unterscheidet eine Doppelreihe innerer und äußerer Dünen und sieht überrascht, wie auch dieser tote Boden noch eine lebendige Vegetation nährt. Da steht die Sandsegge (Carex arenaria), der Strandhafer (Elymus arenarius), der Strandroggen (Arundo arenaria) mit harten Halmen, mehr rohr- als grasartig und von seltsam bläulicher Färbung. Es ist die echte Farbe des Meeres, welche sie tragen, aber in der Starrheit ihrer saftlosen Faser charakterisieren sie sich zugleich als Sand- und Wüstengewächse. Mag nie ein Tropfen sie netzen, sie welken dennoch nicht. Schon der Odem des Meeres genügt, sie zu erhalten, und – wunderbar genug – gedeihen wenigstens die beiden letztgenannten Pflanzen nur so lange, als der fliegende Sand sie umspielt; ja man möchte sagen, sie gedeihen um so frischer, je dichter derselbe um ihre Halme und Blätter sich anhäuft. Denn gerade die wiederholten Ueberwehungen reizen den Lebenstrieb immer von neuem, so daß die Pflanze noch Schößlinge entwickelt, während ihre Wurzel bis zu einer Tiefe von zwanzig Fuß in die feuchteren Schichten hinabsteigt. Dabei liefern sie jedes Jahr ein Futter für die Herde, ein Dach für das Haus, oder wenigstens ein Lager für die Hütte des Armen. Aber das ist lange nicht das Wesentlichste; vielmehr ergibt sich die wahrhaft unersetzliche Bedeutung der Dünenpflanzen erst dann, wenn man Wesen und Natur der Dünen selbst genauer kennengelernt hat.
Eine amerikanische Sage erzählt, daß der große Geist die Erde aus einem Sandkorn schuf, welches er einst beim Fischen aus dem Ozean heraufgeholt. Den Sinn dieses Mythus versteht man vielleicht nirgends eher, als an einem Dünengestade, da die Dünen wirklich nichts anderes als Bildungen des Meeres sind. Ungleich jenen Marschanschwemmungen am Ausgange der Ströme, deren üppige Ernte ganze Länder nährt, ist es Sand und nur Sand, aus dem die Düne sich baut. Ihre Entstehung aber läßt sich auch bei stiller See beobachten. Denn wie die Zunge eines Raubtieres wühlt und spielt jede Welle am Grunde; sie löst und hebt den leichten Sand der Tiefe empor, trägt ihn fort, wirft ihn andern Wellen zu, bis die letzte am Ufer zerstäubend ihre Beute fallen läßt. Freilich sind es nur ein paar winzige Punkte, die sich niederschlagen; aber indem Millionen Wellen Millionen Körnchen häufen, dehnen sich diese zu Lagern, schwellen sie zu Hügeln und Bergen. Und je wilder das Meer, um so höher türmt es die Sandmauer, welche am Ende selbst von der Sturmflut nicht mehr überstiegen werden kann. So setzt sich auch hier die Leidenschaft die eigenen Schranken, und dem Uebel gesellt sich von selbst auch seine Abwehr. Denn die Dünen sind wirklich ein Schutzwall des Landes. Hinter ihnen liegen die Wohnstätten und Fluren wie hinter Bollwerken, und wo die Natur sie nicht schuf, da muß der Mensch, ihrem Beispiele folgend, kostbare Deiche anlegen, welche er wie einen äußersten Posten mit allem Heroismus der Geduld und des Mutes gegen den rastlos anstürmenden Feind zu verteidigen hat. Man denke an das stolze Trotzwort der Holländer: Deus mare, Batavus litora fecit (Gott machte das Meer, der Holländer die Gestade). – Deiche sind jedenfalls schon in sehr früher Zeit errichtet worden; in Ostfriesland wird als erster Erbauer der »Seeburgen« König Agdil aus dem zweiten Jahrhundert genannt.
Aber selbst der Bundesgenosse kann zum Widersacher werden, und der Schutz, welchen die Düne gegen das Meer gewährt, kann unter Umständen wenig bedeuten gegen das Verderben, welches sie selbst bringt.
Die Dünen gleichen dem Gebirge auch darin, daß sie von Längen- und Quertälern durchzogen sind. In ihnen bricht sich die Kraft des Windes, auch verhält sich da wohl zuweilen ein Rest Wassers, um den sofort das Pflanzenleben sich anzusiedeln versucht. In der Regel aber übt in diesen Tälern der Sand die unbestrittene Herrschaft, mögen sie nun kraterähnlich sich einsenken, oder in langen hohlen Gassen hinstrecken; und den Wanderer, der sich zwischen ihnen verloren hat, überkommt ein Gefühl, schwer und beklemmend, als irre er in den Laufgräben des Todes. Fängt sich gar die Glut der Mittagssonne in diesen Kesseln, dann mag man sich jener Stelle des Danteschen Inferno erinnern, da die Sünder in tiefem, leben- und schattenlosem Sande irren, indes vom Himmel Feuerflocken niederfallen, »wie Schnee bei stiller Luft auf einer Alpe fällt.« Nur eins überrascht und erfreut das Auge: das sind die zierlichen Linien, welche der Flügel des Windes allenthalben über diese Wüste gezogen hat. Sie zeichnen sich so regelmäßig und sauber hin, daß man sich fast scheut, die Spur eines Fußes in das seltsame Gewebe zu drücken, obgleich schon, die nächste Stunde sie verwischt haben kann. Denn unaufhörlich spielen die unruhigen Elemente, welche ihn erzeugt haben, mit dem Sande der Dünen. Jeder Lufthauch setzt ihn in Bewegung, und erhebt sich der Wind stärker, dann entwickelt sich ein Schauspiel, das an den Samum der Sahara erinnern kann. Die Dünenhalme schlagen scharf zusammen, daß sie klingen; mit dem Brausen des Sturmes vereint, peitschen sie den Sand auf; und nun wird jedes tote Korn lebendig. Sie rennen, rieseln, wirbeln über die Fläche, erfüllen verdunkelnd die Atmosphäre, bilden mächtige Tromben und Wolken, die windgejagt landeinwärts treiben, um sich da in einem erstickenden Regen, in einem Sandgestöber (»Saanstaf«), wie die Insulaner sagen, zu entladen.
Auf diese Weise entstehen und wachsen, auf diese Weise aber wandern nun auch die Dünen. Und so haben sie nicht bloß an der jütischen Küste, sondern den ganzen Strand der Nordsee entlang, bis nach Südfrankreich Die französischen Dünen liegen in den südwestlichen Departements les Landes und la Gironde; sie bedecken einen Raum von nicht weniger als 150 Quadratmeilen, von denen der größere Teil erst seit Necker (d. h. seit 1789) und in nicht ausreichender Weise bepflanzt ist. Ein kleinerer Teil von 40 Quadratmeilen liegt auch heute noch wild, daher les landes sauvages. Eine nomadische Hirtenbevölkerung, die auf 8 bis 10 Fuß hohen Stelzen durch die Sandmassen schreitet, belebt mit ihren Schafherden diese Wüste, ohne daß dieselbe wohl je für den Ackerbau gewonnen werden mag. Und doch waren die Landes zur Zeit der Araber dicht bewaldet und von Aeckern durchschnitten. Es scheint, daß es vornehmlich die Franken waren, welche die alten Verteidiger Aquitaniens nur dadurch bezwingen zu können glaubten, daß sie die Wälder, in denen sich jene bargen, niederhieben und niederbrannten. Der Name Düne (französ. dune; ital., span. duna) wird übrigens von Grimm auf donen, danen = anschwellen, sich erheben, zurückgeführt und in eine gewisse Parallele mit dem griechischen thin, this gesetzt. Daß er in den Städtenamen Augustodunum, Lugdunum usw. anklinge, ist öfter behauptet worden, doch nicht ohne Widerspruch. Düne ist das »nordische tûn, das in Skandinavien auch zu Städtenamen verwandt wird«. hinab, weite Strecken fruchtbaren Landes überdeckt. Der Hergang war dabei stets derselbe: das Meer zernagte die Küste, löste sie auf und schob dann wie eine ungeheure Sandwelle das bewegliche Gebirge vor sich her. – Es liegt fast etwas Dämonisches in dieser Erscheinung. Die Springflut, die Schneelawine kommen plötzlich, und im Donner der Vernichtung begraben sie Mensch und Land. Aber hier schleicht leise der Sand herbei; unsichtbar und unhörbar, bei Tag und bei Nacht tut er seine Zwergenarbeit, bis endlich die Brunnen versiegen und die Schwelle des Hauses versinkt, um nach Jahrzehnten und aber Jahrzehnten völlig verschüttet zu sein. Mit Erbitterung kämpft der Mensch dagegen an. Gerade auf den deutschen Küsten und Inseln ist es vorgekommen, daß man wenigstens die Kirchen einem solchen Untergange zu entreißen suchte. Man wollte die heilige Stätte nicht lassen, und als die Pforten längst versperrt, stieg man noch durch das Fenster ins Gotteshaus, und der Geistliche predigte, statt von einer Kanzel, von einem Sandhügel. Aber der fromme Eifer vermochte das Verderben immer nur aufzuhalten, nicht abzuhalten, und zuletzt blieb nichts, als den geweihten Bau abzubrechen und vielleicht für ein neues Jahrhundert an geschützterer Stelle wieder aufzurichten.
Auch auf Sylt hat der Sand sein fahles Tuch über ehedem selbst bewaldete Striche gebreitet, und vielleicht würde dereinst die ganze Insel gleich so vielen anderen verschwinden, wenn nicht im Wattenmeer unter dem Schutze des Windes immer wieder ergiebiger Boden sich anschwemmte.
Aber nicht bloß Ersatz, auch eine Hilfe bietet sich, und das ist nun die vorhergenannte Strandvegetation. So dürr alle jene merkwürdigen Pflanzen sind, so fest und tief graben sie sich in den Boden. Eine stärkere Pfahlwurzel hinabtreibend und von ihr aus oft zwanzig, dreißig Fuß weit ein vielverschlungenes Fasernetz entsendend, durchdringen und überspinnen sie ganze Hügel und binden Sandkorn an Sandkorn. Die Natur wirkt eben immer das Größte mit den kleinsten Mitteln. Was keine Kraft und Kunst der Menschen vermocht hat, das tun ein paar Dünenwurzeln und Halme. Indem sie selbst während des Winters dauern, leisten sie mit unzerreißbarer Zähe auch den stärksten Stürmen Widerstand; sie beugen sich elastisch, und im Wirbel sich um sich selber schwingend, erfüllen sie die Luft mit jenem schrillen Klingen, aber sie sammeln zugleich um sich her neuen Sand und tragen so nicht nur zur Befestigung, sondern auch zur Erhöhung der Dünen bei.
Es ist nicht selten, daß dem Fremden gegenüber der Küstenbauer mit stolzer Zuversicht auf den Wall der Dünen zeigt und sie den »goldenen Reif« seines Landes nennt, wie schon der alte Friese seine Heimat einem Mantel verglich, dessen zottiger Stoff (das innenliegende unfruchtbarere Geestland) mit schmaler Samtverbrämung geschmückt sei; doch hier erst können diese Bezeichnungen verstanden werden. Denn nur da, wo der Pflanzenwuchs die Düne überkleidet, wo sie »gedämpft« ist, hat sie aufgehört toter Sand zu sein. Sie ist da vielmehr ein lebendiges Glied im Organismus der menschenerhaltenden Erde geworden, und statt den Anwohner feindlich zu bedrohen, bietet sie ihm den sichersten Schutz gegen Versandung wie gegen Überschwemmung. Eben deshalb bemüht man sich auch, jene Vegetation auf alle Sandgestade, denen sie fehlt, zu übertragen, und die Gesetze nehmen derartige Pflanzungen in besondere Obhut. Schon Christian III. bedrohete (1539) diejenigen, welche an den Westküsten Jütlands Sandrohr oder Sandhafer abmähen würden, mit einer Buße von vierzig Mark. Hier wird demnach wirklich der Seestrand gepflügt, wenn auch nur mit Handpflügen; es wird wirklich in den Meersand gesäet, so daß die alten römischen Redensarten litus arare, arenae mandare semina Den Meeressand pflügen, in den Sand säen. usw. längst ihre spottende Spitze verloren haben. Allerdings bleibt es immer eine mühselige, alle Geduld herausfordernde Arbeit; nicht selten mißlingen wiederholte Versuche, zumal ohnehin selbst die feuchteste Düne keine völlige Besamung gestattet. Dies liegt zum Teil in der eigentümlichen Gestaltung derselben. Denn da die Dünen nur von der Landseite aus sacht ansteigen, hingegen dem Meere zu durchweg steil abfallen, so kann auch nur dort eine Vegetation sich des Bodens bemächtigen, während an der Steilseite Wind und Wasser mit stets erneutem Angriff wühlen und die Düne gleichsam über ihren eigenen Kamm hinwegzustürzen suchen. Im Laufe der Jahrhunderte erreichen sie es auch wohl; aber da, wie bemerkt, in derselben Zeit das Meer an den abgewendeten ruhigeren Ufern neue Bildungen ansetzt, so halten sich die widerstrebenden Kräfte gewissermaßen im Gleichgewicht, und wenn man sagen konnte, daß die Dünen wandern, Man hat zu ermitteln versucht, wie groß die jährliche Geschwindigkeit der fortwandernden Dünen sei. Die genaueste Bestimmung hierfür gewährt die Tatsache, daß die um 1650 gegen 200 Ruten ostwärts verlegte Kirche von Ording in Eiderstädt im Jahre 1777 schon wieder am Fuße der Dünen lag. Dies würde ein jährliches Vordringen von etwa anderthalb Ruten ergeben. Beobachtungen auf Sylt und in den Niederlanden kommen damit überein. so kann man, wenigstens auf Sylt, mit gleichem Rechte sagen, daß auch das fruchtbare Marschland oder mit anderen Worten, daß die ganze Insel wandere.
Wo es dagegen gelingt, den Dünensand völlig zu dämpfen, und wo die Seewinde nicht ihre volle Stärke üben, da machen jene ersten, den Sand bindenden und bereitenden Grashalme wohl später einem reicheren, kräftigeren Pflanzenwuchse Platz: es gedeihen strauchartige Birken, Wachholder, Stecheichen, und nicht selten erhebt sich über diese wiederum ein Wald von Nadelholz, in dessen Schutz aufs neue die Aecker und Wiesen grünen.
Die Dünen von Sylt gehören noch keineswegs zu den höchsten – denn an der afrikanischen Küste sollen sie sich bis zu sechshundert Fuß erheben – aber einzelne messen sicherlich gegen hundert und achtzig Fuß, und der ganze lange Doppelzug bleicher Hügel erscheint hier großartig genug, um mit einer Kette von Gebirgsgipfeln verglichen zu werden. An das Hochgebirge erinnert nun auch vor allem die Todesstille rings umher. Nirgends ein Laut, nirgends eine Bewegung. Denn wie dort das wandernde Eis der Gletscher alles Leben erstarren macht, so erstickt es hier der wandernde Sand. Nur zuweilen schwebt ein Schatten über die Fläche, und du erkennst die Möve, die in graziös kühnem Fluge die Küsten umirrt, oder hoch im Aether sich wiegend den Seeadler; nur zuweilen raschelt neben dir ein Wiesel durch die dürren Halme, umsummt dich eine Biene. Und dennoch ruht sichs so süß in dieser Oede. Die Sonne blinkt und flimmert so träumerisch, die Kühle des Elements umatmet dich so berauschend, die dumpfen Wellenschläge verrollen so feierlich, daß es über dich kommt wie ein Zauber und alles irdisch Schwere von dir abfällt. In der Tat, wenn du ein Leid zu vergessen hast, gehe hierher an den einsamen Inselstrand!
Aber du willst nicht träumen und hast nichts zu vergessen, junger Leser! Wohlan, stelle dich mit mir auf jenen äußersten Vorsprung der Dünen und mit einem Blicke umfasse das wundersame Bild. Hinter dir die braune Heide, unter dir das graue Gras, vor dir die weiße Tenne des Sandes und darüber hinaus, soweit dein Auge reicht: das Meer, der wallende, wogende Ozean!
Ja, das ist er selber, der uralte Erderschütterer! Unergründlich, unermeßlich liegt er da, still und bewegt, tausendgestaltig und doch gestaltlos. Im fernen Dufte, wolkenansteigend verliert sich seine Grenze, aber dir zu Füßen entrollt schmeichelnd die Welle all ihre Perlen.
Wir steigen zum Strande hinab, denn es ist Ebbe. Der verhüllte Grund hat sich weithin aufgedeckt, dann und wann liegt ein Boot auf dem Trockenen, auch wohl ein gestrandeter Fisch, und kreischend ist das Volk der Vögel herbeigekommen, seine Beute zu suchen. Sie sind eilig, sehr eilig, denn bald wird die Flut zurückkehren. Dann schwellen die Wasser von neuem, und wie aus unsichtbaren Urnen quillt und rieselt und rauscht es allenthalben heran, und nach zwei, drei Stunden ist wieder Meer, was eben noch Land war, als habe der Ozean seinen Raub nur einmal losgelassen, damit er ihn desto fester wieder fassen könne.
Das ist das tägliche Spiel des Riesen. Aber welch eine Szene, wenn er nun zum wirklichen Angriff sich rüstet! Nachdem stundenlang zuvor ein Getöse, als erdröhne der ganze Luftkreis, den Kampf verkündigt hat, der sich in der Wasserwüste bereitet, kommt heulend der Sturm. Er schüttelt die Dünen, daß sie zittern und stäuben. Ihre Gipfel scheinen zu rauchen; zugleich rollt, wie eine Riesenwalze, die erste Flutwelle heran. Hochaufrauschend schwingt sie sich zehn, zwanzig Fuß an den Bergen hinauf, um krachend zu zerschmettern. Aber schon folgt ihr höher und höher klimmend die zweite, die dritte, das ganze Meer steigt aus seinen Tiefen, bis zuletzt die Küste in einen Wall siedender Katarakten verwandelt ist, bis Himmel und Erde in Schaum, Sand und Nebel verschwinden, und nur der Donner der Brandung und des Sturmes dies Chaos erfüllt.
Ist freilich solch ein Aufruhr der Elemente von unvergleichlicher Erhabenheit, so bietet doch auch die stillste Flut noch immer ein majestätisches Schauspiel. Wie fesselt nicht das Auge schon die einzelne Woge, wenn sie weit draußen, mitten auf dem wallenden Getümmel, sich emporhebt, wenn sie nun schwellend und drohend einherzieht, und dann plötzlich in ein schäumendes Nichts zusammenbricht, oder klingend und zischend ihre Ströme ans Ufer schleudert! Dabei wirft sie aus dem Meeresschoß so manches Spielzeug, das den Neuling reizen mag, eine glänzende Muschel, ein Stück Bernstein. Ist es das nicht, so ist es eine Qualle, ein Klumpen Tang, ein bunter Kiesel. Du beschaust erfreut deinen Fund und nimmst ihn mit dir, oder du schließest auch einmal alle deine Sinne, nur um lebenatmend die Luft zu schlürfen, die ewig neugeboren über diesen Wassern schwebt.
So waren wir, aller Zeit vergessend, am Strande dahingeschritten, als wir auf einmal den Leuchtturm in nächster Nähe vor uns sahen. Wie hätten wir den Tag besser schließen können als mit einer Besteigung desselben? Auf einer engen Treppe wanden wir uns in der 130 Fuß hohen Granitsäule hinan. Aber in dem Augenblicke, da ich die Glashaube erreichte, in deren Doppelring die Flamme brennt, faßte es mich wie Schwindel, denn ich fühlte deutlich, daß unter mir der eiserne Boden zitterte. Vergebens versuchte ich mich zu überreden, es sei Täuschung gewesen, denn der Wächter bestätigte die Erscheinung. Doch da er gerade auf diese Art der Struktur die Dauer des Baues zu gründen schien, so kehrte auch mir das alte Gefühl der Sicherheit zurück, und ich trat hinaus auf die Galerie, um mit einem letzten Blick mir das unvergeßliche Bild in die Seele zu prägen.
Es war Abend geworden. Ueber der Heide webte traumhafte Dämmerung, und die Dünen streckten sich hager und gespenstisch ins Meer, das im letzten Purpur schwamm. Bald verglühte auch dieser, die Nacht sank herab; aber aus der Tiefe scholl noch immer, wie ein Chor der Ewigkeit, das erhabene Brausen.