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Wie still und weit sind diese Welten!
Dante.
Der Wechsel der Jahreszeiten gehört ohne Zweifel zu den poetisch-ergreifendsten Erscheinungen der gemäßigten Zone. Was kann schöner sein als ein deutscher Frühling, wenn das neue Licht Quellen und Blumen weckt, wenn es grün um Wald und Felder schimmert, und hoch über der halb noch schlummernden Erde das Lied der Lerche frohlockt? Wem schweiften da nicht immer wieder die alten seligen Paradiesesträume ums Herz? Und nicht bloß das wiedererwachende Leben des Frühlings oder das vollentfaltete des Sommers, auch das herbstlich versinkende noch bewegt unser innerstes Empfinden. Der Herbst, in den die Sonne ihren letzten Glanz versprüht und die unsichtbare Hand schon das Ende geschrieben, steht an Duft und Pracht gewiß seinen Vorgängern nach; aber ist er nicht schöner, so ist er ahnungsvoller als sie. Seiner ernstrührenden Symbolik entzieht sich kein Gemüt, und darum gewährt es einen so eigentümlichen Reiz, den Zeichen nachzugehen, in denen sein Kommen sich ankündigt.
Es ist ein leises, stilles. Wir sehen den Herbst meistens erst, wenn er schon dunklere Schatten in das Farbenbild des Jahres geworfen hat. Auf den Feldern wird das Korn gemäht und geschichtet. Zunächst noch einzeln, nur hie und da; aber die Sicherheit des Sommergefühls ist damit hinweg, denn das Reifen der Aehre bedeutet immer ein ernstes Welken der Natur. Das goldene Halmenfeld ist gleichsam der Sonnenweiser der Vegetation, an dem man wie mit Augen die Tage und Wochen der Sommerzeit ablaufen sieht. Bald regt sich's allenthalben geschäftig, rauschend fallen die Schwaden, Hunderte von Garbenhügeln steigen auf, schon ist der Feldweg bloßgelegt, der geheime, in dem die Wachtel rief, die großäugige Kamille blühte, und die Aehren so vertraut herüber hinüber nickten. Wenige Tage noch – und kahle Stoppelgebreite dehnen sich aus. Es ist eine erste Herbstmahnung, die ans Herz des Menschen ergeht. Die Natur hat wieder ihr großes Werk getan; nun sinkt sie in sich, segensmüde lächelnd, und feiernde Stille zieht über die Erde.
Auch droben unter der Himmelshalle wird's still. Verstummt ist die muntre, gesangsfrohe Vogelwelt. »Der Kukuk un de Achternagel, dat sün de rechten Summervagel« (der Kuckuck und die Nachtigal, das sind die rechten Sommervögel)
Vollständig lautet dieser niederdeutsche Spruch:
De Lark is 'n Lork:
Je duller he schriet,
Je duller et schniet;
Averst de Kuckuck un de Achternagel
Dat sünn de rechten Summervagel. sagt ein Volksreim. Diese Sommervögel sind lange fort. Schon rüstet sich ihnen zu folgen der Storch, der alte treue Hausgenoß; bald auch wird der Wanderruf des Kranichs durch die Weite des Himmels klingen. Seht dort im letzten Blau die reisigen Geschwader, die langen ziehenden Linien! Hoch in sonneblitzenden Lüften, in Nebel und Nacht geht ihre Fahrt; aber durch Nacht und Nebel und Wolken sieht ihr ahnendes
Auge jenseit der Meere das Lebensland. Diese wandernden, scheidenden Vögel – wer hätte sie denn nicht schon begleitet mit sehnenden Gedanken, und in welcher Seele hätte ihr Ruf nicht einen tieferen Nachhall geweckt! Es sind Herbstzüge, Herbststimmen, Stimmen schon wie von einer andern Erde herab,
»und das Herz der Menschenbrust
ist dem Kranich gleichgeartet,
und ihm ist das Land bewußt,
wo der Frühling seiner wartet.« (Lenau.)
Wohl ist die Lerche noch da, aber sie liegt in der Ackerfurche gesanglos; zwischen den Stoppeln spiegelt still das Rebhuhn am Sonnenschein die bunten Federn, wachsam die Augen nach allen Seiten schickend. Nur der Zug der Stare lärmt und schwärmt über Wiesen und Teiche, und die Schwalben »halten Schule« auf den Dächern hin und her, herauf und hinab, bankweise, reihenweise; aber es gilt auch bei ihnen dem Abzug, und seltener wird ihr fröhliches Zwitschern gehört. Haben sie uns erst verlassen, dann ist's voller Herbst, und dann zieht statt des leichten Federspiels nur der Papierdrache durch die Luft, abenteuerlich plump wie irgendein Meermonstrum, eine fabelhafte Herbstmaske. Das tut die Jugend, die noch des Herbstes spotten darf.
Inzwischen grünt im Feld noch immer Pfad und Rain. Da steht noch die Wegwarte ( Cichorium Intybus) – einst war sie eine Dirne, die nächtlich und täglich des davongezogenen Buhlen harrte, nun ist sie verwandelt und schaut allezeit an Straßen und Stegen aus; Man findet diese sinnige etymologische Sage bei Hans Vintler (im Anfang des 15. Jahrh.). Doch bleibt bei dem allegorisierenden und wortspielenden Dichter des »Tugendbuches« Verdacht willkürlicher Erfindung nicht fern, und man wird in dem Namen der Pflanze vielmehr eine Hinweisung auf ihre wuchernde Vermehrung erkennen dürfen. Wegwarte, wie Wegdorn, Wicke, Wacholder und wie noch deutlicher Quendel und Quecke erinnern an das mbd. quec (lebenskräftig) und an das gotische quijan (vivere). Vgl. Wienbarg, Armin, S. 196. da blüht die rosige, scharfbestachelte Hauhechel ( Ononis spinosa), die heilkräftige Dolde der Achillea (Garbe) und des Rainfarn ( Tanacetum vulgare); hin und wieder glimmt noch eine Mohnblume oder ein Rittersporn, indes im Garten Georgine und Malve sonnenfreudig in den Herbst hineinglühen. Wo aus nachwüchsigem Klee ein Blütenkopf blickt, taumelt ein Argus um den Duft; der Siebenpunkt schaukelt sich am Halm, und lauter als selbst im Sommer zirpt die Grille. Auch im leeren Kornfeld ist's nicht leer. Es regt und bewegt sich immer noch manches Tierleben. Der arme Hase sucht ein sicheres Lager; die Feldmaus hüpft umher samt dem Erdfröschchen, dem kein Storch mehr drohet; der Freibeuter Sperling schwirrt von Breite zu Breite. Der Kreatur ist noch überall der volle Tisch gedeckt. Und daß am frischtreibenden Herzblatt der Feldblume auch schon wieder ein welkes hängt, und daß in der Nacht wohl ein früher Frost den Schmetterling erhascht – wer mag es denn sehen?
Mit Glanz und Licht ist alles überschwemmt. Silbern ziehen, gleich Traumgebilden der Luftseele selber, die Herbstfäden durchs Blau, und wie Milch fließt linde Wärme um Stamm und Halm und Stein. Sie weckt auf der Wiese ein neues Grün. Blaue Skabiosen, rote Zentaureen und Epilobien blühen, die Zeitlose webt Amethysten in die samtne Trist, und in den Niederungen kommt die weiße Parnassie (Leberblume, Parnassia palustris). Gehe dem zarten Sterne nicht vorbei. Jedes Blatt voll seinen Geäders, wie frisch aus der Knospe geschält, um den Knauf des Pistills fünf zierliche Radspeichen gestellt, und dazwischen mit betropften Wimpern der Fächer der Nektarien: nie hat Floras Finger ein lieblicheres Spiel gebildet! Dem kurzgrasigen Anger fehlt dieser Schmuck. Nur das Maßliebchen findet da noch immer Platz, es blühet still und emsig vor sich hin, wenig bekümmert um die Dämmergespenster der Pilze ringsher. Aber hier weiden Rinder in friedlichen, besonnten Gruppen. Im fernen Bruch, wo Kibitz und Schnepfen sich bergen, schattet Erlicht um den Kolk. Unbewegt liegen auf dem schwarzen Spiegel die breiten, prächtigen Mummelblätter, und aus dem Grunde steigt die stille weiße Blume. Aber es geht mit den Blumen, wie mit den Werken der Dichter: die Frühlingskinder haben Duft, die Spätlinge bloß Farbe. Der Herbst ist eine Fata Morgana des Frühlings; auch seine schönsten Blumen deuten aufs Ende, und vielleicht haben wir sie gerade darum so lieb. Es ist eben nicht mehr die Zeit der Blüten, sondern nur noch der Früchte.
Auch der Sommer hat schon manches gereift an Bäumen und Sträuchen: allein es waren flüchtige Geschenke, die im raschen Zuge genossen sein wollten. Die edlere, dauernde Frucht bringt nur der Herbst. In sie legt er alles, was er an Farbe, Süße und Duft gesammelt. D» ist die goldene Birne, der Apfel mit dem lachenden Amorettengesicht, da lockt die Pflaume, mit zartblauem Hauch bestäubt, und im wärmeren Versteck die vollbusige, würzige Pfirsich. Auf der Weinbergsmauer aber, von zähen Strängen gehalten, lagert tonnenbäuchig, ein wahrer Falstaff, der sonnengeschwollene Kürbis; er hütet die Kinder der Rebe. Wer aber wollte sich mühen, nun diese poetischste aller Früchte zu zeichnen, für die selber das Wort Frucht schon zu fest und zu schwer erscheint! Jede Beere ein Tropfen, und Beere an Beere welch ein köstliches, triefendes Traubengehänge! Durch den duftigen Schleier blickt das Auge tief hinein in purpurnes und goldenes Feuer und ahnt der Sonnengeister und der Erdenkräfte starken Bund: Evoe Bacche! Und nun stellt »die Schar der Sträucher sich auf. Am Dorn leuchtet Schlehe und Mehlfäßchen, am Pfaffenrohr ( Evonymus) dreht sich ein dreieckig rotes Hütchen, ihnen zu Füßen kriecht die Brombeere übers Feld; aber dem Walde zu weist Hagerose und Eberesche den Weg, mit brennenden Korallen besäet.
Dort in den hohen Hallen gewahrt man am wenigsten vom Herbst. Alles steht noch grün, in der ganzen plastischen Sommerfülle, als seien die Bäume in ihrer dunkeln Pracht erstarrt. Ruhig wölben sich die hohen Kronen, von Wipfel zu Wipfel und fort ins Blaue zieht goldenes Strahlengespinst. Unten im Moos, zwischen Eichelnäpfchen und mancher braunen Nuß blüht Genziane und Glockenblume, und talab an sandigen Rinnsalen steigt's rosenrot und duftig auf. Da schimmert von Bienen umflogen die Heide, der bräutliche Rosmarin, und im Gekraut sonnt sich die Eidechse. Wie heimlich ist das hier, wie süßverschwiegen! Und doch weht durch alle die goldene Majestät und strotzende Fülle ein Hauch von Melancholie uns an. Die Wildnis schläft, kein munteres Band einer Vogelmelodie schlingt sich durch den Kranz des Laubes; nur der Specht hackt, nur ein Rothkelchen, eine Meise schrillt: das ist alles. Und schon schwankt am Sommerfaden ein welkes Blatt der Birke. Sie war die erste, welche den Frühling in den Wald getragen, nun rührt sie auch der Herbst zuerst an. Wie lange – und der ganze Wald brennt in seinen letzten Farben, in einem letzten Abendrot auf!
Aber noch ist's Tag, voller Sonnentag! Der Himmel feiert ein Fest der Verklärung. Denn in der Tat über keine andere Jahreszeit ist dieses magische Licht ausgeschüttet, wie über den Vorherbst. Im Frühlinge ringt es noch mit den Nebeln des weichenden Winters, im Sommer wird es blendend und dunstig, aber jetzt hat es sich von allem Irdischen gelöst, seine Verschleierung selber ist Licht – es ist das lautere himmelgeborene Element. In solchem Anblick mag man ahnen, was die Mystiker dichteten von einem über diesen niederen Wolkenhimmel hinweggespannten Kristallhimmel, dessen Klarheit »hanget in das geistlich unerschaffene Licht, welches Gott selbst ist«. Die Mystiker unterscheiden einen dreifachen Himmel, einen »untersten«, die Feste, das Firmament, das geschmückt ist mit den Planeten und Sternen. Auf diesen folgt der »mittlere«, auch der »kristallene« genannt, »aus dem alles Bewegen durch die Kraft Gottes entspringt«, Ueber diesem endlich wölbt sich der »Feuerhimmel«, das coelum empyreum, der Ort der Seligen. Und welche Milde atmet nun in diesem duftgewobenen, goldgedämpften Aether! Welche endlosen Fernen tun sich auf! Wie zeichnet sich der Waldsaum und dort am Rain der gebrochene Halm so greifbar klar in die Luft! Wie rührend spielt der süße Schein um die nachgebliebenen Rispen, Aehren und Stauden! Jedes gelbe Blatt ist in Goldtinten getaucht, jeder Stein flimmert wie ein Lebendiges.
Zu diesem weichen Schmelz des Lichts stimmen die zerfließenden Formen und Farben der Wolken. Oft schlummern sie in langen Lagern ganze Nachmittage am Horizont, oder sie weben blasse, goldgekantete Flöre über den Himmel. Tastend läuft der Blick an diesen Lichträndern hin oder versinkt in die Tiefe schluchtiger Stellen. Die Phantasie treibt ihr Spiel, schafft Sonnenburgen und Täler, in denen zauberische Stille und Frieden des Himmels wohnt. Dann und wann schwimmt einsam ein Wölkchen daher, zögernd bleibt es stehen, weiß nicht, wohin sein sanftes Fließen lenken; andere legen sich Fittichen gleich um die Sonnenkugel und tragen sie dem Abend zu. Und wer fände nun nicht auch in diesen Sonnenuntergängen alle die Wehmut der scheidenden Natur? Das ist nicht der stolze Opfertod, den die Sommersonne stirbt. In Jugendherrlichkeit, ein strahlendes Meteor, stürzt sich da die unbesiegte Königin in den Scheiterhaufen, aus dem die Purpurflammen himmelan lohen und hinüberglühen bis in die Glorie des neuen Tages. Jetzt löscht sie still und langsam aus. Ueber das Antlitz wirft sie den Wolkenmantel und versinkt – ein paar fächernde Streifen – eine weiße Lichtspitze – dann ist's Nacht. Aber im Osten steigt trübrot und groß aus Nebelhüllen der Mond.
Mit solchen Zügen und Zeichen kommt der Herbst. Traumhafte Sehnsucht liegt über der Welt. Die unabsehbare Runde des Aethers über uns, des Horizontes um uns, die wunderbare Stille in Höhen und Tiefen zieht das Gemüt ins Unendliche. Alle Sinne sind gelöst, und keine Ferne bindet. Meilenweit sieht der Blick in die blaudämmernden Hügel, stundenweit verfolgt er den schimmernden Zug des Flusses und der Segel. Auch dem Ohre ist kein Laut verloren. Die Luft ist »hellhörig« (hellhöri), wie der Niederdeutsche so bezeichnend sagt. Ueber die leeren Ebenen schallt der knarrende Erntewagen, das Gespräch der Heimkehrenden; aus den fernzerstreuten Gehöften hört man Hundegebell und klappernde Flachsschwingen, und am Boden ruhend des Käfers Kriechen und jedes rollende Sandkorn.
Aber immer rascher nahet das Ende; die Wahrzeichen und Wahrsagen des Herbstes sprechen dringender in die Seele. Bald bezieht sich der Himmel und streift tagelang die Schleier nicht ab; er gleicht »einem feuchten Auge, dem mit jedem Blick eine Träne entfallen kann«. Rührt ein Hauch die Luft, so schwankt Blatt um Blatt vom Baum; bricht ein Sonnenstrahl durch die Trübe, so deckt er nur neuen Vergang auf. Ueber Wald und Flur stehen leise Nebel, und mit ihnen entbindet sich jener feuchtdumpfe, unverkennbare Herbstgeruch, Nees v. Esenbeck, »System der Pilze und Schwämme«, sagt in einer sehr charakteristischen Stelle, auf die Carus aufmerksam macht: »Im Herbste drückt sich selbst der trockene Boden dem Liegenden feucht an, und der feuchte dringt mit steigender Kühle zu uns herauf. Man fühlt sich geschmeidiger und schlanker, auch beweglicher. Mild breitet sich die Sonne durch die dünne Umwölkung über uns aus; aber ihr enthüllter Strahl dringt ein und erwärmt in der Ruhe bis zur Qual, von der Bewegung rettet, statt daß in der Frühlingssonne Bewegung lästig wird und vom Entschlusse gefordert werden muß. – Wer kennt ferner nicht den eigentümlichen herbstlichen Geruch, wie gekohltes Wasserstoffgas, mit der Einwirkung eines Harzelektrophors auf das Geruchsorgan verbunden, und seine eindringende, mahnende, warnende Deutung im stillen, dunkeln Selbstgefühl? Das ist der Zeitraum, in welchem die letzte Regung des Frühlings verklingt. der die Auflösung des Naturlebens begleitet. Alles geht zur Neige oder rüstet zum Schlaf. Schwalbe und Lerche sind fort, die Herden verlassen die Weide, was noch übrig war von Früchten des Feldes wird eiliger geborgen. Die Aehrenleserin und der Bettelknabe mit dem Reisbündel – das sind die Letzten, die von der Fülle draußen den Teil der Armut gesammelt. Und nun bleibt nichts von allem als ein stummes Memento mori Gedenke des Todes! – als die dürre Ranke, die schwermütig im Winde wiegt, und der entblätterte, schauernde Wald.
Anmerkungen als Fußnoten im Text eingepflegt. Re.