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28.

DDie Frau Amtsrätin hatte am andern Tage noch nicht ausgetrotzt. Sie war für niemand sichtbar; nur das Stubenmädchen durfte bei ihr aus und ein gehen, und als der Landrat mittags vom Amt zurückkam und um Zutritt bitten ließ, da wurde ihm der Bescheid, daß die Nerven der alten Dame noch allzusehr erschüttert seien, sie bedürfe für einige Tage der ungestörtesten Ruhe. Er zuckte die Achseln und machte keinen weiteren Versuch, in das selbstgewählte Exil seiner Mutter einzudringen.

Nachmittags kam er herunter in die Bel-Etage. Er hatte sein Pferd satteln lassen und war im Begriff auszureiten.

Margarete war allein in dem für den Großpapa bestimmten Wohnzimmer und legte eben die letzte Hand an die behagliche Einrichtung. Am Spätnachmittag sollte sie im Glaswagen nach Dambach fahren, um am nächsten Morgen mit dem Patienten in die Stadt zurückzukehren.

Sie hatte Herbert heute schon gesprochen. Er war in aller Frühe im Packhause gewesen und hatte ihr Morgengrüße von dem kleinen Bruder und seinen Großeltern und die Beruhigung gebracht, daß die gestrige heftige Nervenerschütterung der Kranken nicht im geringsten geschadet habe; sie gehe im Gegenteil ihrer völligen Wiederherstellung mit raschen Schritten entgegen, wie er vom Arzt wisse.

Nun kam er hier herein, um auch noch einmal Rundschau zu halten. Margarete placierte eben ein schönes, altes, den Lamprechts gehöriges Schachbrett in der Zimmerecke unter dem Pfeifenbrette. Er übersah von der Thüre aus den äußerst gemütlichen Raum.

»Ah, wie das anheimelt!« rief er näherkommend. »Da wird unser Patient seine einsame Pavillonstube nicht vermissen! Ich freue mich, daß wir ihn endlich hier haben werden! Wir wollen ihn zusammen pflegen und für sein Behagen und Wohlbefinden treulich sorgen – ist dir's recht, Margarete? Es soll ein schönes, inniges Zusammenleben werden!«

Sie hatte sich weggewendet und zog und ordnete an den verschobenen Falten der nächsten Portiere. »Ich weiß mir nichts Lieberes, als mit dem Großpapa zusammen zu sein,« antwortete sie, ohne sich umzusehen. »Aber mein kleiner Bruder hat jetzt auch Ansprüche an mich, und ob der Großpapa sich an das Kind so schnell gewöhnen wird, um es neben mir in seiner Nähe zu dulden, das steht doch sehr in Frage. Ich muß dann meine Zeit zwischen ihnen teilen.«

»Ganz recht,« gab er zu. »Und die Sache hat auch noch eine Seite, die beleuchtet sein will. Nichts ist natürlicher, als daß sich die Jugend zur Jugend gesellt; wir zwei alten Leute – mein guter Papa und ich – können mithin nicht von dir verlangen, daß du dich für uns allein aufopferst. Aber – lasse mit dir handeln – dann und wann ein Abendplauderstündchen, willst du?«

Sie wandte sich mit einem schattenhaften Lächeln nach ihm um, und er griff nach seinem hohen Hut, den er auf den Tisch gelegt hatte – sein nicht zugeknöpfter Ueberzieher ließ einen tadellos eleganten Gesellschaftsanzug sehen.

Er bemerkte ihren befremdeten Blick. »Ja, es liegt heute noch vieles vor mir,« sagte er erklärend. »Zunächst habe ich die Aufgabe, meinem Vater Mitteilung von dem Umschwunge der Verhältnisse in eurer Familie zu machen, und dann« – er zögerte einen Moment, dann fügte er um so rascher hinzu: »Du bist die erste, die es erfährt, selbst meine Mutter weiß es noch nicht – dann gehe ich nach dem Prinzenhofe zur Verlobung!«

Sie wurde schneeweiß über das ganze Gesicht, und ihre Rechte hob sich unwillkürlich nach dem Herzen. »Dann darf ich dir ja wohl jetzt schon Glück wünschen,« stammelte sie tonlos.

»Noch nicht, Margarete,« wehrte er ab, und auch in seinen Zügen malte sich plötzlich eine tiefe innere Bewegung; aber er unterdrückte sie rasch. »Heute abend, wenn ich nach Dambach komme, um von da nach der Stadt zurückzukehren, sollst du Gelegenheit haben, ›den Onkel‹ glücklich zu sehen.« Er winkte mit der Hand nach ihr zurück und ging eiligen Schrittes hinaus. Bald darauf sah sie ihn über den Markt reiten.

Sie blieb bewegungslos am Fenster stehen. Die krampfhaft verschränkten Hände fest auf die Brust gedrückt, starrte sie in das Stück Himmel hinein, das sich, heute durch einen schmutzig grauen Wolkendunst getrübt, über den weiten Marktplatz spannte … Wohl durchkreiste das Blut in wilder Wallung ihre Adern, und doch fühlte sie sich tödlich matt, als sei sie mit einem Streich zu Boden gestreckt worden … Ja, dahin war sie gekommen! Vor wenigen Monaten noch war ihr die Welt zu eng gewesen, himmelstürmend in Uebermut, Jugendlust und Freiheitsdrang hatte sie jede Fessel verlacht, und heute dominierte in dem armseligen bißchen Gehirn ein einziger Gedanke, und ihre arme Seele wand sich kläglich hilflos am Boden, zum Gaudium all derer, die gern am Boden kriechen, die stolze Seelen hassen und verfolgen. Aber mußte denn die Welt um die Wunden wissen, die ihr in Kopf und Herzen brannten? Gingen nicht viele durchs Leben und nahmen Geheimnisse mit ins Grab, um die kein Mitlebender gewußt hatte? – Und dazu mußte auch sie die Kraft finden. Sie mußte lernen, ruhig in ein Paar Augen zu blicken, welche die größte Macht über sie hatten; sie mußte es über sich gewinnen, zuvorkommend mit einer schönen Frau zu verkehren, die sie verabscheute, und in einem Heim aus und ein zu gehen, in welchem diese Frau als Herrin, als ihre hochgeborene Tante schaltete und waltete.

Später kam sie in die Wohnstube herunter und rüstete sich zur Fahrt nach Dambach. Tante Sophie schalt, daß sie den Kaffee stehen lasse und den Kuchen nicht anrühre, den die zerknirschte Bärbe heute morgen einzig und allein für sie gebacken habe; allein das junge Mädchen hörte kaum, was sie sagte. Sie knüpfte schweigend die Hutbänder unter dem Kinn; dann legte sie den Arm um Tante Sophiens Hals – und da überkam sie eine plötzliche Schwäche, nämlich der tiefe, sehnsüchtige Wunsch, hier, wie sonst in ihrer Kindheit, in jeglicher Bedrängnis Zuflucht zu suchen und in das Ohr der Tante alles zu flüstern, was ihr Inneres durchtobte – unter dem Zureden der treuen Pflegerin war sie ja stets ruhiger geworden. Aber nein, das durfte nicht geschehen! Die Tante durfte nicht den Jammer erleben, sie so unglücklich zu wissen! Und so schloß sie die Lippen fest aufeinander und bestieg den Wagen.

Draußen, jenseits der Stadt, ließ sie das Glasfenster herunter. Von Süden her kam ein leichter Wind und wehte sie an mit jenem süßen Hauch, der das starre Eis zu rinnenden Thränen zwingt, der die Schneelast von Baum und Strauch löst, und ein wundersames Regen in allem weckt, was da lebt und webt, auch im Menschenherzen – es war Tauwetter im Anzuge … Und weich wie die Luft lag auch das erste Abenddämmern auf der Gegend; die harten, unvermittelten Töne der winterlichen Tagesbeleuchtung erloschen zu einem einzigen milden Grau, aus welchem bereits da und dort das Lampenlicht vereinzelter Dorfhäuser auftauchte. Und dort zur Rechten flimmerte es, als liege eine Perlenkette in schwach goldigem Glanze zu Füßen der alten Nußbäume – die ganze Fensterreihe des Prinzenhofes war beleuchtet, die Verlobungskerzen brannten …

Sie drückte sich tief in die Wagenecke, und erst als der Kutscher von der Chaussee ab in den Fahrweg nach der Fabrik einlenkte, und der Prinzenhof im Rücken liegen blieb, da sah sie auf, scheu und ungewiß, fast wie ein furchtsames Kind, das sich zu vergewissern sucht, ob eine unheimliche Erscheinung auch in der That verschwunden sei.

Der Großpapa empfing sie mit freudigem Zuruf, und bei dem Laute der lieben, rauhen Stimme raffte sie sich auf und suchte möglichst unbefangen seinen Gruß zu erwidern. Aber der alte Herr war heute auch ernster als sonst. Zwischen seinen Brauen lag ein Zug finsteren Grolles. Er rauchte nicht, seine Lieblingspfeife lehnte kalt in der Ecke, und nachdem die Enkelin Hut und Mantel abgelegt, nahm er seine Wanderung durchs Zimmer, welche sie durch ihre Ankunft unterbrochen hatte, wieder auf.

»Ja gelt, wer hätte das gedacht, Maikäferchen?« rief er plötzlich vor ihr stehen bleibend. »Ein Narr, ein vertrauensseliger Schwachkopf ist dein alter Großvater gewesen, daß er die Augen nicht besser aufgemacht hat! Nun kommt das wie ein plötzlicher Hagelschauer aus blauem Himmel über einen her, und man steht da wie in den April geschickt, und muß die Bescherung hinnehmen und ›Ja und Amen‹ dazu sagen, als wenn man's gar nicht anders erwartet hätte.«

Sie schwieg und sah zu Boden.

»Arme Kleine, wie verstört und elend du aussiehst!« sagte er, indem er die Hand auf ihren Scheitel legte und ihr Gesicht der Lampe zuwendete. »Nun, ein Wunder ist's nicht; Schwerenot noch einmal, das ist mehr als genug, um einen alten Kerl wie mich außer Rand und Band zu bringen! Und du verbeißest es und trägst es still und tapfer! … Herbert sagt, wie ein Mann, ein braver, mutiger Kamerad habest du neben ihm gekämpft.«

Sie wurde feuerrot und sah ihn an, als schrecke sie aus einem Traume empor. Er sprach von den Enthüllungen in ihrer Familie, während sie gemeint hatte, sein Groll gelte Herberts Verlobung … Es stand schlimm um sie! So ausschließlich beherrschte sie der Gedanke an das, was zu dieser Stunde drüben im Prinzenhofe vorging, daß alles andere daneben spurlos versunken war.

»Aber, nun paß auf, Kind!« hob er wieder an. »In der Kürze wird man uns in unserem guten Krähwinkel auf das Allerschönste zerzausen. Die Klatschbasen haben vollauf zu thun, und es soll mich nur wundern, wenn sie nicht den Ausrufer auf den Markt schicken und die pikante Geschichte, so da geschehen im Hause Lamprecht, ausschelten lassen  … Na, thut nichts! Um das Gerede in der Stadt hab' ich mich mein Lebtag nicht gekümmert, und die Sache an sich wird ja wohl auch zu ertragen sein; nur eines verwinde und verzeihe ich nicht – pfui Teufel, über die Feigheit, die Grausamkeit, mit der ein Vater sein Kind verleugnet und –«

»Großpapa!« unterbrach ihn Margarete flehentlich bittend und legte ihre Hand auf seinen Mund.

»Nun, nun,« brummte er und schob die kleinen kalten Finger von seinem Schnauzbarte, »ich will still sein, um deinetwillen, Gretel. Ich will dir auch das Leben nicht sauer machen mit ungewünschten Ratschlägen und zudringlichen guten Lehren; denn du wirst selbst am besten wissen, daß ihr viel gutzumachen habt an dem kleinen Burschen, der euch ins Haus gefallen ist, und auch an dem armen Kerl, dem alten Lenz. Möcht' nur wissen, wie der's fertig gebracht hat, nicht mit beiden Beinen hineinzuspringen in die Geschichte und von dem – na, von deinem Vater, gleich zu Anfang das klare Recht für den Jungen zu fordern! Na ja, ein Künstler, eine stille Mondscheinnatur; wie soll da der Ingrimm, die Empörung hineinkommen!« –

Die Frau Faktorin hatte einen schönen Abendtisch hergerichtet; aber Margarete konnte nicht essen. Sie bediente den Großpapa und sprach lebhaft dabei, und nach Tische stopfte sie ihm eine Pfeife. Dann packte sie seine Bücher in eine Kiste und trug alles herbei, was sich zur morgigen Fahrt nötig machte. Sie lief treppauf, treppab, und da blieb sie plötzlich an einem Fenster der unbeleuchteten Oberstube stehen und preßte beide Hände gegen die Brust, in welcher das Herz zu zerspringen drohte. Fast greifbar nahe blitzten dort die hohen, lichtfunkelnden Fenster des Prinzenhofes durch das Nachtdunkel herüber, und bei diesem Anblick brach der letzte Rest von Selbstbeherrschung, den sie mit fast übermenschlicher Kraft dem Großpapa gegenüber behauptet hatte, in ihr zusammen.

Mit einem Jammerlaut aus tiefster Brust warf sie sich auf das nahestehende Sofa und wühlte das Gesicht in die Polster. Da zogen sie nun sieghaft an ihr vorüber, die Bilder, denen sie hatte entrinnen wollen! Sie sah frohe, glückliche Menschen in den blumendurchdufteten, strahlenden Räumen des kleinen Schlosses, sah vor allem die Braut, die blonde Schönheit, die das Fürstenblut in ihren Adern nicht geltend machte, die ihren stolzen Namen aufgehen ließ in dem eines bürgerlichen Beamten um ihrer Liebe willen. Und er daneben – sie sprang auf und floh aus dem Zimmer.

Drunten saß der Amtsrat in seiner Sofaecke hinter dem Tische. Er war offenbar ruhiger geworden, denn er las die Zeitung und rauchte seine frischgestopfte Pfeife.

Margarete griff nach ihrem Mantel. »Ich muß einen Augenblick in die frische Luft hinaus, Großpapa!« rief sie von der Thüre her dem Lesenden zu.

»Geh du, Kind,« sagte er. »Wir haben Südwind, der löst die Spannung in der Natur und ihren Kreaturen und macht vieles gut, was der Mosje Isegrimm vom Nordpol her verbrochen hat.«

Sie ging hinaus, an dem Teich vorüber, der, hartgefroren unter seiner Schneedecke, kaum vom Wege zu unterscheiden war. In den Fabrikräumen brannte längst kein Licht mehr – es war still im Hofe, und nur der grimme Kettenhund kam aus seiner Hütte und schlug an, als die junge Dame das Thor passierte.

Draußen über die Felder her sauste der Tauwind, der in der hereingebrochenen Nacht allmählich zum Sturm anwuchs; er zerwühlte das unbedeckte Haar der Dahinschreitenden, aber ihr Gesicht badete er gleichsam in weichen, feuchten, schmeichelnden Wogen.

Es war sehr dunkel; auch nicht das kleinste Sternenlicht blinzelte der Erde zu; der Himmel hing voll schwerer, tiefgehender Wolken, die jedenfalls in dieser Nacht noch als warmer Regen niederrieselten. Dann war allerdings die Spannung gelöst, und es tropften wohlthätige Thränen von Ast und Zweig und nahmen der Mutter Erde den weißen Totenschleier vom Gesicht. Ja, wer sich ausweinen konnte! Aber so mit trockenen, brennenden Augen in ein Leben voll unausgesprochener Schmerzen hineinsehen zu müssen!

Wo hinaus sie wollte? Immer dem Lichte nach, dem verderblichen Lichte, das dem Nachtfalter die Flügel verbrennt und ihn tötet! Und wenn ihr dort aus den Fenstern lodernde Flammen entgegengeschlagen wären, sie hätte den Fuß nicht rückwärts zu wenden vermocht! Weiter, weiter, selbst in den Tod hinein, wenn es sein mußte!

Sie lief mehr als sie ging den festgetretenen Weg entlang, der das Ackerland durchschnitt. Noch knirschte der Schnee unter ihren Füßen; das war bisher der einzige Laut gewesen, der die Nachtstille unterbrochen; aber nun, nachdem auch die Chaussee überschritten war, und das weite Parterre des Prinzenhofgartens sich vor ihr hinbreitete, trug ihr der Wind rauschende Akkorde zu – im Schlosse wurde Klavier gespielt. Da saß die Braut am Flügel – keine zarte heilige Cäcilie mit durchgeistigtem Gesicht, weit eher eine Rubensgestalt von üppiger Fülle und blühendstem Inkarnat – das volle Blondhaar glitzerte im Lichte der Kronleuchter, und die schöngebogenen Finger glitten über die Tasten – aber nein, unter ihren Fingern erbrauste das Instrument nicht in so erschütternd beseelter Weise, Heloise von Taubeneck spielte stümperhaft und geistlos, wie sie neulich zur Genüge gezeigt hatte! – Aber wer es auch sein mochte, der da spielte, er hatte teil an der Feier, die man heute beging – ein wahrer Sturm von Jubel und Begeisterung brauste durch den Vortrag.

Vor der Nordfront des Schlößchens breitete sich ein mächtiger Lichtschein hin. Der weite, im Sommer von buntfarbigen Blumengruppen unterbrochene Rasengrund lag fleckenlos weiß, ein einziges glitzerndes Schneefeld, hinter dem Rankrosenspalier, das ihn von dem dicht an die Hausmauern stoßenden Kiesplatz schied. Dieser Platz war ziemlich von Schnee gesäubert, nur eine dünne, festgetretene Schicht lag auf den Kieseln.

Margarete war bis hierher gekommen, ohne irgendwie durch Menschennähe erschreckt zu werden. Nun mäßigte sie ihren Laufschritt und ging unter den Fenstern hin. Was sie hier wollte? Sie wußte es selbst kaum – eine geheimnisvolle, furchtbare Gewalt trieb sie wie der Sturm in den Lüften vor sich her; sie mußte laufen und sehen und wußte doch, daß gerade der Anblick der Glücklichen ihr wie Dolchstiche das Herz zerfleischen mußte.

In dem Salon, wo der Flügel stand, waren die weißen Rollvorhänge herabgelassen; kein Schatten einer menschlichen Gestalt bewegte sich hinter dem transparenten Gewebe, man lauschte, wie es schien, regungslos dem meisterlichen Spiele. Dagegen waren die drei Fenster des anstoßenden Zimmers, in dessen Nähe das junge Mädchen stehen geblieben war, nicht verhüllt. Das Licht des Kronleuchters floß in grellem Glanze durch die Scheiben und auf die Fürstenbilder, die im Hintergrunde des Zimmers von der Wand herabsahen. Das war der Speisesaal; hier hatte das Verlobungsdiner stattgefunden; zwei Lakaien waren beschäftigt, die Tafel abzuräumen; sie hielten die angebrochenen Flaschen gegen das Licht und tranken die Reste aus den Weingläsern.

Die Schlußakkorde des Musikstückes waren längst verhallt, und noch stand Margarete neben einer der niederen Kugelakazien, welche da und dort das Rankrosenspalier unterbrachen. Der Wind warf ihr das Haar von Stirn und Schläfen zurück und stäubte die gelockerten Schneereste von dem dürren Gezweig des Bäumchens über sie her. Sie fühlte es nicht. Ihr Herz hämmerte in der Brust, mühsam rang sie nach Atem, während ihre heißen Augen unablässig über alle unverhüllten Fenster irrten – einmal mußten sich die Glücklichen doch zeigen. O, der Thörin, die in Wind und Wetter harrte und aushielt, um einen tödlichen Streich zu empfangen! – Da wurde plötzlich eine Thüre, ziemlich am Ende der Hausfront, geöffnet. Aus einem schwach beleuchteten Entree trat ein Mann und stieg die niedere Freitreppe herab, während die Thüre hinter ihm wieder geschlossen wurde.

Einen Augenblick stand die Lauscherin wie gelähmt vor Schrecken. Das Rosenspalier hinderte sie, über den Rasengrund in die Dunkelheit des freien Feldes hinaus zu flüchten, und vor ihr lag der lange, fast tageshell beleuchtete Kiesplatz. Aber da gab es kein Besinnen, gesehen wurde sie, und nur ihre flinken Füße konnten sie vor einer unausbleiblichen Demütigung retten. So floh sie wie gejagt den Kiesplatz entlang und über die Auffahrt vor dem westlichen Portal des Schlößchens hinaus ins Freie.

Hier packte sie der Wind; er trieb sie vor sich her wie eine Schneeflocke und erleichterte ihr die Flucht; allein weder er, noch ihr eigenes Dahinfliegen konnten ihr helfen – die Männerschritte, die sie verfolgten, kamen näher und näher. Der Weg war glatt und schlüpfrig geworden, sie glitt plötzlich aus und sank auf ein Knie nieder – in diesem Moment eines namenlosen Entsetzens umfaßte sie ein kräftiger Arm und hob sie empor.

»Spottdrossel, hab' ich dich?« rief Herbert und schlang auch den anderen Arm um das atemlose, an allen Gliedern bebende Mädchen. »Nun sieh, wie du wieder frei wirst! Mit meinem Willen niemals! Der ›Spottvogel‹, der mir unbesonnen ins Garn geflogen ist, gehört mir von Gott und Rechts wegen! Bist du's wirklich, Margarete? – Ah, ›sie ist gekommen in Sturm und Regen‹!« recitierte er und verhaltener Jubel durchbebte seine Stimme.

Sie strebte vergebens, sich loszuwinden, er umschloß sie desto fester. »O Gott, ich wollte –«

»Ich weiß, was du wolltest,« unterbrach er die fast weinend hervorgestoßenen Worte. »Du wolltest die erste sein, die dem Onkel gratulierte! Deshalb bist du durch Sturm und Wetter über weite, öde Felder gelaufen, hast vor lauter Eifer vergessen, eine warme Hülle über deinen Tollkopf zu werfen, und bei alledem hast du dich rettungslos verflogen und wirst obendrein deine Glückwünsche nicht los werden, es sei denn, daß wir umkehrten und dem Prinzen Albert von X und seiner Braut unsere Aufwartung machten. Aber du wirst einsehen, daß dein windzerzauster Lockenkopf in diesem Augenblick nicht gerade salonfähig ist.«

Jetzt hatte sie sich losgerissen. »Dein Glück macht dich übermütig! « stieß sie in schmerzlichem Zorn hervor. »Das ist ein grausamer Scherz!«

»Ruhig, Margarete!« mahnte er mit sanftem Ernst, indem er sie wieder an sich zog und ihre widerstrebende Hand fest in seine Linke nahm. »Ich scherze nicht. Fräulein von Taubeneck ist nach längerem Hoffen und Harren endlich mit hoher landesherrlicher Bewilligung die Braut des Prinzen von X geworden; und jetzt darf es ja ausgesprochen werden, daß ich in dieser Angelegenheit der Vermittler gewesen bin. Die rote Kamelie, mit welcher ich neulich dekoriert wurde, war ein Dankesausdruck für meine sieggekrönten Bemühungen … Dann also hast du schwer geirrt. Dagegen muß ich dir nach einer anderen Seite hin recht geben. Ich bin wirklich übermütig! Ich triumphiere! Ist mir nicht mein Glück von selbst in die Arme gelaufen? Ja, bist du nicht gekommen ›in Sturm und Regens getrieben von böser Eifersucht,‹ die ich längst in deinem Herzen gelesen habe? Denn du bist und bleibst die Grete, deren gerades, offenes Wesen keine Weltpolitur hat schädigen können. Nun leugne noch, wenn du kannst, daß du mich liebst –«

»Ich leugne nicht, Herbert!«

»Gott sei Dank, er ist begraben, der alte Onkel! Und du bist fortan nicht meine Nichte, sondern –«

»Deine Grete –« sagte sie mit schwacher Stimme, von dem jähen Wechsel zwischen Glück und Leid völlig überwältigt.

»Meine Grete, meine Braut!« ergänzte er mit siegerhaftem Nachdruck. »Nun wirst du auch wissen, weshalb ich es abgelehnt habe, dein Vormund zu werden.«

Er hatte sich längst so gestellt, daß er sie mit seiner hohen Gestalt vor dem brausenden Winde schützte; nun bog er sich nieder und küßte sie innig; dann nahm er den Seidenshawl von seinem Halse und band ihn sorglich über ihr unbedecktes Haar.

Nunmehr schritten sie in raschem Tempo der Fabrik zu; und dabei erzählte er der Aufhorchenden, daß er von der Universitätszeit her mit dem jungen Fürsten von X befreundet sei. Derselbe habe ihn gern und gebe viel auf sein Urteil. Vor einem halben Jahre nun habe der jüngere Bruder des Fürsten die schöne Heloise am Hofe ihres Onkels kennen gelernt und eine tiefe Neigung für sie gefaßt. Diese Neigung sei auch von ihrer Seite erwidert worden, und ihr Onkel, der Herzog, habe dieselbe begünstigt. Dagegen sei der fürstliche Bruder ein entschiedener Gegner der Verbindung gewesen, auf Grund der illegitimen Geburt der jungen Dame. Der Herzog habe schließlich ihn, Herbert, in das Geheimnis gezogen und die Vermittelung in seine Hand gelegt, und daß dieselbe zum glücklichen Ziele geführt, beweise die heutige Feier im Prinzenhofe.

»Hast du das wundervolle Klavierspiel gehört?« fragte er zum Schluß.

Sie bejahte.

»Nun, das war er, der Bräutigam, der sein Glück in alle Lüfte hinausjubelte … Morgen wird unsere gute Stadt auf dem Kopfe stehen vor Erstaunen über das Ereignis. An beiden Höfen ist das strengste Stillschweigen beobachtet worden, und daß ich das Geheimnis ebenso streng behütet habe, versteht sich von selbst. Nur mein guter Papa hat darum gewußt. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er auch nur stutzig geworden wäre gegenüber dem allgemein kolportierten, albernen Märchen von meiner Bewerbung um Fräulein von Taubenecks Hand! … Aber mit dir habe ich nun noch eine Rechnung abzumachen. Du hast mich für einen Erzbösewicht verschrieen, hast mir die schnödesten Bitterkeiten gesagt über mein Buhlen um Fürstengunst; einer jener gewissenlosen Streber sollte ich sein, die, über das Lebensglück anderer hinweg, die höchste Spitze des ›Kletterbaumes‹ zu erreichen suchen, gleichviel, ob sie für eine hohe, verantwortliche Stellung befähigt sind oder nicht, und was dergleichen schöne Dinge mehr sind – was hast du darauf zu sagen?«

»O, sehr viel!« antwortete sie, und wenn es nicht tiefdunkle Nacht gewesen wäre, so hätte er sehen müssen, wie das liebliche, schalkhafte Lächeln, das ihn beim ersten Wiedersehen an der »übermütigen Grete« überrascht und entzückt hatte, ihr Gesicht belebte. »Wer hat mich geflissentlich in dem Glauben bestärkt, daß der Landrat Marschall um die Nichte des Herzogs freie? Du selbst. Wer hat das schlimme Feuer der Eifersucht in einem armen Mädchenherzen entfacht und böswillig zur hellen Flamme angeblasen? Du, nur du! Und wenn ich anfänglich nicht glauben konnte, daß du Liebe, wahre, tiefe Liebe für die schöne, aber erschrecklich indifferente Heloise fühltest, so geschah das aus Respekt vor deiner geistigen Ueberlegenheit, und ich mußte, wie die böse Welt auch, zu dem Schluß kommen, daß die weißen Hände der herzoglichen Nichte erkoren seien, dich auf die höchste Staffel des Kletterbaumes, den Ministerposten, zu heben … Abbitten werde ich nicht mehr – wir sind quitt! Du hast selbst glänzend Revanche genommen. Denke nur an das arme Mädchen, das du bei Nacht und Nebel zu einem ›Gang nach Canossa‹ getrieben hast!«

Er lachte leise in sich hinein. »Das konnte ich dir nicht ersparen – ich habe ja selbst dabei gelitten. Aber es war doch schön, zu beobachten, wie du mir Schritt um Schritt näher kamst! Nun aber genug des Kampfes! Friede, seliger Friede sei zwischen uns!« Er schlang seinen Arm um ihre Schultern, und nun ging es in wahrem Sturmschritt fürbaß.


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