Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

5.

Herr Lamprecht kümmerte sich nicht weiter darum, ob ihm die Kleine auch folge. Er war längst unten, und sie hatte ihn in die Wohnstube eintreten hören, als sie noch oben an der Treppe stand. Die Hände auf das Geländer stützend, glitt sie langsam Stufe um Stufe hinab. Die Thüre der Wohnstube war offen geblieben; Herrn Lamprechts starke, volltönende Stimme klang heraus, und Margarete hörte beim Herabkommen, wie er zu Tante Sophie von lautem Schreien, Laufen im Korridor des Seitenflügels, von eingebildeten Erscheinungen am hellen Tage und seinem Verweilen im roten Salon sprach; er blieb dabei, daß das Kind sich die Erscheinung im dunklen Gange eingebildet habe, daß daran die »Fraubasen-Geschichten« der Gesindestube schuld seien, und daß Margarete sofort in ein Institut übersiedeln müsse, um alle diese Eindrücke abzuschütteln und im übrigen auch manierlicher und mädchenhafter zu werden.

Leisen Schrittes ging die Kleine an der Thüre vorüber. Sie warf einen scheuen Blick in das Zimmer – der kleine Bruder hatte seinen Turmbau im Stich gelassen und hörte mit offenem Munde zu, und Tante Sophiens liebes, lustiges Gesicht war ganz blaß und fahl; sie preßte die verschlungenen Hände auf die Brust, aber sie sprach nicht, »weil das ja doch nichts half«, dachte das kleine Mädchen im Vorüberhuschen, denn wenn der Papa einmal mit der Großmama zusammen etwas beschloß, da half kein Bitten und Betteln mehr, die Großmama setzte es durch … Nur einer hatte noch Gewalt, wenn er dazwischen fuhr und kräftig polterte und wetterte, und das war der Großpapa in Dambach. Der half, das wußte sie! Er ließ seine Gretel nicht fortschleppen, am allerwenigsten aber in »den großen Vogelbauer, wo sie alle in einem Tone pfeifen mußten«, wie er stets sagte, wenn die Großmama auf ein Mädcheninstitut hinwies … Ja, er half! Was wollten sie denn machen, wenn er – wie er immer that, sobald ihm der Widerspruch zu toll wurde – mit den starken Fingerknöcheln auf den Tisch klopfte und mit seiner rauhen Stimme ernsthaft sagte: »Ruhe bitte ich mir aus, Franziska! Ich will es so, und hier bin ich Herr!«? Da ging ja die Großmama stets hinaus, und die Sache war abgemacht. Ja, war man nur erst in Dambach, dann hatte es keine Gefahr mehr!

Sie lief hinaus in den Hof, um die Ziegenböcke aus dem Stalle zu holen; aber der Hausknecht hatte die Thüre zugeschlossen, und eigentlich gab es doch wohl auch zu viel Lärm, wenn der Wagen rasselte; dann kam irgendwer und machte ihr das Thor vor der Nase zu, und sie mußte dableiben … Da hieß es denn, sich tapfer auf seine zwei Füße stellen und hinauslaufen. Im Vorübergehen hatte sie ihren Hut genommen, der noch auf dem Gartentisch lag; sie knüpfte die Bänder unter dem Kinn und machte sich auf den Weg.

Niemand hatte das Kind gesehen, als es durch den Thorweg des Packhauses auf die Straße hinausschlüpfte. Es war keine Menschenseele im Hof; auch Blanka Lenz hatte den offenen Gang wieder verlassen. Und draußen war es auch menschenleer; die Leute saßen noch nicht vor den Hausthüren, dazu war der Abend noch nicht weit genug vorgeschritten; nur ein paar kleine barfüßige Jungen ließen auf dem Kanal, der schmalen, seichten Wasserader, welche die Straße in der Mitte durchschnitt, Papierschiffchen schwimmen. »Die haben's gut!« dachte die Kleine und marschierte über das Brückchen in die benachbarte Gasse; dann kam man zu einem Durchbruch der Stadtmauer, und von da lief ein Fußweg durch die Felder und eine niedere Anhöhe hinauf nach Dambach. Er machte zwar einen ziemlich weiten Bogen und war einsam; aber sie kannte ihn und schlug ihn auch jetzt ein – über der belebteren Chaussee wirbelten ja bei jedem Windhauch erstickende Staubwolken, die sie heute Nachmittag beim Hereinfahren wie mit Mehl überpudert hatten …

Ach ja, heute nachmittag, da war noch alles gut gewesen! Sie hätte aufschreien mögen vor Lust, als die Böcke mit ihr aus dem Dambacher Hofthor gestürmt waren; der Großpapa hatte gelacht und Hurra hinterdrein geschrieen, und die Dorfkinder, ihre getreuen Spielkameraden, waren ein Stück mitgelaufen, und die Jungen hatten untereinander gesagt: »Sapperlot, die kann's aber!« … Nun kam sie wieder, um sich beim Großpapa zu verkriechen. Ach, wenn er sie doch ganz und gar draußen behielte! Sie wäre ja um alles gern in die Dorfschule gegangen … Dahinaus kam auch die Großmama niemals – sie sagte immer, sie könne den Fabriklärm nicht vertragen, und darauf meinte der Großpapa allemal lachend: und er bliebe draußen, weil er ihren Papagei nicht schreien hören könne.

Während dieses Durcheinander in dem aufgeregten Hirn des Kindes kreiste, trabten die kleinen Füße im schleunigsten Tempo vorwärts. Ein langes Stück Weges ging es durch wogende Getreidefelder, und da wurde es dem kleinen Mädchen doch ein wenig beklommen zu Mute – seit sie mit Tante Sophie zum letztenmal hier gegangen, waren die grünen, jetzt schon zu mattem Gelb bleichenden Wände auf beiden Wegseiten so himmelhoch gewachsen. Nur immer eine kurze Strecke der vielfach gewundenen Pfadlinie vor sich, war das winzige Menschenkind gleichsam eingeschachtelt im Kornfelde, und der Käfer, der seine blauglänzenden Flügel ausspannte und leise surrend aufflog, die buntlockige Winde, die sich an den Halmen emporhalf, um droben Umschau zu halten, sie hatten es besser … Und zu Häupten des Kindes wisperte es; ein seidiges Rieseln, wie wenn schleifendes Gewand ganz leise daherkäme, machte es bänglich in die Höhe blicken; aber »Bange machen gilt nicht, und es geht alles in der Welt mit natürlichen Dingen zu!« sagte Tante Sophie immer, und drum konnte es auch kein mit leisen Sohlen auf der wogenden Halmfläche einherwandelndes Wesen sein – es war nur der Abendwind, der drüber hinging und die nickenden Aehren aneinander rieb.

Und nun hörte ja auch die enge Gasse endlich auf; der Weg ging über Kartoffel- und Rübenacker, dann über zertretenen Graswuchs die Anhöhe hinauf, die ein Laubwäldchen, das sogenannte Dambacher Hölzchen, krönte; dahinter lag das Dorf. Wohl war es noch hell genug, daß das Kind die großen Erdbeerbüsche mit ihren weißen Blütensternen und glühroten Früchten zwischen den Stämmen am Waldessaum sehen konnte; aber diesmal gab es weder Zeit noch Lust zum Pflücken und Naschen; in atemlosem Lauf war es bergauf gegangen – das kleine Herz hämmerte in der Brust, und der Kopf glühte und war so seltsam schwer, als sei Blei in Stirn und Schläfen … Nun, in Großpapas Stube war es kühl; da stand das große Sofa mit den weichen Federkissen, auf welchem er stets sein Nachmittagsschläfchen hielt, und da ruhte auch das Kind immer, wenn es sich müde gelaufen hatte. Nur noch das Stückchen Weg hinter dem Dorfe weg – dann war ja alles gut!

Der weite Fabrikhof lag schweigend und menschenleer da, die Arbeiter hatten längst Feierabend gemacht; und durch den anstoßenden Garten mit seinen schönen Anlagen und dem schmucken, klaren Teich, in welchem sich der Pavillon spiegelte, ging auch kein anderes Leben, als das leise Rauschen der mächtigen Baumwipfel, unter denen es bereits stark dämmerte. Nicht einmal Friedel, Großpapas Hühnerhund, bellte und kam auf das Kind zugesprungen – die Schwelle, auf welcher er immer faulenzte, war leer, die Thüre war auch zu, ja, sie erwies sich sogar als fest verschlossen, und auf ein mehrmaliges Klingeln rührte und regte sich nichts drinnen.

In ratlosem Schrecken stand die Kleine vor dem stillen Hause – der Großpapa war gar nicht da! Das wäre ihr doch nie und nimmer eingefallen – es war ja so selbstverständlich gewesen, daß er zu Hause sein mußte, wenn sie kam … Sie umging das Haus von allen Seiten; hätte eines der Fenster in der niederen Erdgeschoßwohnung offen gestanden, sie wäre, was sie schon oft im Uebermut gethan, hinaufgeklettert und über die Brüstung ins Innere gesprungen, allein vor allen Scheiben lagen die Rollläden – da war nichts zu machen.

Das Weinen war ihr nahe, aber noch verschluckte sie tapfer die Thränen. Der Großpapa war wohl nur zum Faktor gegangen, und der wohnte ja gleich da drüben in der Fabrik. Aber im Hofe sagte ihr eine junge Stallmagd, Faktors seien mit der zurückkehrenden »Herrschaftskutsche« nach der Stadt zu einem Polterabend gefahren; den Herrn Amtsrat aber habe sie schon vor einigen Stunden fortreiten sehen; es sei heute Kegelkränzchen beim Oberamtmann in Hermsleben – das war ein ziemlich entfernt gelegenes Gut.

Lieber Gott, im Himmel – was sollte nun solch ein armes, weithergelaufenes Kind anfangen! – In der ersten Verzweiflung lief die Kleine wieder vor das Hofthor, während die Magd in den Stall zurückkehrte. Aber schon nach wenigen Schritten wurde Halt gemacht – nach Hermsleben konnte man doch unmöglich laufen, das war ja viel, viel zu weit! Nein, das ging absolut nicht; da war es besser, auf den Großpapa zu warten – er kam vielleicht bald wieder!

Damit lief das kleine Mädchen nach dem Pavillon zurück und setzte sich geduldig auf die Schwelle der Hausthüre. Das that den müdgelaufenen Beinchen gut, und auch die tiefe Ruhe und Stille ringsum war eine Wohlthat nach dem aufregenden Marsch. Wenn nur das dumme Hämmern in Stirn und Schläfen nicht gewesen wäre; aber jetzt, wo sie sich in die Thürecke schmiegte, machte es sich doppelt fühlbar … Und nun gingen auch noch allerhand beängstigende Vorstellungen durch den schmerzenden Kopf. Zu Hause war die Zeit des Abendessens längst vorüber, und sie hatte bei Tische gefehlt. Man suchte ganz gewiß überall nach ihr, und bei dem Gedanken, daß sich Tante Sophie um sie ängstigen könne, that ihr das kleine Herz bitter weh. Aber wenn es nur um Gotteswillen niemand einfiel, sie hier in Dambach zu suchen, ehe der Großpapa zurück war! Ganz entsetzt fuhr sie empor, und ihre Augen forschten nach einem Versteck, in welchem sie sich nötigenfalls verkriechen konnte. Denn nun, wo sie heimlich davongelaufen war, blieb gar kein Zweifel, daß man sie gleich morgen fortbrachte – dafür sorgte schon die Großmama, diese unerbittliche Großmama, die so ungerecht sein konnte. Wenn Holdchen täppischer Weise hinfiel, dann wurde »das wilde Mädchen« ausgezankt, weinte er aus Eigensinn, so hatte ihn gewiß »das ungezogene Ding, die Grete« gereizt – daß doch solch eine Großmutter niemals wußte, wie lieb man sein Brüderchen hatte, und alles, ja den Bissen vom Munde, ach wie gern, hingab, nur damit es lachen und fröhlich sein sollte! … Ach ja, die in der oberen Etage, sie waren alle nicht gut gegen die Grete! Und fast noch schlimmer als die Großmama war dieser Mosje Herbert, den sie durchaus Onkel nennen sollte – ein schöner Onkel, der keinen Bart hatte, und noch gerade so, wie sie auch, über den Schulaufgaben schwitzen mußte! Ihr fehle die Rute, hatte er heute nachmittag gesagt, und die Finger, die er ihr vor Aerger beinahe zerdrückt hatte, thaten noch weh … Wie der sich freuen würde, wenn sie die Grete morgen wirklich in den Wagen zerrten und ohne Gnade in »den Vogelbauer« schleppten! Aber das geschah ja nicht – Gott behüte! Sie wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, sie wollte schreien, daß die Leute auf dem Markte zusammenliefen! … Ach, wenn doch nur endlich der Großpapa käme!

Aber es blieb totenstill im Garten; auch drüben auf der Chaussee hatte das vereinzelte Rollen und Aechzen der Wagenräder aufgehört. Das Schweigen der Nacht begann, wenn sie auch selbst noch zögerte, zu kommen. Es war ja ein goldener Tag heute gewesen, und wie noch der heiße Sonnenatem schwer über der Erde brütete, so schien sich auch ein Rest der funkelnden Tagesglorie in den Lüften festzuhalten und nicht erlöschen zu wollen.

Die Schlaguhr auf dem Türmchen des Fabrikgebäudes schnurrte Viertelstunde auf Viertelstunde ab. Die neunte Stunde war schon vorüber, und nun war wohl das Schlimmste überstanden. In der Stadt ging der Großpapa stets um zehn Uhr zu Bette – er hielt es sehr streng mit der Pünktlichkeit und kam gewiß bald nach Dambach zurück … Ach ja, und wenn sie ihn dann von Hermsleben heran galoppieren hörte, da wollte sie ihm entgegenlaufen und neben dem Pferde hertraben; dann sah er doch wenigstens auf »seine wilde Hummel« herunter, und da konnte ihr niemand etwas anhaben – niemand!

Und es jagte in der That plötzlich ein Reiter daher – aber die Kleine lief nicht nach dem Thore; sie horchte einen Augenblick mit starrem Entsetzen auf das Getrappel der flüchtigen Pferdehufe, dann sprang sie mit einem wilden Satze aus der Thürecke, rannte um den Teich und kroch in das fast undurchdringliche Gebüsch, welches sich zwischen die entgegengesetzte Seite des Teiches und das den Garten vom Fabrikhofe trennende Eisengitter drängte. Der Reiter kam von der Stadt her – es war der Papa, der sie suchte.

Sie wühlte sich tief in den dornigen Busch; das weiße Kleid mit den Heidelbeerflecken erhielt nun auch der Risse genug, und die Füße versanken im Morast; trotzdem kauerte sie auf dem nassen Boden nieder und schmiegte sich so enge zusammen, als wolle sie ihren schmalen Körper auf ein Nichts reduzieren. Mit zurückgehaltenem Atem, und die aneinanderschlagenden Zähne fest zusammenbeißend, hörte sie zu, wie der Papa im Hofe mit der aus einem Fenster herabsehenden Magd sprach. Das Mädchen sagte ihm, daß das Kind vor ihren Augen umgekehrt und nach der Stadt zurück sei, sie habe es aus dem Thore fortlaufen sehen.

Trotz dieser Versicherung ritt Herr Lamprecht in den Garten herein. Margarete hörte seitwärts hinter dem Gebüsch das wilde Schnauben Luzifers – der Papa mußte einen scharfen Ritt gemacht haben – dann kam der Reiter in ihren Gesichtskreis. Er umritt den Pavillon und konnte vom Pferde aus den nicht großen Garten mit seinen Rasenplätzen und Gruppen von Ahorn- und Akazienbäumen recht wohl übersehen. – »Grete!« rief er in alle dunkelnden Ecken hinein. Jedes andere Ohr hätte aus diesem Schrei nichts als die namenlose Vaterangst zu hören vermocht; für die Kleine aber, die regungslos im Gebüsch hockte und mit fast wildem Blick jede Bewegung des Reiters verfolgte, war der Mann dort auf dem Pferde in diesem Moment derselbe, der heute nachmittag, im dunklen Gange über sie gebeugt, nicht gewußt hatte, ob er sie erwürgen oder zertreten solle. Und jetzt, wo er, ihr ganz nahe, am Teichufer hielt und die Augen hinschweifen ließ über das seichte Gewässer, welches so blank und kristallklar dalag, daß man selbst in der Dämmerung den weißen Sand auf dem Grunde schimmern sah, jetzt, wo ihm diese Augen unter den starken, schwarzen Brauen glühten, wie immer, wenn er »furchtbar böse« war, überkam das kleine Mädchen ein unbeschreibliches, ein förmlich lähmendes Furchtgefühl – ohne Atem, wie versteinert kauerte es im Gestrüpp, es hatte sich eher mit dem Fuß in das Wasser stoßen lassen, als daß ihm auch nur ein antwortender Laut entschlüpft wäre.

Herr Lamprecht wandte sein Pferd und ritt wieder hinaus. Es mochte wohl der Knecht des Faktors sein, der eben mit schlürfenden Schritten über den Hof herkam und dem Reiter die Gitterthüre öffnete. Herr Lamprecht sprach mit ihm und seine Stimme klang so heiser und matt, als verlechze ihm die Kehle. Er fragte nach dem Ausbleiben seines Schwiegervaters, und der Mann sagte ihm, daß der alte Herr aus dem Kegelkränzchen selten vor zwei Uhr nachts zurückkäme. Was noch weiter gesprochen wurde, war nicht zu verstehen. Herr Lamprecht ritt über den Hof zum Thore hinaus, und der Mann schien ihn zu begleiten; aber nicht über die Chaussee, durch die Felder wurde der Rückweg nach der Stadt eingeschlagen.

Die kleine Entlaufene war wieder allein. Nun die seelische Erstarrung von ihr wich, wurde sie sich des schmerzhaften Druckes bewußt, den die zusammenstrebenden Zweige auf ihren eingezwängten Körper ausübten. Die Bodennässe drang empfindlich durch die dünnen Zeugstiefelchen, und der Busch wimmelte von Mücken, die ihr das Gesicht und die entblößten Arme blutdürstig umsummten. Mühsam richtete sie sich auf und hob die tief eingesunkenen Füße aus dem Morast, der ihr schwer an den Sohlen kleben blieb. Jetzt brach sie in ein leises, trostloses Jammern aus – der böse Busch wollte sie nicht wieder fortlassen! Sie sollte dableiben in dem entsetzlichen Moderdunst, den sie durch ihr Eindringen aufgerührt; gefangen wie ein armer, kleiner Spatz in dem harten, zähen Geschlinge der Zweige, sollte sie warten, bis der Großpapa käme! Ach, und er kam ja nicht vor zwei Uhr nachts! Fünf lange Stunden sollte sie sich wehren gegen die Mückenwolke, die ihr immer näher auf den Leib rückte, so oft sie auch danach schlug! Und Frösche und Kröten gab's hier auch genug – Reinhold wollte sogar einmal gesehen haben, daß eine lange, bunte Schlange aus dem Busch gekrochen sei – sie schüttelte sich vor Grauen und fühlte es förmlich lebendig werden um und unter ihren Füßen – alle Kraft zusammennehmend, arbeitete sie sich wie toll durch die unheimliche Wildnis, bis die letzten starkstämmigen Ausläufer rauschend und knackend hinter ihr zusammenschlugen.

Es war eine jämmerlich zugerichtete kleine Gestalt, die nach dem Pavillon zurück mehr taumelte als ging. Den Hut hatten ihr schon beim Eindringen die oberen Aeste weggerissen – mochte er hängen bleiben! Auch das total zerfetzte Kleid wurde nicht beachtet; nur die in eine Schlammkruste gehüllten Füße, die bei jedem Schritt über die, breite, weiße Sandsteinstufe vor der Hausthüre pechschwarze Abdrücke hinterließen, waren ein erschreckender Anblick. Am Himmel trat ein funkelnder Stern nach dem anderen hervor – die in die Thürecke gedrückte Kleine bemerkte es nicht. Wenn sie die schweren Lider hob, dann sah sie nur, daß das Dunkel drunten den letzten schwachen Schimmer des Teichspiegels verschlang – die Rasenplätze lagen schwarz unter den Bäumen, allerhand vorbeischwirrendes Nachtgesindel machte sich bemerklich, Käuzchen schrieen, und vom Dachboden des Pavillons kamen die räuberischen Fledermäuse. Wie im Traume hörte sie vereinzeltes Hundegebell vom Dorfe her, und die Turmuhr hatte wieder zwei Viertelstunden angezeigt … Noch viele, viele solcher Viertelstunden mußten von dort oben herunterrasseln, bis es zwei Uhr war – ach, wie schrecklich! – Die Nässe an den Füßen jagte ihr ein Frösteln nach dem anderen über den Leib und die an die harte Thürbekleidung gelehnte Stirn glühte und schmerzte heftig … Ach, nur einmal, nur für ein paar Minuten den schweren Kopf in ein weiches Kissen drücken und einen Schluck Wasser aus dem kühlen Hofbrunnen zu Hause trinken dürfen – das mußte wohlthun! Tante Sophie goß immer ein wenig Himbeersaft in das Glas, wenn man über Kopfweh klagte, und für solche Mückenstiche, wie sie jetzt auf den Armen und Wangen brannten, hatte sie eine lindernde Salbe – ach ja, es war gut sein bei Tante Sophie! Ein unbezähmbares Sehnsuchtsgefühl nach der treuen Pflegerin wallte plötzlich in der Kleinen auf.

Sie schloß die Augen wieder und träumte sich in die Schlafstube daheim. Die Fenster gingen auf den stillen Hof, und das Brunnenplätschern klang leise und ununterbrochen herein – es war von jeher das einlullende Wiegenlied der beiden Kinder gewesen. Sie lag im weißen, weichen Bett, und Tante Sophie kühlte ihr das brennende Gesicht und die zerstochenen Arme, bis sie einschlief … Ja, schlafen, heimgehen und schlafen – das war's! Das war's, was sie mit einem Ruck emportrieb und durch den Garten und über den Hof hinaus auf den Feldweg taumeln machte! Sie hörte nicht mehr, daß die Uhr schlug, als sie das Hofthor verließ – das ängstliche Zählen der Viertelstunden war vorüber; sie dachte auch nicht an die Wegstrecke, die vor ihr lag, sie sah nur das Ziel, die weite, kühle Schlafstube, in der sie den glühenden Körper mit seinen pochenden Pulsen ausstrecken durfte, sie hörte Tante Sophiens gute Stimme und sah die Hände, die sie auf den Schoß heben, und ihre schwere, nasse Last von den Füßen streifen würden – was dann kam, anderen Tages, daran dachte sie auch nicht mehr … Und die steifen Beinchen wurden gelenker mit der Bewegung. In immer wilderem Lauf ging es hinter dem schweigenden Dorfe weg. Dann trat das Wäldchen hervor – eine dunkle Masse, die nicht ahnen ließ, daß sie aus Millionen säuselnder Blätter und Blättchen zusammengewoben sei. Vorbei ging es auch hier in achtloser Hast, und nur einmal prallte die kleine Laufende seitwärts – weißes Gewand schwebte durch das Dickicht. Ach, es waren ja die Birken mit ihren hellen Stämmen, sie standen nur nicht fest, sie waren so sonderbar wackelig, und der kleine Stern, der gleich darauf drüben über dem Thale auftauchte – das Licht in der hochgelegenen Türmerstube des Wachtturmes, welcher die Stadt beherrschte – er schwankte auch, als ob der alte Bursche, der vierschrötige Turm, zu tanzen anfange. Doch diese befremdende Erscheinung ging schnell wieder unter in dem einen vorwärts hetzenden Trieb: Weiter! Heim zu Tante Sophie!

Und im wispernden Kornfeld hörte sie Reinhold weinen, weil ihm »die wilde Grete« seinen Turm umgeworfen habe, und Bärbe murmelte in einem fort von der Frau mit den Karfunkelsteinen im Haar und von dem wackelnden Vorhang in der verschlossenen Stube, und die roten Klatschrosen, die das Kind heute wie Fackeln im Korn glühen gesehen, sie machten die enge dunkle Gasse heiß zum Ersticken; aber mit dem Niederlegen auf die kühle Erde war es doch nichts – weit drüben rief Tante Sophie immer wieder: »Vorwärts, Gretel! Mach, daß du heim kommst!«

So lief sie gehorsam weiter, zuletzt freilich mit einknickenden Knieen und keuchender Brust, bis die Stadt erreicht war. In manchem Haus der letzten Gasse, durch die sie erschöpft schlich, brannte noch Licht, aber die Thüren waren geschlossen, und die matten Tritte des Kindes polterten förmlich auf dem hohlen Kanalbrückchen, eine so tiefe Nachtstille webte bereits in Gassen und Straßen. Und nun wölbte sich endlich der Thorbogen des Packhauses über dem kleinen Mädchen; nur war es schlimm, daß das schwere, altväterische Thürschloß im Thorflügel gar so hoch saß, eine Kinderhand konnte es nicht erreichen. Nach einer vergeblichen Anstrengung sank die Kleine auf dem niederen Prellsteine in sich zusammen. Sie meinte, die ganze Welt drehe sich mit ihr im Kreise, und vor dem Hämmern und Pochen ihrer Pulse könne sie nichts mehr hören; aber das Murmeln des vorbeischießenden Kanalwassers drang doch an ihr Ohr, und die Kühle, die es ausströmte, wirkte belebend auf ihr hindämmerndes Bewußtsein. Und jetzt kam auch jemand die Straße daher; es waren kräftige Schritte, die sich dem Packhause näherten, und nach wenigen Minuten trat ein Mann unter den Thorbogen. So weit durchlichtete der sternfunkelnde Himmel die Nacht doch, daß man die Umrisse einer Gestalt zu erkennen vermochte – der Mann war Herr Lenz, der im Packhause wohnte, und welchen die kleine Margarete gar gern hatte. Er warf ihr oft, wenn sie im Hofe spielte, im Vorübergehen ein heiteres Scherzwort hin, und für ihren freundlichen Gruß strich er mit liebkosender Hand über ihr Haar.

»Lassen Sie mich auch mit hinein!« murmelte sie heiser, als er mit dem Hausschlüssel das Thor geöffnet hatte und im Begriff war, einzutreten.

Er fuhr herum. »Wer ist denn da?« »Die Grete.«

»Was – das Kind aus dem Hause? – Um Gotteswillen, Kleine, wie kommst du denn hierher?«

Sie antwortete nicht und griff nur mit tastender Hand nach seiner Rechten, die er ausstreckte, um ihr aufzuhelfen; aber das ging absolut nicht, und so nahm er sie ohne weiteres auf den Arm und trug sie in die tiefe Thorwölbung hinein.


 << zurück weiter >>