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Seitdem waren zwei Tage verstrichen. Der Landrat war noch nicht zurückgekehrt, und deshalb herrschte tiefe Ruhe auf der sonst so frequentierten Treppe und im oberen Stock. Margarete ging jeden Morgen pflichtschuldigst hinauf, um der Großmama guten Tag zu sagen. Das war stets ein saurer Gang; denn die alte Dame grollte und zürnte noch heftig. Sie schalt zwar nicht laut – Gott behüte, nur keine offenkundige Leidenschaftlichkeit! Der gute Ton hat ja dafür feinere und desto sicherer treffende Waffen: Messerschärfe in Blick und Stimme, und Dolch- und Nadelspitzen auf der Zunge. Aber diese Art und Weise des Angriffs empörte die Enkelin doppelt, und sie brauchte oft ihre ganze Selbstbeherrschung, um gelassen und schweigend zu ertragen … Meist ungnädig entlassen, ging sie dann immer mit dem Gefühl der Erlösung die Treppe wieder hinab, um für einen Moment in den Flursaal einzutreten. Es herrschte zwar eine mörderische Kälte in dem weiten Saal, und Papas Privatzimmer waren versiegelt; nicht einer der traulichen Räume, in denen er gelebt und geatmet, nicht der kleinste Gegenstand, den seine Hand berührt, waren ihr zugänglich; sie mußte sich mit der Stelle begnügen, wo sie ihn zum letztenmal friedlich schlafend, einen Schein der Verklärung auf der im Leben so finsteren Stirn, gesehen hatte. Aber an dieser Stelle überkam sie doch immer das wehmütig wohlthuende Gefühl, als spüre sie einen Hauch seiner Nähe. Drunten geschah ja alles, um die Spuren seines Daseins und Wirkens möglichst schnell zu verwischen …
Heute morgen nun hatte Margarete beim Verlassen des Flursaales eine Begegnung gehabt. Sie war rasch auf die Schwelle der Thüre getreten und hatte plötzlich Auge in Auge vor der eben vorübergehenden schönen Heloise gestanden. Der jungen Dame um einige Schritte voraus war die Baronin Taubeneck die Treppenwendung hinaufgekeucht; sie hatte, von der Anstrengung des Emporsteigens ganz benommen, die aus dem Flursaal Tretende gar nicht gesehen; ihre Tochter dagegen hatte sehr freundlich gegrüßt, ja, ihr Blick war sogar mit dem unverkennbaren Ausdruck von Teilnahme über die Mädchengestalt in tiefer Trauer hingeglitten, das konnte Margarete sich selbst nicht wegleugnen; und doch war sie in Versuchung gewesen, den höflichen Gruß zu ignorieren und ohne ihn zu erwidern, in den Flursaal zurückzuflüchten … Diese schöne gerühmte Heloise war ihr nun einmal in tiefster Seele unsympathisch – weshalb? Sie wußte es selbst kaum … So in nächster Nähe gesehen war die herzogliche Nichte in der That am schönsten. Die herrliche Sammethaut des jungen Gesichts, die Pracht der Farben und die großen, glänzend blauen Augen blendeten förmlich, und der Großpapa hatte recht, wenn er sagte, davor müsse sich seine Enkelin, das braune Maikäferchen, verkriechen. Selbst die phlegmatische Ruhe ihres Wesens machte sich im Gehen nur als stolze Würde und Vornehmheit geltend. »Was, Neid, Grete?« hatte sich das junge Mädchen selbst in diesem Augenblicke des aufsteigenden Grolles und Widerwillens gefragt. Nein, Neid war es nicht! Ihr war es ja stets ein Genuß gewesen, in ein schönes Mädchenantlitz zu sehen – Neid war es ganz bestimmt nicht! Wohl aber mochte es die angeborene Verbitterung des plebejischen Blutes gegen die Widersacher des Bürgertums sein – ja, das war der Grund! Und als die Großmama droben unter einem Wortschwall der Freude und Beglückung dem Besuch entgegengekommen war, da hatte das junge Mädchen die Hände auf die Ohren gelegt und war die Treppe hinabgeflohen.
Drunten aber hatte der herrschaftliche Schlitten, eine herrliche Muschel mit kostbarer Pelzdecke, vor der Thüre gehalten, und nachdem später die Damen wieder eingestiegen waren, da hatte die schöne Heloise mit ihrem weißen Schleier und wehenden Goldhaar ausgesehen, als stiege eine Fee über den Schnee hin. O weh, wie lächerlich dagegen mochte neulich das zusammengeduckte »Rumpelstilzchen« im Schlitten gehockt haben, wie frostgeschüttelt und hilfsbedürftig neben Herberts vornehmer Erscheinung! –
Den ganzen Tag über hatte sie bittere, aufdringliche Gedanken und Empfindungen nicht los werden können; und dazu war es dunkel in allen Stuben. Der Himmel schüttelte unermüdlich ein dichtes Flockengestöber über die kleine Stadt her, und nur selten fuhr ein Windstoß lichtend durch die stürzenden Schneemassen, die wie ein silberstoffener Behang alle Aussicht in Gassen und Straßen verschloß … Erst am Abend, als die Lampe auf dem Tische brannte, wurde es heimlicher in der Wohnstube und stiller in Margaretens Seele. Tante Sophie war trotz des Schneewetters ausgegangen, um einige unaufschiebbare Bestellungen zu machen, und Reinhold arbeitete in seiner Schreibstube; er kam überhaupt nur noch herüber, wenn er zu Tisch gerufen wurde.
Margarete ordnete den Abendtisch. Im Ofen brannten die Holzscheite lichterloh und warfen durch die Oeffnung der Messingthüre einen breiten, behaglichen Schein über die Dielen, und von dem Gesims der unverhüllten Fenster her, gegen die draußen die Schneeflocken wie hilflos flatternde Seelchen taumelten, um an den erwärmten Scheiben rettungslos zu sterben, dufteten doppelt süß Tante Sophiens Pfleglinge, ganze Scharen von Veilchen und Maiblumen … Nein, gerade dem häßlichen Tage zum Trotze sollte nun der Abend gemütlich werden! Bärbe brachte sauber garnierte kalte Schüsseln herein, und Margarete entzündete den Spiritus unter der Theemaschine; und als Reinhold sagen ließ, man möge ihm ein belegtes Butterbrot hinüberschicken, er werde nicht kommen, da wurde das Herz der Schwester erst recht leicht.
Draußen fuhren mehrere Wagen vorüber, und es war auch, als halte einer derselben vor dem Hause. War der Landrat zurückgekommen? – Nun, das erfuhr man ja morgen, früher freilich nicht! – Margarete fuhr fort, Schinkenscheibchen auf Reinholds Brot zu legen; sie sah auch nicht auf, als ein leises Thürgeräusch an ihr Ohr schlug. – Bärbe brachte jedenfalls noch etwas für den Tisch herein; aber ein so kalter Luftzug, wie er eben über ihre Wange strich, kam doch nicht von der warmen Küche her; unwillkürlich blickte sie auf, und da sah sie den Landrat an der Thüre stehen. Sie schrak heftig zusammen, und die Gabel mit dem Schinken entfiel ihrer Hand.
Er lachte leise auf und trat näher an den Tisch. Er war noch im Reisepelz, und auf seiner Mütze glitzerten Schneeflocken, also direkt von draußen kam er herein.
»Aber solch ein Schrecken, Margarete!« sagte er kopfschüttelnd. »Warst wohl, trotz deiner hausmütterlichen Beschäftigung, im sonnigen Griechenland, und der Hans Ruprecht im Pelz riß dich in die rauhe Thüringer Wirklichkeit zurück? … Nun, guten Abend auch!« setzte er in treuherzig Thüringer Weise hinzu und bot ihr die Hand – war ihr doch, als müsse es Freude sein, die sie aus seinen Augen unter der Pelzmütze hervor anleuchtete.
»Nein, in Griechenland war ich nicht,« antwortete sie, und die augenblickliche innere Erregung bebte noch in ihrer Stimme nach. »Trotz Schnee und Eis bin ich um die Weihnachtszeit doch lieber hier. Aber es ist für mich etwas Unerhörtes, dich in unsere Wohnstube eintreten zu sehen. Du wirst selbst wissen, daß diese Stube stets abseits von deinem Wege gelegen hat. Früher mag dich der Kinderlärm verscheucht haben, und später« – der schmerzhafte Zug, der seit dem Tode ihres Vaters ihre Lippen umlagerte, wich momentan einem schelmischen Lächeln – »später das ausgesprochene Spießbürgertum in der Einrichtung und dem Leben und Weben hier unten.«
Er zog ein kleines Paket aus der Rocktasche und legte es auf den Tisch. »Das ist's, weshalb ich hier eingetreten bin, das einzig und allein!« sagte er ebenfalls lächelnd. »Weshalb soll ich ein ganzes Pfund Thee, das ich für Tante Sophie in der Residenz besorgt habe, zwei Treppen hinaufschleppen?« Nun nahm er die Pelzmütze ab und schleuderte die letzten funkelnden Schneereste fort. »Uebrigens irrst du in deiner Annahme – ich finde es urgemütlich hier, und dein Theetisch sieht nichts weniger als spießbürgerlich aus,«
»Darf ich dir eine Tasse Thee anbieten? Er ist eben fertig-«
»Ei wohl! Er wird mir gut thun nach der kalten Fahrt. Aber dann mußt du mir auch erlauben, daß ich meinen Pelz ablege.«
Er mühte sich, die schwere Last abzustreifen. Unwillkürlich hob Margarete den Arm, um zu helfen, wie sie es bei Onkel Theobald zu thun gewohnt war; aber er fuhr zurück und ein Zornesblitz sprühte aus seinen Augen. »Lasse das!« wies er sie fast rauh zurück. »Die töchterliche Hilfe mag bei Onkel Theobald nötig sein – bei mir noch nicht!«
Unmutig, mit einem letzten kräftigen Ruck riß er den Pelz von der Schulter und warf ihn auf den nächsten Stuhl.
»So, nun bin ich allerdings hilfsbedürftig – ich lechze nach deinem heißen Thee!« sagte er gleich darauf und ließ seine elegante Gestalt in die Sofaecke gleiten. Seine Stirn war wieder heiter, und er strich sich behaglich den Bart. »Aber ich bin auch hungrig, liebes Hausmütterchen, und solch ein appetitliches Butterbrot, wie du es eben vor meinen Augen zurechtgemacht hast, sollte mir schon schmecken und jedenfalls besser munden, als die Butterbrote droben, die meine Mutter konsequent durch die Köchin herrichten läßt … Später, am eigenen Herd, werde ich mir das allerschönstens verbitten – die Hausfrau muß mir eigenhändig dergleichen Bissen mundgerecht machen, wenn sie nicht will, daß ich hungrig vom Tische aufstehe.«
Margarete reichte ihm den Thee; aber sie schwieg und sah ihn nicht an. Sie mußte denken, ob die stolze Heloise wirklich die Etikette so beiseite setzen und mit ihren wundervollen weißen Händen die Butterbrötchen für den Herrn Gemahl streichen würde? – Und Herbert selbst? Dachte er im Ernst so spießbürgerlich häuslich, Großmamas Sohn, der Mann der Formen, mit denen er der Welt imponierte?
»Du bist sehr still, Margarete,« unterbrach er das eingetretene kurze Schweigen; »aber ich sah ein spöttisches Zucken deiner Mundwinkel, und das spricht deutlicher als Worte. Du mokierst dich innerlich über die Häuslichkeit, wie ich sie haben will, und meinst, mein Wille könne an so manchem scheitern. Ja, siehst du, ich lese in deinen Zügen wie in einem Buche – du brauchst deshalb nicht gleich so rot zu werden wie ein Pfingströschen – ich weiß mehr von deinen Seelenvorgängen, als du denkst.«
Jetzt sah sie verletzt und unwillig auf. »Schickst du deine Gendarmen wirklich auch auf die Hetzjagd nach Gedanken, Onkel?«
»Ja, meine liebe Nichte, das thue ich mit deiner gütigen Erlaubnis, und das mußt du dir schon gefallen lassen,« antwortete er leise lachend. »Mich interessieren alle oppositionellen Gedanken und mehr noch solche, denen der Kopf selbst nur widerwillig Raum gibt, gegen die er ankämpft, wie das junge Roß gegen seinen oktroyierten Herrn, und die schließlich glänzend siegen, weil ein mächtiger Impuls hinter ihnen steht.«
Er führte seine Tasse zum Munde und sah dabei aufmerksam zu, wie die zierlichen Mädchenfinger flink das gewünschte Butterbrot zurechtmachten.
»Ein Einblick in die Wohnstube hier muß in diesem Augenblick außerordentlich behaglich und anmutend sein,« hob er mit einem Blick auf die unverhüllten Fenster nach einem momentanen Schweigen wieder an. »Da drüben« – er neigte den Kopf nach der jenseitigen Häuserfront des Marktes – »könnte man uns füglich für ein junges Ehepaar halten.«
Margarete wurde flammendrot. »O nein, Onkel, die ganze Stadt weiß –«
»Daß wir Onkel und Nichte sind – ganz richtig, meine liebe Nichte,« fiel er sarkastisch gelassen ein und griff abermals nach seiner Tasse.
Margarete widersprach nicht; aber eigentlich hatte sie sagen wollen: »Die ganze Stadt weiß, daß du verlobt bist …« Nun, mochte er denken, was er wollte! Er neckte sie in fast übermütiger Weise, und Humor, den sie bis jetzt nicht an ihm gekannt, prickelte in jedem seiner Worte. Er war offenbar froh gelaunt und brachte jedenfalls stillbeglückende Aussichten aus der Residenz mit. Aber sie selbst war nicht in der Stimmung, sich mit ihm zu freuen, sie war unsäglich deprimiert und wußte nicht weshalb, und wie man oft im inneren Zwiespalt unbewußt gerade nach Widerwärtigem greift, nur um eine Wendung herbeizuführen, so sagte sie, indem sie ihm das fertige Brötchen hinreichte: »Heute morgen hatte die Großmama Besuch – die Damen vom Prinzenhofe waren da.«
Er richtete sich lebhaft auf, und eine unverkennbare Spannung malte sich in seinen Zügen. »Hast du sie gesprochen?«
»Nein,« erwiderte sie kalt. »Ich hatte nur eine flüchtige Begegnung mit der jungen Dame im Treppenhause. Du weißt am besten, daß sie mich einer Anrede nicht würdigen kann, weil ich im Prinzenhofe noch nicht vorgestellt bin.«
»Ach ja, ich vergaß! – Nun, du wirst das ja wohl nunmehr in den allernächsten Tagen abmachen.«
Sie schwieg.
»Ich hoffe, du thust das schon um meinetwillen, Margarete.«
Jetzt sah sie ihn an; es war ein finsterer Grollblick, der ihn traf. »Wenn ich das Opfer bringe, mich in tiefer Trauer und in meiner jetzigen Seelenstimmung zu der Komödie hinausschleppen zu lassen, so geschieht es einzig und allein, um dem Drängen und den Quälereien der Großmama ein Ende zu machen,« versetzte sie herb. Sie hatte sich auf den nächsten Stuhl gesetzt und kreuzte die Hände auf dem Tische.
Ein kaum bemerkbares Lächeln schlüpfte um seinen Mund. »Du fällst aus deiner Rolle als Hausmütterchen,« rügte er gelassen und zeigte auf ihre feiernden Hände. »Die Gastlichkeit verlangt, daß du mir Gesellschaft leistest und auch eine Tasse Thee nimmst –«
»Ich muß auf Tante Sophie warten.«
»Nun, wie du willst! Der Thee ist vortrefflich und soll mir trotz alledem schmecken. Aber ich möchte dich doch einmal fragen, was hat dir denn die junge Dame im Prinzenhof gethan, daß du stets so – so bitter wirst, wenn von ihr die Rede ist?«
Eine glühende Röte schoß ihr in die Wangen. »Sie – mir?« rief sie wie erschrocken, wie ertappt auf einem bösen Gedanken. »Nicht das mindeste hat sie mir angethan! Wie könnte sie auch, da ich bis jetzt kaum in ihre stolze Nähe gekommen bin?« Sie zuckte die Schultern. »Ich fühle aber instinktmäßig, daß das der Kaufmannstochter noch bevorsteht –«
»Du irrst. Sie ist gutmütig –«
»Vielleicht aus Phlegma – möglich, daß sie sich ungern echauffiert. Ihr schönes Gesicht –«
»Ja, schön ist sie, von einer unvergleichlichen Schönheit sogar,« fiel er ein. »Und ich möchte gern wissen, ob heute morgen nicht etwas wie ein heimliches Glück in ihren Zügen zu lesen gewesen ist – sie hat gestern Hocherfreuliches erfahren.«
Ach, also darum war er heute abend so übermütig, so voll übersprudelnder Laune; das »Hocherfreuliche« betraf ihn und sie zusammen. »Das fragst du mich?« rief sie mit einem bitteren Lächeln. »Du solltest doch am besten wissen, daß die Damen vom Hofe viel zu gut geschult sind, um ihre Gemütsaffekte jedem profanen Blick auszusetzen. Von ›heimlichem Glück‹ konnte ich nichts bemerken; ich bewunderte nur ihr klassisches Profil, die blühenden Farben, die prächtigen Zähne bei ihrem gnädigen Lächeln und erstickte fast in dem Veilchenparfüm, mit welchem sie das Treppenhaus erfüllte, und das, dieses Uebermaß war nicht vornehm an der Aristokratin –«
»Sieh, da war ja gleich wieder der bittere Nachgeschmack!«
»Ich kann sie nicht leiden!« fuhr es ihr plötzlich heraus.
Er lachte und strich sich amüsiert den Bart. »Nun, das war gutes, ehrliches Deutsch!« sagte er. »Weißt du, daß ich in der letzten Zeit manchmal des kleinen Mädchens gedacht habe, das ehemals mit seiner geradezu verblüffenden derben Offenheit und Wahrheitsliebe die Großmama nahezu in Verzweiflung gebracht hat? … Das Weltleben draußen hatte nun diese Geradheit in allerliebste, kleine, graziöse Bosheiten verwandelt, und ich meinte schon, auch der Kern der Individualität sei umgewandelt. Aber da ist er, blank und unberührt! Ich freue mich des Wiedersehens und muß wieder an die Zeiten denken, wo der Primaner öffentlich im Hofe als Spitzbube gebrandmarkt wurde, weil er eine Blume annektiert hatte.«
Schon bei seinen ersten Worten war sie aufgestanden und nach dem Ofen gegangen. Sie schob unnötigerweise ein Stückchen Holz um das andere in die helllodernden Flammen, die ihre finster zusammengezogene Stirn, ihre sichtlich erregten Züge anglühten … Sie ärgerte sich unbeschreiblich über sich selbst. Das, was sie gesagt hatte, war allerdings die strikte Wahrheit gewesen, aber dabei eine Taktlosigkeit, deren sie sich bis an ihr Lebensende schämen mußte.
Sie blieb am Ofen stehen und zwang sich zu einem Lächeln. »Du wirst mir glauben, daß ich jetzt nicht mehr so penibel denke,« erwiderte sie von dorther. »›Das Weltleben‹ härtet die Seele gegen allzu feine Auffassung. Es wird in der heutigen Gesellschaft so viel gestohlen an Gedanken, man nimmt vom guten Namen des lieben Nächsten, von seinem ehrenhaften Streben, von der Rechtlichkeit seiner Gesinnungen so viel, als irgend zu nehmen ist, und möchte gar oft am liebsten die ganze Persönlichkeit vom Schauplatz verschwinden machen, wie damals die Rose in deine Tasche eskamotiert wurde. Diesen Kampf ums Dasein, oder eigentlich diesen Diebstahl aus Selbstsucht und Neid kann man am besten im Hause eines Mannes von Namen beobachten. Ich habe mir viel davon hinter das Ohr geschrieben, und diese Weisheit allerdings auch mit einem guten Teil meiner kindlich naiven Anschauung bezahlt … Du könntest mithin vor meinen Augen alle Rosen der schönen Blanka in die Tasche stecken –«
»Die wären jetzt sicher vor meiner räuberischen Hand –«
»Nun, dann meinetwegen das ganze Rosenparterre vor dem Prinzenhofe!« fiel sie schon wieder erregter ein.
»O, das wäre denn doch zu viel für das Herbarium meiner Brieftasche, meinst du nicht, Margarete?« Er lachte leise in sich hinein und lehnte sich noch behaglicher in seine Sofaecke zurück. »Ich brauche mich auch nicht als Dieb dort einzuschleichen. Die Damen teilen redlich mit mir und meiner Mutter, was an Blumen und Früchten auf ihren Fluren wächst, und auch du wirst dir bei deinem Besuche einen Strauß aus dem Treibhause mitnehmen dürfen.«
»Ich danke. Ich habe keine Freude an künstlichen Blumen,« sagte sie kalt und ging nach der Stubenthüre, um sie zu öffnen. Tante Sophie war zurückgekommen und stampfte und schüttelte draußen den Schnee von ihren Schuhen und Kleidern.
Sie machte große Augen, als sich Herberts hohe Gestalt aus der Sofaecke erhob und sie begrüßte. »Was, ein Gast an unserem Theetische?« rief sie erfreut, während Margarete ihr Mantel und Kapotte abnahm.
»Ja, aber ein schlecht behandelter, Tante Sophie!« sagte er. »Die Wirtin hat sich schließlich in die Ofenecke zurückgezogen und mich meinen Thee allein trinken lassen.«
Tante Sophie zwinkerte lustig mit den Augen. »Da hat's wohl ein Examen gegeben, wie vor alten Zeiten? – Das kann die Gretel freilich nicht vertragen. Und wenn Sie vielleicht ein bißchen ins Mecklenburgsche hineinspaziert sind, um hinzuhorchen –«
»Keineswegs,« antwortete er plötzlich ernst, mit sichtlichem Befremden. »Ich habe gemeint, das sei abgethan?« setzte er fragend hinzu.
»Bewahre! Noch lange nicht, wie die Gretel alle Tage erfährt!« entgegnete die Tante stirnrunzelnd im Hinblick auf die Quälereien der Frau Amtsrätin.
Der Landrat suchte prüfend Margaretens Augen, aber sie sah weg. Sie hütete sich, auch nur mit einem Worte auf dieses widerwärtige Thema einzugehen, das die Tante unvorsichtigerweise berührt hatte … Aber er sollte es nur wagen, mit der Großmama gemeinschaftlich vorzugehen und in sie zu dringen, ihren Entschluß doch noch zu ändern – er sollte es nur wagen!
Sie trat, beharrlich schweigend, hinter die Theemaschine, um Tante Sophiens Tasse zu füllen; Herbert aber kehrte nicht wieder an den Tisch zurück. Er übergab der Tante den mitgebrachten Thee und wechselte in verbindlicher Weise noch einige Worte mit ihr; dann nahm er den Pelz auf den Arm und hielt Margarete seine Rechte hin. Sie legte ihre Fingerspitzen flüchtig hinein.
»Kein ›Gutenacht‹?« fragte er. »So bitterböse, weil ich dich bei Tante Sophie verklagt habe?«
»Das war dein Recht, Onkel – ich war nicht höflich. Böse bin ich nicht; aber gerüstet!«
»Gegen Windmühlen, Margarete?« – Er sah ihr lächelnd in die zornig aufblickenden Augen; dann ging er
»Sonderbar, wie sich der Mann geändert hat!« sagte Tante Sophie und sah über ihre Tasse hinweg heimlich lächelnd in das blasse Mädchengesicht, das, den Fenstern zugewendet, mit verfinstertem Blick in das Schneegestöber hinausstarrte. Er ist immer gut und voll Höflichkeit gegen mich gewesen, das kann ich nicht anders sagen; aber er war und blieb mir doch ein Fremder, von wegen seiner vornehmen, kühlen Art und Weise … Jetzt ist mir aber oft ganz kurios zu Mute, ganz so, als hätte ich ihn auch, wie euch, unter meiner Zucht gehabt. Er ist so herzlich, so zutraulich – und daß er heute abend den Thee hier unten genommen hat –«
»Das will ich dir erklären, Tante!« unterbrach sie das junge Mädchen kalt. »Es gibt Stunden, in denen man die ganze Welt umarmen möchte, und in einer solchen Stimmung ist er aus der Residenz, vom Fürstenhofe zurückgekommen. Er hat, wie er selbst sich ausdrückte, ›hocherfreuliche Nachrichten‹ mitgebracht. Wir dürfen demnach in der Kürze die ›endliche Proklamation‹ seiner Verlobung erwarten.«
»Kann sein!« meinte Tante Sophie und leerte den Rest ihrer Tasse.