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22.

HHeute lag die Sonne breit über der Stadt, eine bleiche, machtlose Wintersonne, die vergeblich an dem frostgehärteten Schneepanzer der Dächer sog und leckte. Wohl rannen einzelne feine Wasserfäden abwärts, allein sie blieben als kleine silberne Fransen an der Dachrinne hängen. Die zarten, sehnsüchtigen Zimmerblumen hinter den Fenstern freuten sich aber trotz alledem des blassen Sonnenlächelns, und Papchen im Salon der Frau Amtsrätin schrie und lärmte, als seien die Goldfunken, die seinem Messingring und den glänzenden Bilderrahmen an den Wänden entsprühten, eitel Sommerglanz, der hinunter ins Grüne des Hofes locke … Papchen war aber auch noch extra vergnügt. Er hatte seit langem nicht so viel Kosenamen, so viel Biskuit und Zuckerbrot von seiner Herrin erhalten, als heute. Es war überhaupt, als fliege noch ein besonderer Sonnenschein durch die vornehme obere Etage des Lamprechtshauses. Die Bettelkinder bekamen mehr Brot und weniger Strafpredigten als gewöhnlich, die Köchin verließ öfter als billig ihren Kochherd, um den schönen, fast noch neuen Hut immer wieder aufzuprobieren, den ihr die Frau Amtsrätin geschenkt hatte, und das Stubenmädchen überlegte unter lustigem Trällern, wie sich wohl ihr Geschenk, ein Kaschmirkleid der alten Dame, am schönsten modernisieren lasse.

Drunten in der Lamprechtschen Küche sah es anders aus, weil man ja doch ein Herz und keinen Stein in der Brust hatte, wie Bärbe immer sagte. Um das Packhaus hatte man sich freilich nicht zu kümmern, wie es seit Jahren Brauch und Gesetz im Vorderhause war; aber wenn in einer Wohnung »nur über den Hof 'nüber« eine Schwerkranke lag, da konnte es doch ein Christenmensch nicht fertig bringen, zu thun, als sei dieses Haus ein bloßer Steinhaufen, in welchem keine menschlichen Herzen lebten, die in Angst und Bedrängnis schlugen. Und deshalb war man still und gedrückt in der Küche und hantierte unwillkürlich geräuschloser als sonst üblich.

Bärbe hatte gestern gegen Abend Wasser am Hofbrunnen geschöpft, und da war auch die Aufwärterin aus dem Packhause gekommen, um einen frischen Trunk zu holen. Die Frau hatte tief alteriert erzählt, daß Frau Lenz vor einigen Stunden einen Schlaganfall gehabt habe, sie könne nicht sprechen und die linke Seite sei gelähmt – der Doktor, der noch an ihrem Bette sitze, nehme die Sache sehr bedenklich. Und die Thränen waren ihr aus den Augen geschossen bei der Schilderung, wie der alte Herr Lenz totenblaß im Zimmer auf und ab gehe und die Hände ringe und in seiner Angst und Herzensnot nicht einmal einen Blick für den kleinen Max habe, der in einer Ecke am Bett der Großmama kauere, ihr immerfort in das entstellte Gesicht sähe, und auch nicht den kleinsten Mundbissen zu sich nähme. Und dann hatte sie der alten Köchin weiter ins Ohr geraunt, Frau Lenz habe schon den ganzen Tag über sehr aufgeregt ausgesehen, und nachmittags sei der alte Herr nach Hause gekommen, ganz weiß im Gesicht und mit einer so heiseren Stimme, als verlechze ihm die Kehle. Sie, die Aufwärterin, sei in die Küche an ihre Aufwaschgelte gegangen; aber gleich darauf habe sie einen dumpfen Fall gehört, und das sei drüben im Zimmer die Frau Lenz gewesen, die zu Boden gestürzt sei … Was geschehen sein müsse, worüber sich die arme Frau erschreckt habe, wisse sie nicht, hatte die Aufwärterin gesagt. Aber die Frau Amtsrätin wußte es – der Landrat hatte den alten Lenz auf das Amt kommen lassen, um ihm die unerbittliche Thatsache mitzuteilen, daß sich nichts, auch nicht das kleinste Papierblättchen, nicht die geringste Notiz, weder über den gesetzlichen Ehevollzug des verstorbenen Kommerzienrates mit seiner zweiten Frau, noch bezüglich des nachgeborenen Sohnes im Nachlaß gefunden habe. – –

Das Geheimnis, das vom Packhause herüber mit seinen Fäden das stolze Vorderhaus zu umspinnen gedroht hatte, schien somit dem Dunkel verfallen, das so viele ungelöste Rätsel der Welt für alle Zeiten deckt. Noch blieb dem alten Lenz allerdings die persönliche Nachforschung in den Kirchen von London, wo die Trauung seiner Tochter, die Taufe seines Enkels stattgefunden; allein in dem Briefe der jungen Frau war die Kirche nicht genannt, in welcher sie als glückseliges Weib an seiner Seite gestanden und den Ehering empfangen habe« … Der alte Lenz hatte ferner dem Landrat erzählt, er habe eines Tages von der Pflegerin seiner Tochter, die zugleich ihre Freundin gewesen, die Nachricht erhalten, daß ihm ein Enkel geboren sei, und drei Tage darauf sei ein Telegramm eingelaufen mit der Meldung, daß die junge Frau im Sterben liege. Er habe zwar schleunigst die Reise nach London angetreten, um sein einziges Kind noch einmal zu sehen, sei aber doch zu spät gekommen – die Erde habe sie bereits gedeckt. – Das Heim seiner Tochter, eine wahrhaft fürstlich eingerichtete Wohnung, habe er verlassen gefunden; nur die Pflegerin sei noch dagewesen, um auf Befehl des Kommerzienrates alles Mobiliar versteigern zu lassen. Sie habe ihm mitgeteilt, daß der Kommerzienrat, nachdem er die letzte Handvoll Erde auf den Sarg der Verstorbenen geworfen, sofort abgereist sei. Er habe sich wie ein Wahnsinniger gebärdet, so daß sie ihm meist angstvoll aus dem Wege gegangen sei. Seinen Knaben habe er nicht einmal angesehen, geschweige denn geliebkost – weil das arme Kind die Veranlassung zu Blankas Tode gewesen. Trotzdem habe er den kleinen Neugeborenen samt der Amme mit sich genommen, denn London wolle er nicht wiedersehen, sollte er gesagt haben. Den ganzen Nachlaß der Verstorbenen an Kleidungsstücken, Leibwäsche und dergleichen habe er ihr für die Pflege geschenkt, hatte die Dame hinzugesetzt, aus dem Schreibtisch aber habe er alle Briefschaften und sonstigen Papiere an sich genommen. Nicht ein beschriebenes Blättchen sei mehr in den Fächern zu finden gewesen, hatte der alte Lenz dem Landrat weiter berichtet, und ein solch schriftliches Andenken von seiner Tochter sei das einzige gewesen, das er sich gewünscht, auf welches er Anspruch gemacht habe. So sei ihm nichts geblieben, als ihr kleiner Liebling, das Hündchen Philine, das verlassen in einer Zimmerecke gekauert und ihm dankbar die liebkosende Hand geleckt habe … Erst nach Jahresfrist sei damals der Kommerzienrat in seine deutsche Heimat zurückgekehrt, ein völlig verwandelter Mann, dessen Ausbrüche der Verzweiflung die alten Eltern seines heimgegangenen Weibes tief erschüttert und geängstigt hatten  … Im Dunkel der Nacht sei er zu ihnen gekommen. Da erst hätten sie erfahren, daß er den kleinen Max nach Paris in die Pflege der Witwe eines verstorbenen Geschäftsfreundes, einer hochgebildeten, ausgezeichneten Frau gegeben habe. Das Kind sei damals gut aufgehoben gewesen; der Kommerzienrat habe mit der Dame unausgesetzt korrespondiert und sei stets von allem genau unterrichtet gewesen, was seinen kleinen Sohn angegangen; dagegen habe er sich nie entschließen können, das Kind selbst wiederzusehen … Nun sei aber vor einem Jahre die Dame in Paris plötzlich gestorben, und der Kommerzienrat habe den Entschluß ausgesprochen, den Knaben in einem Institut unterzubringen. Dagegen sei indes Frau Lenz entschieden aufgetreten – das Kind sei noch zu jung, es brauche notwendig noch das ruhige, beglückende Leben, die Pflege inmitten der Familie, und nunmehr reklamiere sie als Großmutter den Knaben; sie habe lange genug die Sehnsucht nach Blankas Kind unterdrücken müssen; und erschreckt durch ihre Drohung, die Hilfe seiner Verwandten anzurufen, falls er auf seinem Vorhaben bestehe, habe er den kleinen Max eines Tages in die deutsche Heimat, in das großelterliche Haus bringen lassen … Wie ein Wunder habe sich damals eine plötzliche Umwandlung vollzogen; beim Anblick des schönen, intelligenten Knaben sei wie mit einem Schlage die tiefste Vaterzärtlichkeit unwiderstehlich in dem Herzen des finsteren Mannes erwacht. Oft sei er spät abends ins Packhaus gekommen und habe stundenlang schweigend am Bett des schlafenden Kindes gesessen, sein Händchen in der seinen haltend. Er habe sich auch mit großen Plänen für die Zukunft dieses seines nach geborenen Sohnes getragen.

Das alles hatte der alte Maler schlicht und einfach dem Landrat im stillen Amtszimmer mitgeteilt, und wenn noch ein Zweifel in Herberts Seele gelebt hätte, vor der schmucklosen Darstellung des tiefbewegten alten Mannes wäre er sofort verflogen. Aber hier entschied nicht die festeste Ueberzeugung, und wäre sie die der ganzen Welt gewesen, sondern der Buchstabe, das »Schwarz auf Weiß«. »Ohne gesetzlich beglaubigte Dokumente schweben alle Ansprüche rechtlos in der Luft, deshalb reisen Sie!« hatte Herbert gesagt. »Sie werden auf große Schwierigkeiten stoßen und viel Zeit und Geld brauchen; aber um ihrer gerechten Sache willen werden Sie die Schwierigkeit nicht scheuen und Ihre Zeit gern opfern, und das Geld, nun das wird sich schon zur rechten Zeit finden, darum sorgen Sie sich nicht!« Das war wenigstens ein schwacher Trost, ein Strohhalm gewesen, an den man sich in der Bedrängnis klammern konnte; aber diesen Trost hatte der alte Mann seiner Frau nicht einmal geben können – schon bei seinen ersten Worten war sie vor seinen Augen zusammengebrochen …

In der Schreibstube ging währenddem alles seinen gewohnten Gang. Hätte der junge Chef ahnen können, daß es fern am Horizont gewitterhaft aufblitze, er würde sein Augenmerk auf ganz andere Dinge gerichtet haben, als es die Kleinigkeitskrämerei war, mit der er sich immer noch vorzugsweise beschäftigte. Mit dem Aufräumen des alten Schlendrian war er immer noch nicht fertig. Es gab noch da und dort Hinterthüren, durch welche sich der Unterschleif ermöglichen ließ. Nicht allein im Hause mußte man jedes Eckchen immer wieder inspizieren, nein, auch der Hof verlangte wachsame Augen mit seinem zweiten Ausgang, dem Packhausthor. Da gingen und kamen die Taglöhnerinnen, da konnten leicht Viktualien und Holz aus der Küche und Hafer aus den Pferdeställen »weggeschleppt« werden; deshalb wurde jeder »Ausguck« in den Hof freigelegt, wurden jahrelang verschlossen gewesene Fensterläden täglich zurückgeschlagen. Die Nachteile dieser Observationsposten hatte bereits Bärbe gestern empfunden, als sie mit ihrem Eimer vom Brunnen zurückgekehrt war. Gleich darauf war der junge Herr in die Küche gekommen, hatte die alte Köchin heftig ausgescholten und sich ein für allemal den »neumodischen Mägdeklatsch« am Hofbrunnen verbeten.

Heute nachmittag war auch Margarete von Dambach zurückgekehrt. Sie konnte zufrieden sein mit dem Erfolg ihrer sorgsamen Pflege, dem Großpapa ging es viel besser. Aber der Hausarzt, den der Landrat insgeheim befragt, war der Ansicht gewesen, daß das Uebel in dem allen Stürmen und Wettern preisgegebenen, leichtgebauten Pavillon keinenfalls gänzlich gehoben werden könne; der alte Herr möge doch lieber für die strengste Winterzeit nach der Stadt übersiedeln. Damit hatte sich der Amtsrat einverstanden erklärt, und zwar um so eher deshalb, weil er nicht in der oberen Etage wohnen sollte. Ein paar, gerade über den Lamprechtschen Wohnräumen gelegene Zimmer der Bel-Etage sollten um des erwärmten Fußbodens willen für ihn eingerichtet werden.

Nun galt es, dem alten Herrn die Wohnung behaglich zu machen, und deshalb war Margarete in der Stadt. Tante Sophie war glücklich, sie wieder zu haben, wenn auch Bärbe ganz erschrocken meinte, daß das liebe »Gretelgesichtchen« gar so schmal und vergrämt aussehe. Tante Sophie freute sich aber auch im stillen, daß der Amtsrat nach der Stadt übersiedeln sollte; da war doch wieder ein männlicher Wille im Hause, eine Stimme, die, wenn sie sich zum Befehl erhob, Furcht und Respekt einflößte. Und das that not, der kleinen, herrschsüchtigen Frau im zweiten Stock gegenüber, die nun, nachdem sich die Augen des ehemaligen Hausherrn geschlossen, ihre geheime Abneigung gegen »das derbe, unverschämt gerade Frauenzimmer, die Sophie«, frei zu Tage treten ließ, die sich in die Hausangelegenheiten mischte und an dem Thun und Lassen »der alten Jungfer« mäkelte, als sei sie ihr untergeben.

Gleich in der ersten Stunde erfuhr Margarete von dem Jammer im Packhause. Tante Sophie und Bärbe berieten in der Küche, wie sie wohl einige Erfrischungen für die Kranke unbemerkt an den alten Lenz gelangen lassen könnten.

»Ich trage sie hinüber,« sagte Margarete.

Bärbe schlug die Hände über dem Kopfe zusammen. »Um Gotteswillen nicht – das gäbe Mord und Totschlag!« bat und versicherte sie. Der junge Herr lauere an allen Hinterfenstern; die Leute im Packhause seien ihm nun einmal ein Dorn im Auge; er verachte sie noch viel mehr als der selige Herr Kommerzienrat. Ihr, dem alten Dienstboten, habe er gestern abend den Kopf gewaschen und den Text gelesen, nach Noten, bloß weil sie mit der Aufwärterin gesprochen; und wenn nun gar die eigene Schwester sich »so gemein mache« – nein, den Mordspektakel wolle sie nicht erleben!

Margarete ließ sich nicht beirren. Sie nahm schweigend das Körbchen mit den Geleebüchsen und ging in die Hofstube. Dort hüllte sie sich in einen weiten, weißen Burnus von stockigem Wollstoff und trat ihren Gang an.

Aber sie traf es schlecht. In dem Augenblicke, wo sie die Stufen nach dem Hausflur hinunterschritt, kam die Großmama in elegantem pelzbesetztem Samtmantel die große Treppe herab. Sie war offenbar im Begriff, einen Besuch in der Stadt zu machen.

»Was, so schneeweiß inmitten der tiefsten Trauer, Gretchen?« rief sie. »Du wirst dich doch hoffentlich nicht so in der Stadt sehen lassen?«

»Nein. Ich gehe ins Packhaus,« sagte Margarete fest, warf aber doch einen scheuen Blick nach dem Kontor, wo das Fenster klirrte.

»Ins Packhaus?« wiederholte die Frau Amtsrätin und trippelte doppelt geschwind die letzten Stufen herab. »Da muß ich denn doch erst ein Wörtchen mit dir reden.«

»Ich auch!« rief Reinhold herüber und schlug das Fenster wieder zu. Gleich darauf trat er in den Hausflur.

»Gehen wir in die Wohnstube!« sagte die Großmama. Sie warf ihren Schleier zurück und ging voran, und Margarete mußte wohl oder übel folgen, denn Reinhold schritt dicht hinter ihr wie ein eskortierender Gendarm.


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