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27.

MMargarete eilte voraus und schloß die Thüre des Zimmers auf. – Zum erstenmal in ihrem Leben trat sie auf diese Schwelle, hatte sie das wundervolle Deckengemälde zu Häupten. Eine mit dem schwachen Hauch verdorrter Blumenreste gemischte, rötlich durchschimmerte Luft schlug ihr entgegen – die tiefstehende Nachmittagssonne fiel durch die roten Klatschblumen der zermürbten, aber in den Farben ziemlich erhaltenen Brokatgardinen … Ueber diese Schwelle sollte die weiße Frau schlüpfen, und manche der Gespensterseher hatten auch die spinnwebige, furienhafte Frau Judith hinzugedichtet; über diese Schwelle waren aber auch die Füßchen in den Hackenschuhen gehuscht, aus dem Prunkgemach nach dem Dachboden des Packhauses, und hatten die Leute im Hause erschreckt und die Sage von der wandelnden schönen Dore neu aufleben gemacht.

Die Frau Amtsrätin fuhr beim Eintreten mit dem Taschentuch durch die Luft. »Puh, was für eine häßliche Atmosphäre! Und diese Staubmassen!« rief sie ganz empört und zeigte über die Möbel hin. – Da blinzelten allerdings Samt- und Seidenschimmer und der Glanz der Vergoldung, die herrlichen Spiegelscheiben nur schwach durch die weißgrauen Staubschleier. – »Und da willst du uns weismachen, dein Vater habe hier in seinen letzten Lebenstagen verkehrt, Grete? … Ich sage dir, seit Jahren ist diese Thüre nicht aufgemacht worden! … Nun, ein Wunder ist's freilich nicht, wenn du in dem Gange draußen alle möglichen Visionen gehabt hast – da ist's ja zum Fürchten schrecklich!«

Margarete schwieg. Sie sah den Landrat bedeutungsvoll an und zeigte auf eine Fußspur, die über das staubige Parkett hinweg direkt nach dem Schreibtisch am Fenster lief.

Herbert zog die Fenstergardinen auseinander, und der abgesperrte Sonnenschein kam breit herein und ließ in seinem blassen Gold die köstlichen Perlmutter- und Metallarabesken an dem Schreibtisch matt aufleuchten … Es war ein herrliches Stück Möbel mit geschweifter Tischplatte und einem mächtigen Aufsatz, dessen Mitte eine Schrankthüre, zu beiden Seiten flankiert von einer Unzahl kleiner Schiebekasten, breit einnahm.

Die Frau Amtsrätin hatte ihren Kleidersaum aufgenommen und war, sichtlich betroffen, auch der Fußspur nachgegangen. Nun stand sie mit langem Halse hinter Sohn und Enkelin und konnte eine nervöse Spannung nicht verbergen.

Der Schrankschlüssel drehte sich leicht und willig unter Herberts Hand, und die Thüre sprang auf. Der Landrat fuhr zurück, und die alte Dame stieß einen schwachen Schrei aus; über Margaretens Gesicht aber flog verklärend ein Gemisch von freudiger Ueberraschung und tiefer Wehmut. »Da ist sie!« rief sie wie erlöst von Angst und Spannung,

Ja, das war der herrliche Frauenkopf, wie ihn einst die Aristolochiabogen umrahmt hatten! Das war der unvergleichliche, lilienhafte Schimmer der Haut, der die Mädchenstirn so unschuldsvoll, leuchten gemacht, das waren die in tiefem Blau funkelnden Augensterne, über denen sich feine, dunkle Brauen wölbten! Nur die blonden, einst über Brust und Nacken hinabfallenden Mädchenzöpfe fehlten – das Haar türmte sich wellig gelockt hoch über der Stirn, und in der matten Goldflut glitzerten die Rubinsterne der schönen Dore … Ach, deshalb sollten diese Steine »nie wieder ein Frauenhaar schmücken, solange er lebe«, wie der Verstorbene an jenem Gesellschaftsabend in so leidenschaftlicher Aufregung erklärt hatte! – Ja, diese Frau mit den Karfunkelsteinen war ebenso geliebt und beweint worden, wie die erste, die wandelnde weiße Frau des Lamprechtschen Hauses! Der alte Justus hatte sich nie wieder verheiratet und war ein finsterer, verbitterter Mann bis an sein Lebensende verblieben –, wie sein Nachkomme, der vielbeneidete Balduin Lamprecht auch … Was für ein dämonischer Zug der Seelen mochte die schöne Blanka wohl veranlaßt haben, sich genau so zu kostümieren wie ihre unglückliche Vorgängerin, die den gleichen verhängnisvollen Schritt wie sie gethan, und ihn mit ihrem jungen Leben gebüßt hatte! –

Ein betäubender Duft entquoll dem Schranke; rings um das Bild waren Rosen aufgehäuft, Rosenmumien, die wie Weihopfer hier hatten welken müssen. Vor dem Bilde lag auch der letzte kleine Strauß, den Margarete an jenem Nachmittag in der Hand ihres Vaters gesehen – die schöne Blanka mußte Rosen und Rosenduft sehr geliebt haben.

»Nun, das Bild beweist noch nichts!« rief die Frau Amtsrätin mit vibrierender Stimme in das plötzlich eingetretene Schweigen der Ueberraschung, der Erschütterung hinein. »Es wird so sein, wie ich dir sagte, Herbert! Bewiesen ist in der That nur, daß der Schwächling allerdings für eine Zeit in die Netze der Kokette gefallen ist.«

Ohne zu antworten zog der Landrat an einem der kleinen Schiebekasten, allein derselbe gab nicht nach.

»Der Schrank wird ähnlich konstruiert sein, wie Tante Sophiens Schreibtisch in der Hofstube,« sagte Margarete. Sie griff in das Innere des Schrankes und zog an einer schmalen, vorspringenden Holzleiste; mit diesem einen Ruck waren alle Kasten zur Linken erschlossen.

In den unteren Fächern lagen viele moderne Schmuckstücke, vermischt mit bunten Bandschleifen, jedenfalls lauter Reliquien für den verwaisten Mann; dann kam aber ein mit Papieren gefüllter Kasten an die Reihe. Margarete hörte, wie plötzlich die Atemzüge der jetzt dicht hinter ihr stehenden Großmama tief und schwer gingen; das alte, feine Frauenprofil erschien über ihrer Schulter – es war vollständig entfärbt, und die Augen bohrten sich förmlich in den Kasteninhalt.

Nur einige mit schwarzem Band umwickelte Briefpakete machten diesen Inhalt aus; obenauf aber lag ein einzelnes Kouvert mit der Aufschrift von der Hand des Verstorbenen.

»Dokumente, meine zweite Ehe betreffend!« las der Landrat laut.

Die Frau Amtsrätin stieß einen Aufschrei der Entrüstung aus. »Also doch?« rief sie, die Hände zusammenschlagend.

»Großmama, sei barmherzig!« bat Margarete innig flehend.

»Es bedarf keiner Barmherzigkeit, Margarete,« sprach der Landrat stirnrunzelnd. »Ich begreife nicht, Mama, wie es dir überhaupt möglich gewesen ist, die Nichtbestätigung zu wünschen. Das sonnenklare Recht des Knaben wäre auch ohne diese Papiere zur Geltung gekommen, und die Welt hätte in der Kürze erfahren müssen, daß ein nachgeborener Sohn aus zweiter Ehe existiere. Das Auffinden dieser Dokumente hier hat mithin nur insofern Wert, als es uns, den Nächststehenden, beweist, daß Balduin nicht beabsichtigt hat, die Ehre seines toten Weibes, seines Kindes um des Anathemas der vornehmen Welt willen zu schädigen.«

»Das habe ich gewußt!« rief Margarete mit aufstrahlenden Augen. »Nun bin ich ruhig!«

»Ich aber nicht!« zürnte die alte Dame. »Mir vergällt dieser Skandal meine letzten Lebensjahre. Schande über ihn, der uns eine so empörende Komödie hat mitspielen lassen! Ich habe bei Hofe sein Lob gesungen, so viel ich konnte. Sein Ansehen bei den höchsten Herrschaften verdankte er mir, mir allein. Wie wird man zischeln und spotten über die ›blödsichtige Marschall‹ die ahnungslos den Schwiegersohn des alten Lenz in die höchsten Kreise eingeführt hat! … Ich bin blamiert für alle Zeiten! Ich bin unmöglich geworden bei Hofe! … O, hätte ich mich doch nie herbeigelassen, in das Krämerhaus zu ziehen! Jetzt wird man mit Fingern auf dieses Haus zeigen, und wir, die Marschalls, wohnen drin, und du, der erste Beamte der Stadt – ich bitte dich, Herbert, nur nicht diese gelassene Miene!« unterbrach sie sich mit großer Heftigkeit. »Dieser Gleichmut kann dir teuer zu stehen kommen! Auch für dich wird die schmutzige Geschichte möglicherweise Folgen haben, die –«

»Ich werde sie zu tragen wissen, Mama,« fiel er mit unerschütterlicher Ruhe ein. »Balduin –«

»Still! Wenn du noch einen Funken von Sohnesliebe in dir hast, so nenne diesen Namen nicht! Ich will ihn nie wieder, hören, mit keinem Laut will ich je wieder an ihn erinnert sein, der uns belogen und betrogen hat, der Meineidige –«

»Halt!« rief Herbert, indem er stützend seinen Arm um Margarete legte, die totenblaß und zitternd sich an der Tischkante festhielt. Die Adern schwollen ihm auf der Stirn. »Keinen Schritt weiter, Mutter!« protestierte er heftig zürnend, es klang aber auch ein tiefschmerzlicher Ton mit. »Sagst du dich so schonungslos, so unglaublich selbstisch los von Balduin und mithin auch von seiner Waise, so stehe ich zu ihr! Ich dulde es nicht, daß noch ein einziges böses Wort fällt, unter welchem sie leiden muß, die ohnehin noch schwer am Trennungsschmerz trägt! … Aber auch Balduin lasse ich nicht länger schmähen! – Wohl, er ist schwach gewesen, und mir ist sein unmännliches Schwanken unfaßlich; allein es liegen Milderungsgründe für seine Handlungsweise vor … Du selbst beweisest in diesem Augenblicke am schlagendsten, was für Stürme ihn umtobt haben würden, wenn er zur rechten Zeit männlich offen gesprochen hätte … Er hat sich bethören lassen durch die Lockung, der gesuchte Mann eines exklusiven Kreises zu sein; er hat sich Schritt um Schritt tiefer verstrickt in einem Netz der unnatürlichsten Widersprüche, und ich sage selbst, dir und allen denen gegenüber, die so denken wie du, Mama, hat ein gewisser Mut dazu gehört, plötzlich als ein Mann aufzutreten, der sich von all euren Vorurteilen emanzipiert hat und dem natürlichen Zuge seines Herzens gefolgt ist … Dieser Fall in der eigenen Familie sollte dir doch die Augen öffnen und dir zeigen, wohin diese geschraubten Ansichten, dieses Verleugnen der Natur des gesund und richtig empfindenden Menschenherzens führen muß: zu verschwiegenen, entnervenden Seelenqualen, zu Lug und Trug, und gar oft zum Verbrechen … Ein Teil von Balduins Schuld fällt auch auf die heutige Gesellschaft, ihn trifft nicht allein der Vorwurf, eine Komödie aufgeführt zu haben!«

Die Frau Amtsrätin hatte sich immer weiter von Herbert entfernt, während er sprach; es war, als wolle sie die Kluft, die sich plötzlich durch den Kontrast der Ansichten zwischen Mutter und Sohn aufthat, auch räumlich erweitern. Mit fest zusammengepreßten Lippen schritt sie zur Thüre – dort wendete sie sich noch einmal um.

»Auf alles, was du mir eben gesagt hast, habe ich selbstverständlich kein Wort der Erwiderung,« rief sie mit zornbebender Stimme in das Zimmer zurück. »Ich sollte meinen, mit meinen Prinzipien sei ich bisher ganz leidlich durch die Welt gekommen; sie sind der beste Teil meines Ich, sie sind mein Stolz, mit ihnen stehe und falle ich! … Du aber sieh dich vor! Dieses Liebäugeln mit dem grundsatzlosen modernen Liberalismus verträgt sich nie und nimmer mit deiner Stellung!  … Doch was rede ich da! Ich bin viel zu taktvoll, um dir gute Ratschläge geben zu wollen. Draußen im Prinzenhofe und vor den Ohren unserer allerhöchsten Herrschaften wirst du dich wohlweislich hüten, solche Ansichten laut werden zu lassen.«

»Mit den Damen im Prinzenhofe politisiere ich grundsätzlich nicht; der Herzog aber kennt meine Gesinnungen bis auf den Grund, ich habe ihn darüber nie im Zweifel gelassen,« versetzte der Landrat sehr ruhig.

Sie sagte nichts mehr. Mit einem leisen ungläubigen Auflachen überschritt sie die Schwelle und drückte die Thüre hinter sich zu.

Margarete hatte sich währenddem in die nächste Fensterecke zurückgezogen; sie war vorhin erschreckt dem stützenden Arm sofort entschlüpft. »Du hast dich mit ihr entzweit um unsertwillen,« klagte sie jetzt mit schmerzhaft zuckenden Lippen.

»Das darfst du dir nicht so zu Herzen nehmen,« erwiderte er, noch mit der Aufregung kämpfend, die ihn so heftig durchschüttert hatte. »Sei du ganz ruhig!« setzte er sanft begütigend hinzu. »Der Riß heilt wieder zu. Meine Mutter wird sich besinnen; sie wird sich erinnern, daß ich ihr immer ein guter Sohn gewesen bin, trotzdem ich mit meinen Lebensanschauungen auf eigenen Füßen stehe.«

Er prüfte die Dokumente und nahm sie an sich. »Ich gehe jetzt ins Packhaus,« sagte er. »Jede Verzögerung ist eine Sünde den alten Leuten gegenüber … Das ist ein Weg, um welchen mich alle guten Menschen beneiden müssen! Aber noch eins: Bist du dir auch völlig klar darüber, wie es sein wird, wenn ein Dritter neben euch, den verwöhnten ›beiden Einzigen‹, in gleiche Rechte tritt? Wenn der Knabe aus dem Packhause plötzlich zu denen zählt, die von den Wänden eures Hauses niedersehen, und auf welche du so stolz bist? … Du hast heute die Aufklärung aus allen Kräften erstrebt, um einen entehrenden Verdacht von dem Andenken deines Vaters zu nehmen –«

»Gewiß. Aber ich habe auch zugleich für das Recht des kleinen Bruders gekämpft. Mir soll er tausendmal willkommen sein – ich werde ihn mit offenen Armen empfangen! Gibt er doch auch meinem Dasein einen neuen Wert. Ich werde für ihn denken und sorgen dürfen; ich will ihn bewachen als ein Kleinod, das mir mein Vater anvertraut hat. Und eine solche Aufgabe ist wohl des Lebens wert!«

»Bist du so arm an Hoffnungen für dein eigenes junges Leben, Margarete?«

Ein finsterer Blick traf ihn. »Dein Beileid brauche ich nicht – bemitleidenswert arm ist man nur, wenn man sich mit seinem Schicksal nicht abzufinden weiß,« versetzte sie schroff.

»Nun, da behüte dich Gott, daß dir nicht einmal dieses schöne, thönerne Piedestal unter den Füßen zusammenbricht!« – Ein leises Lächeln stahl sich um seine Lippen; sie bemerkte es nicht, weil sie über die Schulter weg in den Hof hinaussah. – »Aber ich will dich ja nicht kränken, Gott soll mich bewahren! Wir sind heute so hübsch im ›gleichen Schritt und Tritt‹ gegangen – wer weiß, was uns das ›Morgen‹ bringt! Drum gib mir eine Hand, eine Freundeshand!«

Er hielt ihr die Rechte hin, und sie legte die ihre hinein, ohne Druck, ohne die geringste Bewegung auch nur der Fingerspitzen. »Hu, wie kalt, wie beleidigend kalt! … Nun, ein alter Onkel muß auch eine Unfreundlichkeit hinnehmen können; dafür hat er ja die Last der Jahre und die Weisheit voraus,« setzte er mit gutem Humor hinzu und entließ die Hand aus der seinen.

Er schob die Holzleiste an ihren alten Platz, verschloß den Schrank und nahm den Schlüssel an sich. »Den Zimmerschlüssel werde ich mir in diesen Tagen noch einmal ausbitten,« sagte er. »Ich bin gewiß, daß der Schreibtisch noch manches enthält, was uns die Regulierung der ganzen Angelegenheit erleichtern wird … Und nun halte dich hier nicht länger auf, Margarete! Ich habe es empfinden müssen, daß du bis ins Herz hinein frierst.«

Gleich darauf hatte er das Zimmer verlassen. Margarete aber ging noch nicht. Sie stand in der Fensterecke und blickte über den Hof hin. Sie fror nicht; die Zimmerkälte kühlte ihr wohlthätig die pochenden Schläfen.

Drunten am Brunnen stand Bärbe und ließ Wasser in ihren blanken Eimer laufen. Die abergläubische Alte ahnte noch nicht, daß die Rolle ihrer Frau mit den Karfunkelsteinen ausgespielt war für immer … Ja, nun war das Rätsel gelöst, das jahrelang verdunkelnd über dem Lamprechtshause geschwebt hatte!

Margarete sah hinüber nach den schneebeladenen Linden vor dem Weberhause. Dort hatte einst die »wilde Hummel« gesessen und die sogenannte »Vision« von der schneeweißen Stirn zwischen den buntseidenen Fenstergardinen gehabt. Und jetzt stand sie selbst hier oben und wußte, daß es die schöne Blanka gewesen war, die schleierverhüllt als weiße Frau gespukt hatte … Welch ein Zauber war von dieser Gestalt ausgegangen, von diesem rosenduftenden Mädchen, das selbst den gereiften älteren Mann, den stolzen Chef ihres Vaters zu ihren Füßen gezwungen! … Neben ihm hatte freilich der damalige hochaufgeschossene Primaner mit dem rotwangigen Jünglingsgesicht gar nicht in Frage kommen können. Jetzt allerdings war das anders, o, so ganz anders! Er war der Vielumworbene, den sich selbst die stolze Schönheit, die herzogliche Nichte, zu eigen geben wollte – Margarete schrak zusammen, denn da kam er eben über den Hof her und schritt rasch nach dem Packhause.

Er winkte grüßend herauf, Bärbes Kopf fuhr herum; der Eimer entglitt ihren Händen, und das verschüttete Wasser strömte über die schützende Holzdecke des Brunnenbassins. Die alte Köchin stand, zur Salzsäule geworden, unter dem spukhaften Fenster, aus welchem das junge Menschenkind aus Fleisch und Bein auf sie herniedersah.

Margarete trat zurück und zog die Vorhänge zusammen. Nun herrschte wieder jenes Dämmerlicht, das die Wände rötlich überhauchte und den spielenden Amoretten an der Zimmerdecke ein geheimnisvolles Leben verlieh. Diese pausbäckigen Lockenköpfchen da oben hatten zu verschiedenen Zeiten auf zwei schöne junge Frauen des Lamprechtshauses so schalkhaft herabgelugt, wie sie auch heute noch, unter Blumengewinden und Schleierwolken hervor, dem druntenstehenden, tiefbewegten Mädchen zublinzelten … Die dunkelhaarige Frau hatte ihren Liebestraum hier beschlossen, die mit den goldigen Mädchenzöpfen ihn aber begonnen. Beide hatten früh sterben müssen. Ein Jahr, ein kurzes Jahr des Glückes war ihnen vergönnt gewesen; aber wog diese Spanne Zeit nicht ein ganzes langes Leben voll Entsagung auf? – Das junge Mädchen ballte die Hände und biß die Zähne zusammen – waren sie schon wieder da, diese qualvollen Gedanken und Empfindungen, mit denen sie rang auf Tod und Leben? Sie hatte sich gerühmt, ihr bester Helfer sei der Kopf, und dieses Wort durfte nicht zu Schanden werden, sie mußte daran festhalten, und wenn sie dabei zu Grunde gehen sollte. Sie übernahm jetzt neue ernste Pflichten – genügte nicht auch treue Pflichterfüllung, um das Leben liebenswert zu machen? Mußte es durchaus ein überschwengliches Glück sein?

Sie trat hinaus in den Gang und verschloß die Zimmerthüre …

Und als bald darauf der Abend hereinbrach, und es dunkel wurde in allen Gängen und Winkeln des Hauses, da hatten die Hausgeisterchen viel miteinander zu flüstern. Das alte Geschlecht der »Thüringer Fugger« stand nicht mehr allein auf zwei Augen – ein kräftiger, kraftstrotzender kleiner Nachkomme trat neben den ärmlichen, dahinwelkenden Sproß, den der alte Stamm zuletzt getrieben; und die Kauf- und Handelsherren, die noch im Konterfei, in Reih und Glied an den Wänden des dunklen Ganges lehnten, konnten stolz sein; denn der kleine Bursche war wirklich und leibhaftig einer der Ihren, wie sie ja auch im Leben samt und sonders schöne, intelligente Leute voll Kraft und Körperstärke gewesen waren.

Und im Packhause saß dieser hoffnungsvolle Erbe auf den alten Knieen seines Großvaters, neben dem Bett der genesenden Frau und aus den Augen der alten Leute strahlte das Glück. Nun waren Kummer und Seelenpein überwunden; und ob auch draußen am niederen Dach die Eiszapfen blinkten und ein dickes Schneepolster gegen die Scheiben drückte, hier innen ging ein belebender Frühlingsodem durch die Räume. Im Kachelofen knisterte das Feuer, und der sanfte Lampenschein breitete sich über jedes liebe Stück der altgewohnten Einrichtung, und zum erstenmal wieder überkam das traute Heimgefühl die alten Leute, die ja bereits mit einem Fuß in der weiten Welt gestanden und nicht gewußt hatten, wohin sie mit dem ausgestoßenen Enkel ihre müden Schritte lenken sollten.

Im Vorderhause aber legten sich die Wogen, die der ereignisvolle Tag aufgestürmt hatte, nicht so bald. Die Frau Amtsrätin hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen und ließ niemand vor. Ihre Leute schüttelten verwundert die Köpfe über das Gebaren der alten Dame, die »so voll Gift und Galle und bis in den Grund der Seele hinein geärgert«, heraufgekommen war. Sie hatte befohlen, daß das Abendbrot dem Herrn Landrat allein serviert werde, und nachdem sie Papchen einen widerwärtigen Schreier gescholten, war sie in ihr Schlafzimmer gegangen und hatte innen den Riegel vorgeschoben …

Und Bärbe hätte auch nie gedacht, daß sie das erleben werde, was ihr der heutige Tag gebracht hatte: die Erkenntnis, daß sie ein ganz nichtsnutziges Frauenzimmer und nicht wert sei, daß die Sonne sie bescheine … Sie war vor einer Stunde ganz entsetzt vom Brunnen gekommen und hatte Tante Sophie zugeraunt, daß sie Fräulein Gretchen leibhaftig und mutterseelenallein am Fenster der Spukstube gesehen habe. Aber da war endlich ein schweres Gericht über sie und ihren unseligen Aberglauben ergangen! Es hatte von seiten der Tante Sophie eine »Kopfwäsche« gegeben, an die sie denken mußte, solange ihr ein Auge im Kopfe stand … O, über die dumme, blinde, alte Person, die Bärbe! Sie hatte ja das liebe Gretchen für die Frau mit den Karfunkelsteinen angesehen, hatte mit ihrem Geschrei das ganze Haus auf die Beine gebracht und den bösen Gestrengen aus der Schreibstube auf die Schwester gehetzt – ach, und da sollten böse, böse Reden gefallen sein! … Nein, sie war wirklich nicht wert, daß der liebe Herrgott seine Sonne über sie scheinen ließ, und eher wollte sie sich die Zunge abbeißen, als daß ihr je wieder ein Wort über das Unwesen droben im Gange entschlüpfte! … Und so saß sie auf der Küchenbank und weinte herzbrechend in ihre Schürze hinein.

Währenddem gingen Margarete und Tante Sophie in der Wohnstube auf und ab. Das junge Mädchen hatte den Arm um die Tante gelegt und ihr den gewaltigen Umschwung im väterlichen Hause mitgeteilt … Es war dunkel in der Stube; die brennende Lampe war sofort wieder hinausgeschickt worden – es brauchte niemand zu sehen, daß die Tante geweint hatte; eine solche Weichmütigkeit gestattete sie sich nur äußerst selten. Aber war es nicht ein Jammer, daß der Mann neun volle Jahre mit seinen verschwiegenen Seelenqualen neben ihr gegangen war? Und sie hatte sich harmlos ihres Lebens gefreut und nicht geahnt, daß sich rund um sie her ein solches Drama abspiele! … Und das Kind, der liebe, prächtige Junge, er hatte nicht das väterliche Haus betreten, nicht an seines Vaters Tische essen dürfen – das Herz hätte sich ja doch dem Balduin im Leibe umwenden müssen! … »Du lieber Gott, was sich doch die Menschen alles anthun um ein bißchen mehr oder weniger, höher oder niedriger willen!« sagte sie zum Schluß und wischte sich die letzte Thränenspur vom Gesicht. »Unser Herrgott hat sie geschaffen, ohne Wehr und Waffen als ein friedliches Geschlecht; aber da schärfen sie sich die Zunge zum Messer und schmieden sich selber eiserne Panzer um die Herzen, auf daß nur ja niemals Friede sei auf Erden!«

An der Schreibstube ging der Sturm heute noch ungehört vorüber. Der junge »Gestrenge« saß hinter seinen Büchern und kalkulierte. Er ließ sich nicht träumen, daß er falsch rechne, daß mit nächstem ein Fingerchen an dieser Schreibstube anpochen, und der kleine Verhaßte aus dem Packhause Einlaß, Sitz und Stimme fordern werde – von Rechts wegen!


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