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14.

IIn der Wohnstube wurden die Rollvorhänge herabgelassen. Wer mochte auch noch hinaussehen auf den Markt, wo sich die unglücklichen Menschenwesen, die das gebieterische »Muß« ins Freie trieb, als unförmliche, flatternde Kleiderbündel mit Lebensgefahr um die Straßenecken kämpften, wo der heulende Unhold das Wasser im Brunnenbecken wütend peitschte und mit allem, was nicht niet- und nagelfest, bis über die Dachfirste hinauf Fangball spielte. Es war bitter kalt geworden, aber Tante Sophie löschte das Feuer im Ofen und stellte dafür die summende Theemaschine auf den Tisch – heute müsse man von innen heizen, sagte sie, in die Schlote dürfe kein Feuerfunke mehr kommen. Sie hatte noch einmal die Runde durch das ganze Haus gemacht und alle Thüren, Fenster und Bodenluken untersucht und meinte, sie wolle sich nicht wundern, wenn heute nacht auch noch das Dach des Vorderhauses auf den Markt herunterspaziert käme – da oben sei es fürchterlich.

Ein behagliches Beisammensein gab es heute nicht. Der Kommerzienrat wollte nicht essen und blieb oben, und auch Reinhold zog sich, nachdem er mürrisch schweigend eine Tasse Thee getrunken, mit seinem unbesiegbaren Zorn über die Verwüstung des Packhauses, in seine Stube zurück. So blieben Tante Sophie und Margarete allein und wachten der gefahrdrohenden Nacht entgegen. Auch die Dienstleute gingen nicht zu Bette. Sie saßen in der Küche bei einander; die Mägde steckten frierend die Arme unter die Schürze und die Männer kauten an der kalten Pfeife und horchten in stummer Sorge auf das furchtbare Anschwellen der Sturmesstimme … War es doch, als wolle der Orkan die uralte kleine Stadt, die, seit einem Jahrtausend als treuer Wächter an die Pforte des Thüringerwaldes geschmiegt, allen Stürmen, allen Kriegsungewittern getrotzt hatte, in dieser einen Nacht wie ein Kinderspielzeug in Splitter und Scherben zusammenschütteln. Unter seinen Stößen erbebte die Erde, Schlote und Ziegel rasselten von den Dächern und zerbarsten auf dem Straßenpflaster, und in das Gebrüll und Zornesschnauben hinein mischte es sich wie ein unirdisches Wehklagen, als seien unter den Fußtritten des Dahinrasenden draußen auf dem stillen Fleck vor dem Thore die tiefgebetteten Schläfer erwacht und durchirrten suchend die Gassen, in denen sie vorzeiten gewandelt.

Und gegen die zwölfte Stunde that sich die Stubenthür auf, und Bärbe erschien auf der Schwelle, ganz blaß, schaudergeschüttelt, und den Zeigefinger der Rechten nach der Zimmerdecke emporgereckt. Es tappe und trampele wie mit Reiterstiefeln ganz greulich oben im Gange, und dazwischen werde gepocht und geklopft, als wenn jemand eingesperrt sei und »heraus wolle«, zischelte sie hinter ihren zusammenschlagenden Zähnen, verschwand aber sofort wieder hinter der sacht zugedrückten Thüre, als sich Tante Sophie, ohne ein Wort zu sagen, aus der Sofaecke erhob, die Sturmlaterne anzündete und mit Margarete das Zimmer verließ.

Oben im Flursaal brauste ihnen ein Zugwind entgegen, der sie zurückzuwerfen drohte. Auf dem letzten Büffett brannte die große Tischlampe des Kommerzienrates, und die Thüre nach dem Gange stand weit offen. Von dort her pfiff und orgelte es allerdings, als sause das wilde Heer durch den langen, dunklen Schlund. Tante Sophie trug schleunigst die Lampe, aus welcher die windgejagte Flamme hoch emporschlug, auf das geschützte vordere Büffett, und währenddem betrat Margarete mit hochgehobener Laterne den Gang.

Der Sturm hatte das Fenster am Ende des Ganges eingedrückt, sein eisiges Blasen und Fauchen kam dort direkt vom Himmel herein; er warf den aufgerissenen Flügel schmetternd hin und her und riß und stieß an den hingelehnten Bildern, von denen ein Teil bereits am Boden lag – das war wohl das Tappen und Pochen gewesen … Aber das Fenster war ja so klein; durch dieses enge Viereck konnte sich unmöglich die gewaltige Windsbraut zwängen, die das Mädchen wütend anfiel und Gang und Flursaal mit ihrem Tosen erfüllte. Margarete kämpfte sich vorwärts, und da prallte sie plötzlich zurück.

Sie stand vor dem Treppchen, das seitwärts nach der Bodenkammer im Packhause hinabführte; sonst war das eine düstere, abgeschlossene Ecke; jetzt aber sah der dämmernde Himmel mit seinen Sternbildern durch das Dachgerippe des Packhauses herein – der nie benutzte Thürflügel hing zurückgeworfen nur halb in den Angeln, und im Thürrahmen, mühsam gegen den Anprall sich haltend, stand ihr Vater.

Er sah den Laternenschein, der neben ihm hin auf die Dielen der Dachkammer draußen fiel, und wandte sich um. »Du bist's, Gretchen?« fragte er. »Jagt dich der Aufruhr auch durch das Haus? Es sieht schlimm aus hier oben. Wie vor den Posaunenstößen des Weltgerichts stürzt das bißchen Menschenwerk zusammen – nicht die Sonne allein, auch der Sturm bringt's an den Tag, mein Kind!« setzte er mit einem unheimlichen Lächeln, das sie betroffen machte, hinzu. »Schau, jahrhundertelang hat geheimnisvolles Dunkel unter dem alten Dach gespukt und nun scheinen die Sterne auf die Dielenbretter und man meint die Fußspur von denen zu sehen, die einst da gegangen sind.«

Er stieg das Treppchen herauf; Tante Sophie kam eben auch den Gang daher. Sie schlug die Hände zusammen. »Um alles in der Welt, hat denn der Spektakelmacher uns Lamprechts ganz extra aufs Korn genommen? Das ist ja die reine Wüstenei!« schalt sie empört und zeigte nach der aufgerissenen Thüre. »Seit Menschengedenken hat keine Seele an das Thürschloß gerührt, und nun! – das Loch muß auf der Stelle zugemacht werden, wenn wir nicht das Haus voll Ratten haben wollen!«

»Ratten?! – Mir war's eben noch, als käme eine weiße Taube hereingeflattert,« sagte der Kommerzienrat wieder mit jenem höhnisch bitteren Lächeln, das seine Lippen schmerzhaft aufzucken machte.

Tante Sophie erschrak. »Na, das fehlte noch, daß uns auch der Taubenschlag abgedeckt ist!« rief sie und trat resolut um einige Schritte hinaus, um zwischen dem Balkenwerk hindurch nach dem Dach des Weberhauses zu sehen, wo ihre gefiederten Pfleglinge hausten.

Der Kommerzienrat wandte sich achselzuckend ab und ging hinunter in die Erdgeschoßwohnung. Er kam bald darauf mit dem Kutscher und dem Hausknecht zurück, die eine Leiter und Balkenstücke trugen. Nur mit Mühe gelang es ihnen, die Thüre anzudrücken; dann wurden die Balken dagegen gestemmt.

»Vielleicht war's gut, daß der Sturm einmal da durchgefegt ist,« hörte Margarete den Kutscher bei der Arbeit halblaut zu dem andern sagen, während sie mit ihrem Vater und Tante Sophie bemüht war, die umgeworfenen Bilder wieder aufzurichten. »Da hinaus will's ja partout immer, das Unwesen! Ich hab's ja selbst einmal mit eigenen Augen gesehen – es müssen nun an die zehn Jahre her sein – wie die weiße Schleierwolke geradeswegs durch den Gang in die Ecke da schoß, als ging es direktement ins Freie 'naus – ja prosit! – da war die Welt mit Brettern verschlagen und das Schleierzeug zerflog und zerflatterte nur so an den Wänden – immer die nämliche Geschichte, seit die Frau tot ist und nicht in den Himmel kommen kann! … Nun ist aber da ein Luftloch gewesen, gerade weit genug, um so ein armes Weiberseelchen 'nauszulassen – das wär' gut für die Herrschaft, und ihr wollte ich die Ruhe auch gönnen. Verdient hat sie's freilich nicht; denn sie ist's doch gewesen, die ihren Liebsten 'rumgekriegt hat, daß er der ersten Frau sein Wort nicht halten durfte. An so einer Falschheit sind allemal die Weiber schuld, allemal!«

Der Zugwind trug jedes Wort deutlich herüber, und den stolzen Kommerzienrat mochte die Kritisierung seiner Vorfahren aus unberufenem Dienermund schwer ärgern – Margarete sah, wie er die geballte Hand hob, als wolle er den Sprecher züchtigen; aber er ließ es bei einem zornigen: »Vorwärts! sputet euch!« bewenden, worauf der Kutscher erschrocken die Leiter anlehnte und zu dem Fensterchen emporkletterte, das ebenfalls möglichst verbarrikadiert wurde.

Margarete verließ den Gang und trat für einen Moment in das nächste Fenster des Flursaales. Aus verschiedenen Fenstern des Vorderhauses fiel heller Lampenschein in den Hof, auf die sausenden Lindenwipfel und die spritzenden Wasser des Brunnens, und mit Schmerz sah das junge Mädchen, daß die steinerne Brunnennymphe über den vier wasserspeienden Röhren fehlte – der Sturm hatte auch sie herabgerissen, wie ein mächtiges Simsstück droben am Dache des spukhaften Flügels, über welche gähnende Lücke gerade ein breiter Lichtstreifen aus den oberen Flursaalfenstern hinlief. Droben wachte man auch.

Sie sah plötzlich ihren Vater neben sich stehen, während die beiden Männer mit ihrer Leiter geräuschvoll hinter ihnen weg nach dem Ausgange trabten. Er legte seine Hand schwer auf die Schulter der Tochter und zeigte empor nach dem unbeweglich auf dem Dach liegenden Lampenschein. »Das sieht so still aus inmitten des Aufruhrs, so stolz ruhig wie die Bewohner unserer vornehmen oberen Etage selbst … Wenn sie wüßten! – Morgen wird es einen Sturm da oben geben, einen Sturm, so wild wie der, unter welchem eben unser altes Haus in seinen Fugen bebt!«

Tante Sophie kam eben mit der Laterne um die Gangecke und da brach er kurz ab. »Auf morgen denn, mein Kind!« sagte er, dem jungen Mädchen die Hand drückend; dann nahm er die Lampe vom Büffett und zog sich in sein Zimmer zurück. – –

Nach Mitternacht legte sich der Sturm. Die Lichter in den Häusern der Stadt erloschen, und die geängstigte Bewohnerschaft suchte noch schleunigst die wohlverdiente Ruhe. Auch im Hause Lamprecht wurde es still; nur Bärbe warf den Kopf in ihren buntgewürfelten Bettkissen hin und her und konnte vor Aerger nicht schlafen – es war eben kein richtiges, festes Glauben und auch kein Verlaß mehr in der Welt. Nun schwatzten die beiden dummen Menschen, der Kutscher und Friedrich, der Herrschaft auch »nach dem Munde«, und behaupteten, die Bilder seien es gewesen und erst hatten sie doch kreideweiß in der Küche gesessen und heilig und teuer geschworen, daß das Pochen und Stampfen oben im Gange nichts anderes als Teufelsspuk sein könne. Aber nur Geduld – es kam schon noch, es kam! –

Am anderen Morgen war es förmlich kirchenstill in den Lüften. Die Sonne übergoß alles Trümmerwerk, von den durchlöcherten Türmen und Kirchendächern an bis zum niedergeworfenen Gartenstaket herab, mit warmem gleißenden Gold und lockte ein wahres Brillantengefunkel aus den Scherben und Splittern der zerschlagenen Fensterscheiben. Ja, der »Spektakelmacher« hatte viel Unheil angerichtet, und die Handwerker hatten für die nächste Zeit vollauf zu thun, um den Schaden gutzumachen.

Aus Dambach war auch beim Morgengrauen ein Bote mit Hiobsposten gekommen. Das Unwetter sollte die Fabrikgebäude dermaßen beschädigt haben, daß eine längere Betriebsstörung zu befürchten stand. Daraufhin war der Kommerzienrat in aller Frühe hinausgeritten. Er habe ganz frisch ausgesehen und auch erst in aller Ruhe seinen Kaffee getrunken, sagte Tante Sophie auf das ängstliche Befragen Margaretens hin, die noch geschlafen hatte. Freilich habe er eine Sorgenfalte zwischen den Augen gehabt; es sei ja auch keine Kleinigkeit, wenn die Fabrik stille stehe, und außerdem müsse tief in den Beutel gegriffen werden, schon allein der Reparaturen an den Hintergebäuden wegen, denn da sehe es beim Tageslicht geradezu gottheillos aus.

Margarete trat auf die Thürstufen des Seitenflügels hinaus und überblickte den verwüsteten Hof, und in diesem Augenblick kam auch der Herr Landrat, gestiefelt und gespornt, und die Reitgerte in der Hand, vom Norderhause her und ging nach den Pferdeställen. Ob er den alten Mann in der That nicht bemerkte, oder ob auch für ihn das Prinzip im Vorderhause galt, nach welchem das Dasein der Packhausbewohner möglichst ignoriert wurde, genug, er trat unter die Stallthüre, ohne die höfliche Begrüßung des Malers Lenz zu erwidern, der in der Nahe des Brunnens stand.

Der alte, weißhaarige Mann war, wie es schien, lediglich über den das ganze Packhaus absperrenden Trümmerhaufen geklettert, um die Bruchstücke der zerschlagenen Brunnennymphe zusammenzusuchen. Er hatte eben den Kopf des Steinbildes aus dem Grase aufgenommen, als Margarete zu ihm trat und ihm mit herzlichem Gruße die Hand hinstreckte. – Sie hatte ihn ja immer lieb gehabt, den stets heiteren, lebensfrohen, greisen Künstler, der mit so gutem, treuem Auge durch seine Brillengläser in die Welt sah; und heute noch stand ihr jener Moment vor der Seele, wo sie sich als Kind in ihrer trostlosen Verlassenheit mit dem wonnigen Gefühl des Geborgenseins an seine Brust geschmiegt hatte. Das vergaß sie nie.

Er freute sich wie ein Kind, sie wiederzusehen, und versicherte fröhlich auf ihre teilnehmenden Fragen nach seiner erkrankten Frau, daß daheim alles wieder wohlauf und zufrieden sei, wenn auch augenblicklich das Dach über dem Haupte fehle. Der Sturm habe schlimm gehaust, seine ruchloseste That sei aber doch die Zertrümmerung der Brunnennymphe, eines seltenen Kunstwerkes, das immer sein Augapfel gewesen sei. Und nun sprach er über die köstlichen Linien des Nymphenkopfes in seinen Händen und über verschiedene berühmte weibliche Statuen der antiken Welt, ein Thema, auf welches Margarete lebhaft einging, um so mehr, als der alte Mann ein ausgezeichnetes Kunstverständnis an den Tag legte … Und währenddem war der Landrat wieder in der Stallthüre erschienen; er hatte das junge Mädchen von dorther gegrüßt, und nun ging er wartend langsam unter den Linden auf und ab.

Margarete hatte seinen Gruß nur mit einem flüchtigen Kopfnicken erwidert – die Art und Weise, mit welcher sich der hochmütige Büreaukrat dort isolierte, empörte sie – nun, er brauchte ja auch für sie nicht da zu sein. Im Gespräch weiter gehend, begleitete sie den alten Maler durch den Hof nach dem Packhaus; dort sprang sie auf den Trümmerhaufen und hielt dem mühsam Hinaufkletternden helfend beide Hände hin. So leicht sie war, das locker übereinander geworfene Bollwerk krachte und wich doch unter ihren Füßen, und jeder noch so vorsichtige Tritt des alten Mannes brachte es in schütternde Bewegung.

Jetzt kam auf einmal Leben in die statuenhaft ruhige Erscheinung des Landrats. Er warf seine Reitgerte auf den Gartentisch und eilte in förmlichem Sturmschritt nach den Trümmern. Schweigend stieg er auf das nächste Balkenstück und reckte die Arme empor, um die Schwankende zu stützen und ihr herabzuhelfen.

»Ei beileibe nicht, Onkel! Du riskierst die Nähte deiner neuen Handschuhe!« rief sie mit einem halben Lächeln und den Kopf nur wenig nach ihm zurückwendend, während ihre Augen gespannt die letzte Anstrengung des alten Mannes verfolgten, der eben drüben glücklich den Boden erreichte. »Adieu, Herr Lenz!« rief sie ihm in warm herzlichem Tone zu, dann trat sie einen Schritt seitwärts und flog wie eine Feder über die emporstarrenden Holzstücke hinweg auf die Erde nieder.

»Das war eine unnütze Bravour, die schwerlich jemand bewundern dürfte,« sagte der Landrat frostig, indem er ein herabgefallenes kleines Lattenstück von seinem Fuße schüttelte.

»Bravour?« wiederholte sie ungläubig. »Denkst du wirklich an Gefahr dabei? – Hier unten erdrückt das morsche Bretterwerk niemand mehr.«

Seine Augen streiften seitwärts ihre zarte, biegsame Gestalt. »Es käme darauf an, wer zwischen diese nägelgespickten Trümmer geriete –«

»Ah, danach zählst du den guten alten Maler zu den körperlich und moralisch Unverwundbaren? Du rührtest weder Hand noch Fuß, ihm herüberzuhelfen, so wenig wie du vorhin seinen höflichen Morgengruß erwidert hast.«

Er sah fest und prüfend in ihre Augen, die in bitterer Gereiztheit flimmerten. »Das Grüßen ist wie Scheidemünze; es geht von Hand zu Hand und bleibt an keinem Finger hängen,« entgegnete er ruhig. »Wenn du also glaubst, beschränkter Hochmut hindere mich, einen Gruß zu erwidern, so irrst du – ich habe den Mann nicht gesehen –«

»Auch nicht, als er dort neben mir stand?«

»Du meinst, ich hätte hinzutreten und auch mein Gutachten über den Nymphentorso abgeben sollen?« unterbrach er sie und ein Lächeln flog um seinen Mund. »Möchtest du wirklich, daß sich der, welchem du ja nicht oft genug den ehrwürdigen Onkeltitel geben kannst, in seinen alten Tagen blamiere? … Ich verstehe nichts von diesen Dingen, und wenn ich mich auch dafür interessiere, so habe ich doch nie Zeit gehabt, mich eingehend damit zu beschäftigen.«

»O, Zeit und Lust genug, Onkel!« lachte sie. »Ich weiß noch genau, wie dort unter den Küchenfenstern – sie zeigte nach dem Vorderhause – ein großer Junge stand, die Taschen voll Kiesel, und stundenlang die arme Brunnennymphe mit den hübschen, runden Steinchen bombardierte –«

»Ach sieh – so giebt es doch noch eine Zeit in deiner Erinnerung, wo auch ich jung für dich gewesen bin –«

»›Ursprünglich‹ willst du sagen, Onkel! – Eine Zeit, wo der Diplomatenfrack noch nicht die möglichste Reserve auferlegte, wo der Kletterbaum nur als Nebelbild in weiter Ferne dämmerte; eine Zeit, wo Glut und Leidenschaft in deinen Augen flammten und deine Hand regierten – ich hab's empfunden, dort!« – Sie deutete nach der Gartenmöbelgruppe unter den Linden. – »Gott weiß, in welcher Ecke sie jetzt unbeachtet zerfällt, die weiße Rose, um welche damals mit einer Erbitterung, einem Feuer gekämpft wurde, als sei sie das schöne, blonde Mädchen unter den Aristolochiabogen selbst!«

Sie sah mit Genugtuung, wie er wiederholt sich verfärbte. Von all denen, die den Herrn Minister in spe, den zukünftigen Verwandten des Fürstenhauses umschmeichelten, hätte es gewiß keiner gewagt, ihn an diese »Jugendtollheit« zu erinnern – sie that es mit Freuden. Er mußte sich schämen, wenn er jene erste enthusiastische Liebe mit seiner heutigen Selbstsucht und Herzensverknöcherung verglich.

Aber eigentlich beschämt oder bestürzt sah er doch nicht aus. Er wandte sich ab und überblickte den verwüsteten Gang des Packhauses, der einst mit seinem üppig wuchernden grünen Pflanzenschmuck das schönste Mädchenbild umrahmt hatte. Wie ein Zauberspuk war alles verschwunden. Das Rankengeflecht hatte das stürzende Dach mit heruntergerissen und bis auf das kleinste Blättchen unter dem grausen Scherben- und Splittergemenge begraben, und das Mädchen? – Seit sie damals durch das Thor des Packhauses in die weite Welt gegangen, hatte kein Menschenauge sie wiedergesehen, niemand wieder von ihr gehört.

»Fata Morgana!« sprach er halblaut vor sich hin, wie in die Erinnerung von damals verloren. Er hatte vorhin bei Erwähnung des Kletterbaumes leise gelächelt, und auch jetzt spielte derselbe Zug um seine Lippen, während ein leichtes Rot in seine Wangen stieg. »Die Rose nicht allein, auch eine blaue Seidenschleife, die der Wind von dem blonden Haar in den Hof herabgeweht hatte, und einige achtlos über das Ganggeländer geworfene, bekritzelte Papierschnitzel liegen noch als treubehütete Reliquien in der Brieftasche von damals bei einander,« sagte er, halb und halb ironisierend, und doch bewegt. Er schüttelte den Kopf. »Daß du dich des Vorfalles noch erinnerst!«

Sie lachte. »Wunderbar ist das doch nicht! Ich habe mich in jenem Moment vor dir und deiner stummen, bleichen Wut gefürchtet – so etwas vergißt ein Kind so wenig, wie einen Akt der Willkür, gegen den sich sein Gerechtigkeitsgefühl empört. Der große Herr Primaner hatte stets gegen Raub und Diebstahl gedonnert, wenn die Finger der ›naschhaften Grete‹ mit dem Obstteller der Großmama verstohlen in Berührung gekommen waren, und da griff er nun selbst heimlich wie ein Dieb nach dem Eigentum der schönen Blanka und ließ es in der Brusttasche verschwinden.«

Jetzt lachte auch er. »Und seit jenem Moment bist du meine Widersacherin –«

»Nein, Onkel, du hast ein schlechtes Gedächtnis. Gut Freund sind wir ja nie gewesen, auch vorher nicht. Du hast die Erstgeborne deiner Schwester nie leiden können, und ich habe dich konsequenterweise rechtschaffen dafür geärgert. Diese Rechnung ist stets ehrlich und redlich ausgeglichen worden.«

Seine Stirn hatte sich, während Margarete sprach, verfinstert und auch jetzt blieb er ernst. »Das wäre mithin abgemacht gewesen,« sagte er; »trotzdem bist du beflissen, jetzt erst recht Abrechnung mit mir zu halten –«

»Jetzt, wo ich mich eifrig bemühe, dich nach Titel und Würden streng zu respektieren?« Sie zuckte lächelnd die Schultern. »Wie es scheint, nimmst du mir den Fürwitz übel, mit welchem ich dich an die rosa blanca erinnert habe; und du hast ja auch recht, es war übereilt und nicht gerade taktvoll. Aber es ist seltsam; seit ich vorhin mit dem alten Mann gesprochen habe, steht mir ein verhängnisvoller Tag meiner Kindheit so lebhaft vor Augen, daß ich die Erinnerung nicht los werde. Da habe ich die Malerstochter zum letztenmal gesehen – sie war blaß und verweint, und das starke, blonde Haar hing ihr aufgelöst über den Rücken … Ich habe, von klein auf eine fast närrische Schwäche für Mädchenschönheit gehabt – die lebendigen schlanken Griechenmädchen haben mich zum Aerger des Onkels ebenso interessiert, wie die ausgegrabenen Götterbilder, und in Wien bin ich einer schönen Serbin durch Gassen und Straßen nachgelaufen; und doch haben mir alle diese späteren Erscheinungen das Bild von Blanka Lenz nicht verdrängen können … Die Frage nach ihr schwebte mir vorhin auf den Lippen, trotzdem schwieg ich; mir war plötzlich, als müßte ich ihrem Vater mit dem Tochternamen wehe thun. Das Mädchen ist so völlig verschollen – ich glaube, niemand in unserem Hause weiß, was aus ihr geworden ist, oder – ?« Sie verstummte und sah ihn schelmisch beredt von der Seite an.

»Ich weiß es auch nicht, Margarete,« versicherte er mit Humor. »Seit jenem Morgen, wo sie abgereist ist, und ›der große Herr Primaner‹ in seiner wilden Verzweiflung erwog, ob wirklich das Leben des Weiterlebens noch wert, oder ein Schuß ins Herz vorzuziehen sei, habe ich nie wieder von ihr gehört. Aber es ist mir ergangen wie dir, ich habe sie nicht vergessen können, lange, lange nicht, bis plötzlich – die Rechte gekommen ist; denn das war sie trotz alledem nicht gewesen.«

Margarete sah bestürzt zu ihm auf – das klang so wahr, so aus tiefster Ueberzeugung heraus, daß ihr auch nicht der geringste Zweifel an der Echtheit seiner Gesinnung blieb. Er liebte diese Heloise von Taubeneck wirklich. Nicht um seiner Karriere willen strebte er nach ihrer Hand, wie die böse Welt behauptete – nein, er würde auch um sie werben, wenn sie die Malerstochter wäre … Der Papa hatte doch recht gehabt mit seiner Versicherung, daß Herbert bei all seinem brennenden Ehrgeiz, seinem energischen Emporstreben dennoch die krummen Wege verschmähe …

Mittlerweile war der Hausknecht wiederholt unter der Stallthüre erschienen, und jetzt winkte der Landrat ihm zu. Sein Pferd wurde herausgeführt, und er schwang sich hinauf.

»Du reitest nach dem Prinzenhofe?« fragte Margarete, indem sie ihre Hand in seine Rechte legte, die er ihr vom Pferde herab noch einmal bot.

»Nach dem Prinzenhof und weiter,« bestätigte er. »Nach der Richtung hin hat der Sturm schlimm gehaust, wie mir gemeldet wurde.« Mit sanftem Druck entließ er die Hand, die er bis dahin festgehalten, und ritt davon.

Margarete blieb unwillkürlich stehen und sah ihm nach, bis er seitwärts hinter dem Thorpfeiler des Vorderhauses verschwunden war. Sie hatte ihm unrecht gethan, und, was noch schlimmer war, sie hatte diesen falschen Standpunkt ihm gegenüber wiederholt in verletzender Weise betont – das war peinlich … Und er liebte sie wirklich, diese kühle, dicke, pomadige Heloise, den ausgesprochenen Gegensatz der graziösen Libelle, die einst dort unter dem grünen Blätterbehang gegaukelt! Unbegreiflich! Aber Tante Sophie hatte recht. »Ja, wo die Liebe hinfällt!« sagte sie stets achselzuckend, wenn sie von dem »Weltwunder« sprach, daß sich nämlich wirklich und wahrhaftig einer vorzeiten in ihre große Nase verliebt habe … Mit nachdenklich gesenkter Stirn ging sie langsam nach der Thüre des Seitenflügels zurück. Da, im Grase neben dem Brunnenbecken lag das abgeschlagene Händchen der Nymphe. Sie hob es auf, und beim Anblick der charakteristischen Form mußte sie an die verschiedenen Hypothesen des alten Malers bezüglich des antiken Originales der Statue denken – aber auch nur einen Moment; dann verschleierten sich ihre Augen wieder hinter den Wimpern, und wie traumverloren stieg sie die Thürstufen hinauf – das interessanteste Problem war und blieb doch – die Menschenseele!


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