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Eines Abends hörte Agnes eine Kutsche vor ihrer Tür stillhalten – sie ist's und niemand anders! – Sie war es mit der guten Witwe wirklich; die wechselseitigen Bewillkommnungen stelle sich der Leser vor.
Des nächsten Morgens langt Renzo bei guter Zeit, des Vorgefallenen unkundig und ohne andere Absicht an, als um über das lange Ausbleiben Luciens gegen Agnes ein wenig sein Herz auszuschütten. Die Gebärden, die er machte, und die Dinge, die er sagte, als er sie vor sich sah, bleiben ebenfalls der Einbildungskraft des Lesers anheimgestellt. Luciens Verhalten gegen ihn war derart, daß nicht viel dazu gehört, um es zu schildern. »Ich grüße dich, wie geht es dir?« sagte sie mit gesenkten Augen und ohne sich zu verwirren. Und man glaube nicht etwa, daß Renzo diesen Empfang für zu kalt gehalten und übelgenommen hätte. Er sah die Sache von der rechten Seite an, und, wie man unter Leuten von Erziehung weiß, was man auf hergebrachte Höflichkeiten zu geben hat, also wußte er sehr wohl, was unter diesen Worten zu verstehen war. Übrigens war es leicht wahrzunehmen, daß sie zweierlei Arten zu sprechen hatte, die eine für Renzo und eine andere für alle Leute, die sie sonst kannte.
»Es geht mir gut, wenn ich dich sehe«, erwiderte der Jüngling wie mit einer gedruckten Redensart, die er aber in dem Augenblicke erfunden haben würde.
»Unser armer Pater Cristoforo!« ... sagte Lucia, »bete für seine Seele; obwohl wir fast gewiß sein können, daß in dieser Stunde er dort oben für uns betet.«
»Ich sah es leider so kommen«, sagte Renzo. Auch war dies nicht die einzige Saite traurigen Klanges, die in dieser Unterredung angeschlagen wurde. Aber was tat es? welchen Gegenstand man auch berührte, das Gespräch war für ihn immer genußreich. Jenen stätigen Pferden gleich ging es ihm, die plötzlich zurückfahren und sich hinpflanzen, und erst einen Fuß und dann wieder einen aufheben und sie zurück auf dieselbe Stelle setzen, und tausenderlei Umstände machen, ehe sie einen Schritt tun, und dann ganz auf einmal in den schnellsten Lauf geraten, fast als würden sie vom Winde davongetragen; im Anfang schienen ihm die Minuten Stunden, jetzt schienen ihm die Stunden Minuten zu sein.
Die Witwe störte nicht nur die Gesellschaft nicht, sondern paßte sogar vortrefflich hinein, und als Renzo sie auf dem elenden Lager sah, würde er sich nimmermehr eingebildet haben, daß sie von so munterer und geselliger Laune sein könnte. Aber Lazarett und Land, Tod und Hochzeit sind auch keinesweges eines und dasselbe. Mit Agnes hatte sie schon Freundschaft geschlossen; mit Lucia aber war es ein Vergnügen, sie, zärtlich und scherzhaft zugleich, zu sehen, und wie gefällig sie, ohne ihr eben Zwang anzutun, sie gerade nur genugsam aufregte, um ihrem Wesen und ihren Worten mehr Seele einzuflößen.
Renzo sagte am Ende, er ginge zu Don Abbondio, um die Abrede wegen der Trauung mit ihm zu treffen. Er ging und sagte zu ihm mit einem gewissen ehrerbietig scherzenden Wesen: »Herr Pfarrer, ist Ihnen denn nun wohl das Kopfweh vergangen, weswegen Sie uns nicht trauen konnten, wie Sie sagten? Gegenwärtig ist unsere Zeit gekommen, die Braut ist da, und ich bin hier, um zu hören, wann es Ihnen gelegen wäre, nur muß ich Sie diesmal bitten, schnell zu machen.«
Don Abbondio antwortete zwar nicht gerade, er wolle nicht; aber er fing an, sich lange zu besinnen, gewisse Entschuldigungen auszukramen, auf gewisse Abschweifungen zu geraten; warum er sich denn auch so unter die Leute bringen und, mit jenem Steckbrief auf dem Halse, seinen Namen ausposaunen lassen wollte? Die Sache könnte ja anderwärts ebensogut vor sich gehen, und was dem sonst noch alles weiter war.
»Ich habe verstanden«, sagte Renzo. »Ein klein wenig von dem Kopfweh haben Sie doch immer noch. Aber hören Sie, hören Sie einmal.« Und er fing an zu beschreiben, in welchem Zustande er den armen Don Rodrigo gesehen hatte, und daß er zu dieser Stunde sicherlich schon verschieden sein müßte. »Lassen Sie uns hoffen,« beschloß er, »daß der Herr sich seiner erbarmt haben möge.«
»Das hat gar nichts mit uns zu schaffen«, sagte Don Abbondio. »Habe ich etwa nein zu Euch gesagt? Ich sage nicht nein, ich, ich spreche ... ich spreche so aus guten Gründen. Übrigens, seht Ihr, so lange der Mensch noch einen Atemzug tut ... Schaut mich einmal an, was für ein armer kränklicher Mann ich bin, ich bin ja wahrlich auch schon mehr drüben als hüben gewesen, und dennoch steh ich hier, und ... wenn ich sonst nicht etwa wieder heimgesucht werde ... ei, ... so kann ich hoffen, es noch ein Weilchen zu treiben. Und nun stellt Euch doch nur einmal gewisse Leibesbeschaffenheiten vor. Aber, wie ich sage, das hat ganz und gar nichts mit uns zu schaffen.«
Nachdem sie weiter noch einige Worte miteinander gewechselt hatten, bei denen ebensowenig herauskam, machte Renzo einen schönen Kratzfuß, ging zu den Seinigen zurück, stattete seinen Bericht ab und sagte schließlich: »Ich habe mich fortgemacht, weil es mir bis obenan stand, und weil ich es nicht darauf ankommen lassen wollte, die Geduld zu verlieren und was Dummes zu sagen. In manchen Augenblicken schien er wieder ganz der Alte zu sein, gerade dieselben Mucken, dieselben Ausflüchte: ich weiß gewiß, daß, wenn es noch ein wenig so fortging, er mir wieder mit lateinischen Brocken angerückt kam. Ich sehe ein, daß es sich abermals in die Länge ziehen will, es ist besser, geradezu das zu tun, was er sagt, und hinzugehen und sich da trauen zu lassen, wo man leben wird.«
»Wißt ihr, was wir tun?« sagte die Witwe; »wir Frauen wollen doch auch unserseits einen Versuch machen und zusehen, ob es uns nicht besser glückt, der Verlegenheit abzuhelfen. So habe ich dann doch auch das Vergnügen, den Mann kennenzulernen, ob er wirklich so ist, wie ihr sagt. Nach Mittag wollen wir gehen, um ihm nicht sogleich wieder über den Hals zu kommen. Jetzt, Herr Bräutigam, führt Ihr uns beide ein wenig spazieren, unterdes Agnes ihre Geschäfte besorgt; ich werde Lucia bemuttern. Ich habe doch Lust, diese Berge, diesen See, von dem ich so viel habe reden hören, einmal näher in Augenschein zu nehmen; das Wenige, was ich schon davon gesehen, scheint etwas gar zu Schönes zu sein.«
Renzo führte sie zunächst nach dem Hause seines Wirtes, wo es denn ein anderes Fest gab, und sie ließen sich von ihm versprechen, daß er nicht allein diesen Tag, sondern, wenn er könnte, alle Tage käme und in Gesellschaft mit ihnen zu Mittag äße.
Gleich nachdem sie gelustwandelt und gegessen hatten, entfernte sich Renzo, ohne zu sagen, wohin er ginge. Die Frauen plauderten noch ein Weilchen miteinander und verabredeten, wie sie Don Abbondio fassen wollten, und brachen endlich zum Angriff auf.
– »Da sind sie«, – sagte er bei sich; machte aber gute Miene; beglückwünschte Lucia mit großen Freudenbezeigungen, begrüßte Agnes und bewillkommnete die Fremde mit Höflichkeit. Er ließ sie dann sich niedersetzen und vertiefte sich in das große Gespräch von der Pest; wollte von Lucia hören, wie sie das Elend überstanden hätte; das Lazarett bot Gelegenheit dar, auch die ihre Gefährtin gewesen, sprechen zu lassen; alsdann, wie billig, sprach Don Abbondio auch von seiner Gefahr, und darauf freute er sich mit Agnes, daß sie so glücklich davongekommen sei. Die Sache zog sich in die Länge; gleich vom ersten Augenblicke an standen die beiden Alten auf der Lauer, um den rechten Augenblick wahrzunehmen, zur Hauptsache zu kommen; am Ende brach dann die eine, ich weiß nicht welche von beiden, das Eis. Aber was will man? Don Abbondio hörte auf dem Ohre nicht. Und, ei bewahre! er sagte keineswegs nein, aber siehe da! wie er, wieder auf seinen alten Sprüngen, sich zu wenden und zu drehen weiß und Ausflüchte sucht und von dem Hundertsten aufs Tausendste gerät. »Man müßte,« sprach er, »zuvor doch den garstigen Steckbrief sich vom Halse schaffen. Sie, meine werte Frau, die von Mailand sind, werden die Sache am besten einzufädeln wissen; Sie werden angesehene Gönner haben, einen oder den anderen mächtigen Edelmann; denn mit solchen Mittelchen heilt man jede Wunde zu. Wenn man aber freilich den allerkürzesten Weg einschlagen wollte, ohne sich auf so vielerlei Geschichten einzulassen, und die jungen Leute und unsere Agnes da haben ja ohnedies die Absicht, auszuwandern – wozu ich weiter nichts zu sagen weiß, als: da, wo es mir wohl ergeht, ist mein Vaterland –, so hielte ich dafür, daß man das alles eher dort abmachen könnte, wo man keinen Steckbrief wider sich hat. Ich kann es in der Tat zwar kaum erwarten, daß die Heirat abgeschlossen wird, aber ich möchte sie doch so gern auch ungestört und friedlich abgeschlossen sehen. Die Wahrheit zu gestehen: hier, so lange noch der Verhaftsbefehl da gültig ist, den Namen Lorenzo Tramaglino vom Altar herab laut und vernehmlich auszusprechen, das könnte ich nicht mit ruhigem Herzen tun, ich habe ihn zu lieb dazu; ich würde mich fürchten, ihm damit einen schlimmen Dienst zu leisten. Sehen Sie wohl, nun seht Ihr wohl.«
Hier fing denn bald Agnes, bald die Witwe an, diese Gründe zu bekämpfen; aber Don Abbondio brachte sie immer unter anderer Gestalt wieder vor, so daß man nicht vom Flecke kam, bis auf einmal raschen Schrittes und mit einer Neuigkeit auf dem Gesicht Renzo eintrat und sagte: »der Herr Marchese *** ist angekommen.«
»Was soll das heißen? Angekommen, wo?« fragte Don Abbondio und stand auf.
»Er ist auf seinem Schlosse angekommen, das Don Rodrigo angehörte; denn dieser Herr Marchese ist sein Fideikommißerbe, wie sie sagen; so daß nicht weiter daran zu zweifeln ist. Was mich anlangt, ich wollte mich freuen, wenn ich erfahren könnte, daß der arme Mann gut gestorben wäre. Ich habe bis jetzt immer im voraus Paternoster für ihn gebetet, nunmehr will ich De profundis für ihn beten. Und dieser Herr Marchese ist ein braver Mann.«
»Ganz gewiß,« sagte Don Abbondio; »ich habe ihn mehr wie einmal als einen wahrhaft wackeren Herrn, als einen Mann von altem Schrot und Korn nennen hören. Aber wenn es nur auch wirklich wahr ist?«
»Glauben Sie dem Sakristan?«
»Wieso?«
»Weil der ihn mit seinen eigenen Augen gesehen hat. Ich bin nur dort in der Gegend herum gewesen, und, die Wahrheit zu sagen, bin ich eben deshalb hingegangen, weil ich gedacht habe, dort müßte man doch irgend etwas wissen. Und mehr als einer oder zwei haben mir die Sache erzählt. Alsdann bin ich Ambrogio begegnet, der gerade von oben herunterkam und ihn, wie ich sage, als Gebieter schalten und walten gesehen hat. Wollen Sie ihn hören, den Ambrogio? Ich habe ihn deshalb absichtlich hier draußen warten lassen.«
»So laßt uns hören«, sagte Don Abbondio.
Renzo holte den Sakristan. Dieser bestätigte die Sache Punkt für Punkt, fügte noch andere besondere Umstände hinzu, löste alle Zweifel und ging darauf seines Weges.
»Ah! er ist also tot! er ist wirklich abgefahren!« rief Don Abbondio aus. »Seht, Kinder, ob am Ende die Vorsehung gewisse Leute erreicht. Wißt ihr wohl, daß das eine große Sache ist! Eine gar große Erleichterung für diese arme Gegend! Da hier doch mit dem da gar nicht auszukommen war. Sie ist eine große Plage gewesen, diese Pest; aber sie ist hinwiederum auch ein Besen gewesen, hat gewisse Menschen hinweggefegt, die wir sonst nicht mehr los geworden wären, jung, gesund und frisch, so daß, mußte man wohl sagen, derjenige, der sie dereinst hätte zur Erde bestatten sollen, noch im Seminar saß und sein Latein lernte. Und im Umsehen sind sie verschwunden. Hunderte auf einmal. Nun werden wir ihn nicht mehr mit jenen Eisenfressern hinter sich drein, mit dem Hochmute, mit der Üppigkeit, mit dem Pfahl im Leibe herumstolzieren und die Leute anglotzen sehen, so daß es schien, als wenn alle nur durch seine Gnade auf der Welt wären. Und so ist denn, nun er nicht mehr zugegen, sind wir doch noch immer da. Jetzt wird er ehrlichen Leuten nicht wieder mit solchen Botschaften kommen. Er hat uns allen eine große Not gemacht, seht ihr wohl: jetzt können wir es sagen.«
»Ich habe ihm von Herzen vergeben«, sagte Renzo.
»Und du tust wohl daran, es ist deine Pflicht«, erwiderte Don Abbondio. »Man kann aber auch dem Himmel danken, daß er uns von ihm befreit hat. Und um denn nun wieder auf uns zu kommen, so sage ich Euch, tut Ihr, was Ihr für gut befindet. Wenn Ihr wollt, daß ich Euch trauen soll, so bin ich bereit; ist es Euch anderswo gelegener, gut, wie Ihr meint. Was den Steckbrief betrifft, so sehe ich freilich auch ein, daß, da im Grunde niemand mehr vorhanden ist, der Euch auf dem Korne hat und Euch Übel will, man sich eben nicht allzu viele Sorge darum machen muß, da ja außerdem jener gnädige Erlaß wegen der Geburt des durchlauchtigsten Infanten vermittelnd dazugekommen ist. Und dann die Pest! die Pest! Sie hat große Dinge ausgeglichen, diese Pest! Also denn, wenn Ihr wollt ... heute ist Donnerstag. Sonntag biete ich Euch in der Kirche auf, denn was man ehemals hat tun können, gilt nach so langer Zeit nicht mehr, und alsdann habe ich die Freude, Euch zu trauen.«
»Sie wissen, daß wir eben deswegen hergekommen waren«, sagte Renzo.
»Ganz gut, und ich werde Euch dienen, und ich will Seiner Eminenz gleich Nachricht davon geben.«
»Wer ist Seine Eminenz?« fragte Agnes.
»Seine Eminenz,« antwortete Don Abbondio, »ist unser Herr Kardinal Erzbischof, den Gott erhalte.«
»O, da verzeihen Sie mir,« entgegnete Agnes, »denn, wiewohl ich eine arme unwissende Frau bin, so kann ich Ihnen doch versichern, daß man ihn nicht so nennt: denn als wir zum anderenmal mit ihm zu sprechen kamen, wo ich hier mit Ihnen spreche, zog mich einer der Herren Priester beiseite und belehrte mich, wie man mit dem Herrn umgehen, und daß man zu ihm Ihre Gnaden und hochwürdiger Herr sagen müsse.«
»Und gegenwärtig, wenn er Euch wiederum unterrichten sollte, würde er Euch sagen, daß man ihm die Eminenz gibt, versteht Ihr mich? Denn der Papst, den Gott ebenfalls erhalten wolle, hat im Monat Juni vorgeschrieben, daß den Kardinälen dieser Titel zu geben sei. Und wißt Ihr, weshalb er zu dieser Entschließung gekommen sein wird? Weil das Gnaden, das ihnen und gewissen Fürsten zukam, jetzt nun, Ihr seht ja selber, was geworden ist, wie vielen gegeben wird, und wie sind sie doch darauf erpicht! Und was wolltet Ihr auch machen? Es etwa allen nehmen? Beschwerden, Groll, Jammer, Verdruß, und zum Überfluß alles beim Alten. Drum also hat der Papst eine treffliche Auskunft gefunden. Allmählich wird man hernach anfangen, die Bischöfe Eminenz zu nennen; dann werden es die Äbte, dann die Pröpste haben wollen: wie denn nun die Menschen eben sind; sie wollen immer höher, immer höher; dann die Domherren ...«
»Und die Pfarrer?« sprach die Witwe.
»Nein, nein,« versetzte Don Abbondio; »die Pfarrer müssen den Karren ziehen; habt keine Furcht, daß sie die Pfarrer verwöhnen, sie bleiben Ehrwürden bis an das Ende der Welt. Vielmehr sollte es mich nicht wundern, wenn die Edelleute, die sich daran gewöhnt haben, sich Ihre Gnaden nennen zu hören, wie Kardinäle behandelt zu werden, eines Tages auch für sich die Eminenz verlangten. Und wenn sie sie erst verlangen, seht Ihr, so finden sie auch jemand, der sie ihnen gibt. Und alsdann wird der Papst, den es alsdann geben wird, sich irgend etwas anderes für die Kardinäle ausdenken. Wohlan, nun aber kommen wir auf unseren Fall zurück: Sonntag biete ich Euch in der Kirche auf, und wißt Ihr, was ich mir inzwischen ausgesonnen habe, um Euch desto besser dienlich zu sein? Indessen suchen wir den Erlaß für die beiden anderen Male nach. Sie werden da unten in der Kurie gehörig viel mit Erlaßausteilen zu tun haben, wenn es allenthalben so wie hier geht. Zum Sonntag habe ich ihrer schon ... eins ... zwei ... drei, Euch ungerechnet, und es kann noch immer eins und das andere dazu kommen. Und dann in der Folge werdet Ihr sehen, es hat Feuer gefangen, es wird nicht einer ledig bleiben. Perpetua hat wahrlich einen dummen Streich gemacht jetzt zu sterben; sie fände diesmal auch noch ihren Käufer. Und in Mailand, liebe Frau, bilde ich mir ein, daß es ebenso zugehen wird.«
»Auf ein Haar: stellen Sie sich einmal vor, allein in meinem Kirchspiel vergangenen Sonntag fünfzig Trauungen.«
»Ich sage es ja, die Welt will nicht aussterben. Und Ihnen, liebe Frau, hängt der Himmel Ihnen denn nicht auch schon von solchen Geigen voll?«
»Nein, nein, ich denke nicht daran, ich will nicht daran denken.«
»Ja, ja, Sie werden auch die einzige sein sollen. Auch Agnes, sehen Sie doch, Agnes auch ...«
»Uf! Sie haben Lust zu lachen«, sagte diese.
»Ganz gewiß, daß ich Lust zu lachen habe, und mich dünkt, es sei am Ende Zeit. Wir haben schlimme Dinge überstanden, nicht? Ihr jungen Leute, schlimme Dinge haben wir überstanden; diese paar Tage, die wir noch zu leben haben, steht zu hoffen, werden doch etwas weniger trübselig sein. Aber! Ihr seid glücklich zu preisen, die Ihr, wenn Euch kein neues Unglück betrifft, noch eine gute Weile von den vergangenen Drangsalen zu reden habt! Ich armer, alter Mann ... Die Schurken können sterben ... von der Pest kann man genesen; aber gegen das Alter gibt es kein Mittel, und, so wie es heißt: senectus ipsa est morbus.«
»Jetzt meinethalben,« sagte Renzo, »sprechen Sie nur Latein, so viel Sie wollen, ich habe nichts dawider.«
»Hast du es noch immer auf das Latein abgesehen; gut, gut, ich will dich schon kriegen, und wenn du dann mit dieser Dirne hier vor mich hintreten wirst, und so gewisse Wörtlein auf lateinisch gar gern von mir sagen hören möchtest, so werde ich zu dir sagen: Latein willst du nicht, geh du in Frieden hin. He?«
»Ach! ich weiß, was ich sage,« hob Renzo wieder an; »es ist nicht das Latein da, das mir Furcht macht: das ist ein echtes, hochheiliges Latein, so wie das der Messe ist, und Sie müssen von dem da ja auch lesen, was in dem Buche steht. Ich spreche von dem schurkischen Latein, außer der Kirche, das heimtückischerweise im besten Gespräch über einen herfällt. So zum Beispiel, da wir nunmehr hier sind, da alles gut ist, übersetzen Sie mir einmal auf gut Italienisch das Latein, das Sie eben auf dieser Stelle, in diesem Winkel auspackten, um mir zu verstehen zu geben, Sie könnten nicht, und es gehörte noch etwas anderes dazu, was weiß ich.«
»Schweig still, Possenreißer, schweig still, rühre die Geschichten nicht wieder auf; denn wenn wir jetzt unsere Rechnung abschließen wollten, so weiß ich nicht, wer etwas gut hätte. Ich habe alles vergeben, sprechen wir nicht mehr davon; Ihr habt mir aber einmal Streiche gespielt. Von dir nimmt es mich gar nicht wunder, denn du bist ein gewaltiger Spitzbube; aber von dem stillen Wässerchen hier, sage ich, von der kleinen Heiligen, an der man geglaubt hätte, sich zu versündigen, wenn man Mißtrauen in sie gesetzt. Ich weiß aber auch wohl, wer sie unterwiesen hatte, weiß es, weiß es schon.«
Bei diesen Worten richtete er den Zeigefinger, mit dem er vorher auf Lucia gewiesen hatte, gegen Agnes und bewegte ihn zitternd hin und her, und es würde sich nicht beschreiben lassen, mit welcher Treuherzigkeit, mit welch spaßhafter Laune er diese Vorwürfe machte. Jene Nachricht hatte ihm eine Ungezwungenheit, eine Redseligkeit mitgeteilt, die man an ihm seit geraumer Zeit nicht gewohnt war, und wir würden noch lange nicht am Ende sein, wenn wir den ganzen übrigen Teil dieser Unterhaltung mitteilen wollten, die er verlängerte, indem er die Gesellschaft mehr als einmal, wenn sie darauf und daran war fortzugehen, zurückhielt und hernach auch an dem Ausgange nach der Straße zu noch ein wenig stehenblieb und nichts als Narrenpossen trieb.
Am nächstfolgenden Tage langte ein ebenso unerwarteter als angenehmer Besuch bei ihm an: der Herr Marchese, von dem die Rede gewesen war, ein Mann zwischen dem Mannes- und dem Greisenalter, dessen Anblick gleichsam ein Siegel dessen, was der Ruf von ihm sagte: offen, wohlwollend, sanftmütig, bescheiden, würdevoll, und eine gewisse, in Ergebung gefaßte Betrübnis kundgebend.
»Ich komme,« sagte er, »Sie vom Kardinal Erzbischof zu grüßen.«
»Oh, welche Herablassung von Ihnen beiden!«
»Als ich von diesem unvergleichlichen Manne Abschied nahm, der mich mit seiner Freundschaft beehrt, sagte er mir von zwei jungen Verlobten aus diesem Kirchspiele, die von jenem armen Don Rodrigo zu leiden gehabt haben. Der hochwürdige Herr wünscht von ihnen etwas zu hören. Leben sie noch? Und sind ihre Angelegenheiten in Ordnung gebracht?«
»Alles in Ordnung. Ich hatte mir auch schon vorgenommen, ihrethalben an Seine Eminenz zu schreiben; aber jetzt, da ich die Ehre habe ...«
»Sind sie hier anwesend?«
»Gewiß und sie sind, sobald es sich nur tun läßt, Mann und Frau.«
»Und ich ersuche Sie, mir sagen zu wollen, ob man ihnen irgendeine Wohltat erzeigen kann, und mir auch die schicklichste Art und Weise dazu anzugeben. In diesen Drangsalen habe ich die zwei einzigen Kinder, die ich hatte, und auch ihre Mutter verloren und drei beträchtliche Erbschaften gemacht. Mehr als ich brauchte, hatte ich auch vorher schon; Sie sehen also, daß sie mir einen wahrhaften Dienst leisten, wenn Sie mir eine Gelegenheit und besonders eine wie diese geben, meinen Überfluß anzuwenden.«
»Der Himmel segne Sie! Warum sind doch wie Sie nicht alle! ... Genug! ich danke Ihnen ebenfalls von Herzen für diese meine Kinder. Und da Ihre Gnaden mir so vielen Mut machen, so kann ich Ihnen allerdings einen Rat geben, der Ihnen vielleicht nicht mißfallen wird. Sie müssen also wissen, daß diese wackeren Leute entschlossen sind, sich anderswo niederzulassen und das wenige, was sie an Grundstücken hier besitzen, zu verkaufen: der junge Bursche einen kleinen Weinberg, ungefähr neun oder zehn Ruten groß, aber ganz verödet und verwildert; man darf nur den Grund und Boden in Anschlag bringen, nichts anderes, und überdies noch ein Häuschen er und ein anderes die Braut, zwei Rattennester, sehen Sie. Ein Herr wie Ihre Gnaden, kann nicht wissen, wie die armen Leute daran sind, wenn sie in den Fall gekommen, sich des Ihrigen entäußern zu müssen. Am Ende kriegt es doch immer irgendein Schelm in seinen Hals, der, wenn es sich gerade so trifft, wohl eine Weile als Liebhaber um das Örtchen herumgeht, und sobald er weiß, daß der andere zu verkaufen notgedrungen ist, sich auf die Hinterbeine setzt und tut, als wenn ihm nichts daran gelegen wäre, so daß er ihm nachlaufen und es ihm für einen Spottpreis überlassen muß, und nun gar zumal unter solchen Umständen wie diese. Der Herr Marchese haben schon gemerkt, wo ich mit meiner Rede hinaus will. Die auserlesenste Wohltat, die Ihre Gnaden diesen Leutchen angedeihen lassen können, ist, daß Sie sie aus dieser Klemme ziehen, indem Sie ihnen ihr kleines Gut abkaufen. Die Wahrheit zu sagen, habe ich auch mein Interesse, meinen Vorteil dabei und erwerbe meinem Kirchspiel einen Besitzer, wie den Herrn Marchese; aber Ihre Gnaden werden nach Ihrem Gefallen entscheiden; ich habe gesprochen, um Ihnen zu gehorchen.«
Der Marchese war mit dem Rate völlig zufrieden, bedankte sich dafür, ersuchte Don Abbondio, als Mittelsmann den Preis bestimmen zu wollen und ihn recht übertrieben hoch anzusetzen, und brachte dessen Verwunderung auf den höchsten Grad, indem er ihm vorschlug, mit ihm zusammen nach der Wohnung der Braut zu gehen, wo wahrscheinlich auch der Bräutigam sein werde.
Unterwegs überlegte Don Abbondio, ganz außer sich vor Freude, wie man sich einbilden kann, noch ein anderes und sagte: »Da denn aber einmal Ihre Gnaden so sehr geneigt sind, diesen Leuten wohlzutun, so möchte ihnen wohl auch noch ein anderer Dienst zu leisten sein. Der junge Bursche hat einen Verhaftsbefehl, eine Art Steckbrief auf sich sitzen, weil er in Mailand vor zwei Jahren, an dem Tage des großen Aufruhrs, in den er ohne bösen Willen, aus purer Unwissenheit hineingeriet wie eine Maus in die Falle, ein paar dumme Streiche gemacht hat, gar nicht etwa was Ernstliches, sehen Sie: Kindereien, Unbesonnenheiten. Etwas wirklich Unrechtes zu begehen, dessen ist er unfähig; ich kann es ja wohl sagen, der ich ihn getauft habe und ihn habe groß werden sehen. Und wenn Ihre Gnaden sich einen Spaß machen wollen, so wie die Herrschaften doch oftmals daran finden, die armen Leute ins Zeug hinein reden zu hören, so können Sie sich die Geschichte von ihm erzählen lassen, und da werden Sie es erfahren. Jetzt nun, da das alte, vergessene Händel sind, legt ihm deswegen niemand mehr was in den Weg, und wie ich gesagt habe, so ist er doch auch gesonnen, den Staat zu verlassen; aber für die Folge, er mag nun entweder einmal hierher zurückkehren, oder es kann irgend etwas geschehen, werden Sie mir zugeben, ist es immer besser, wenn es sonst kein Aber weiter mit ihm hat. Der Herr Marchese gelten in Mailand gewissermaßen für den vornehmen Kavalier und für den großen Mann, der Sie sind ... Nein, nein, lassen Sie mich reden, die Wahrheit will ihr Recht haben. Eine Empfehlung, ein Wort von Ihresgleichen ist mehr als hinreichend, um eine völlige Lossprechung zuwege zu bringen.«
»Sind keine schweren Anklagen wider den jungen Burschen da?«
»Ei, nicht doch, nicht doch, ich sollte nicht meinen. Sie haben gleich im ersten Augenblick auf ihn losgefeuert; aber jetzt, glaube ich, handelt es sich um weiter nichts als um die bloße Form.«
»Wofern es sich so verhält, ist die Sache leicht, und ich nehme sie gern auf mich.«
»Und da wollen Sie nicht, daß man sage, sie seien ein großer Mann. Ich sage es und will es sagen, Ihnen zum Trotze will ich es sagen. Und wenn ich auch stillschwiege, würde es dennoch nichts helfen, weil alle so sprechen, und vox populi, vox Dei.«
Sie trafen die drei Frauen und Renzo richtig an. Wie diesen wurde, kann man sich vorstellen; ich denke mir, sogar die nackten, rauhen Wände, die Papierfenster, Tisch und Töpfe mußten erstaunen, einen so außerordentlichen Gast unter sich aufzunehmen. Er belebte die Unterhaltung, indem er vom Kardinal und von den andern Dingen mit aufrichtiger Herzlichkeit und zugleich mit zarter Rücksicht sprach. Nicht lange, so kam er auf seinen Antrag. Von ihm ersucht, den Preis zu bestimmen, trat Don Abbondio auf; und nach einigem Sträuben und Entschuldigen, daß das seines Amtes nicht sei, und daß er dabei nur ungewiß zutappen könne, und daß er nur dem Befehl Folge leiste, und daß er sich bescheide, gab er, seiner Meinung nach, einen übermäßigen Preis an. Der Käufer sagte, er seinerseits sei damit völlig zufrieden und wiederholte das Doppelte, gleich als ob er falsch gehört hätte, wollte nichts von Berichtigungen hören und unterbrach und beschloß alles Gerede, indem er die sämtlichen Anwesenden für den Tag nach der Hochzeit zu Mittag in sein Schloß einlud, wo die Verkaufsurkunde ordentlich aufgesetzt werden sollte.
– »Ach!« – sagte darauf Don Abbondio bei sich, als er wieder zu Hause war, – »wenn die Pest immer und überall die Sachen so anstellte, so wär' es wahrhaftig Sünde, von ihr übel zu reden; fast sollte in einem jeden Menschenalter eine sein, und so könnte man es sich gefallen lassen, eine Krankheit durchzumachen.«
Es kam der Erlaß, es kam die Freisprechung, es kam der gesegnete Tag; die beiden Verlobten gingen mit sieghafter Zuversicht in die selbige Kirche und wurden darin auch durch den Mund Don Abbondios getraut. Ein anderer und noch besonderer Sieg war tags darauf der Gang nach dem Schlosse; und ich überlasse einem jeden zu bedenken, was ihnen alles in den Sinn kommen mußte, als sie die Anhöhe erstiegen, zu dem Tore eintraten, und was für Reden sie wohl, ein jedes nach seiner Gemütsart, führten. Ich deute nur so viel an, daß inmitten der Fröhlichkeit bald das eine, bald das andere mehr als einmal erwähnte, um das Fest zu krönen, fehle nur der Pater Cristoforo. »Aber was ihn betrifft,« sagten sie hernach, »ihm ist ganz gewiß noch wohler als uns.«
Der Hausherr bewirtete sie köstlich, führte sie in einen schönen Speisesaal, setzte die jungen Gatten mit Agnes und mit der Bürgerin an einen Tisch und wollte, bevor er sich mit Don Abbondio zurückzog, um anderswo zu speisen, auch ein wenig bei diesem ersten Mahle zugegen sein, und half sogar mit bedienen. Es wird, hoffe ich, niemand einfallen, zu sagen, daß es doch eine weit einfachere Sache gewesen sein würde, wenn er geradezu nur einen Tisch hätte herrichten lassen. Ich habe ihn für einen wackeren Mann ausgegeben, aber nicht für ein Muster, wie man heutzutage sagen würde; ich habe gesagt, daß er bescheiden war, nicht daß er ein Wunder von Bescheidenheit gewesen. Er hatte deren wohl genug, um sich unter die guten Leute zu stellen, aber nicht, um sich ihnen gleichzustellen.
Nachdem man an den beiden Mittagstafeln abgespeist hatte, wurde die Kaufurkunde durch die Hand eines Doktors, der nicht der Doktor Notverhelfer war, abgefaßt. Dieser, nämlich seine sterbliche Hülle, war und ist noch immer zu Canterelli. Und für denjenigen, der nicht aus jener Gegend ist, begreife auch ich wohl, ist hier eine Erklärung vonnöten.
Etwa eine halbe Miglie oberhalb Lecco und fast zur Seite des anderen Dorfes namens Castello, liegt ein Canterelli geheißener Ort, wo zwei Straßen sich kreuzen. In der einen Ecke des Kreuzweges erblickt man einen Hügel, wie einen künstlichen Erdaufwurf, mit einem Kreuze oben, der nichts anderes als ein großer Haufen an jener Seuche Gestorbener ist. Die Überlieferung nennt sie allerdings nur an der Pest Gestorbene; aber sie muß ohne weiteres die letzte und mörderischste meinen, die noch in lebhaftem Angedenken steht. Und man weiß ja, daß die Überlieferungen, wenn man ihnen nicht nachhilft, an und für sich immer allzuwenig überliefern.
Bei der Rückkehr fand kein anderer Übelstand statt, als daß Renzo ein wenig von dem Gewichte des Geldes beschwert wurde, das er mit hinwegnahm. Aber der Mann hatte, wie man weiß, ganz anderes Ungemach ertragen. Ich spreche nicht von der nicht geringen Sorge, die es ihm machte, sich auszudenken, wie er es am besten anlegen könnte. Wenn man die Entwürfe sah, die durch seinen Kopf fuhren, die Einfälle, den Streit, den es setzte; wenn man das Für und Wider in betreff des Ackerbaues oder der Industrie vernahm, so war es, als ob zwei Akademien des vergangenen Jahrhunderts darin aneinandergeraten wären. Und die Angelegenheit war für ihn noch weit dringender und verwickelter, weil er als ein einzelner nicht zu sich sagen konnte: wozu die Wahl? nur immer zu, das eine wie das andere, die Mittel sind im ganzen die nämlichen; es sind zwei Dinge wie die Beine, alle beide gehen besser als eins.
Man dachte nun an weiter nichts mehr als einzupacken und abzureisen, die Familie Tramaglino nach dem neuen Vaterlande und die Witwe nach Mailand. Der Tränen, der Danksagungen, der Versprechungen sich zu besuchen, waren viele. Nicht weniger zärtlich, nur bis auf die Tränen, war die Trennung Renzos und der Seinigen von dem gastlichen Freunde; auch glaube man nicht, daß es mit Don Abbondio kalt abgegangen wäre. Die drei armen Leute hatten immer eine gewisse ehrerbietige Anhänglichkeit an ihren Pfarrer gehabt, und dieser hatte ihnen im Grunde immer wohlgewollt. Es ist nur die leidige Verwirrung der Welt, die die Menschen auseinanderbringt.
Man fragt wohl, ob es ihnen nicht auch Schmerz erregte, von dem Geburtsorte, von den Bergen zu scheiden; allerdings war dies der Fall, denn ein wenig Schmerz, das muß ich sagen, gibt es eben allenthalben. Es steht indessen zu glauben, daß er nicht allzu heftig war, da sie sich ihn doch hätten ersparen können, wenn sie jetzt, wo die beiden großen Hindernisse, Don Rodrigo und der Verhaftsbefehl, beseitigt waren, zu Hause geblieben. Aber schon seit einiger Zeit hatten sie alle drei sich daran gewöhnt, das Dorf, wohin sie zogen, als ihre Heimat anzusehen. Renzo hatte die Frauen dafür eingenommen, indem er ihnen von den Vorteilen, die die Arbeiter dort genössen, und hunderterlei von dem schönen Leben, das man dort führe, vorerzählt. Übrigens hatten sie auch alle sehr bittere Augenblicke in demjenigen verlebt, dem sie den Rücken zuwendeten; und betrübte Erinnerungen verleiden der Seele am Ende immer die Orte, die sie hervorrufen. Ja, wenn diese Orte die Heimat sind, so liegt in solchen Erinnerungen vielleicht gerade etwas desto Schärferes und Stechenderes. Auch das Kind, sagt die Handschrift, ruht gern am Busen der Amme, sucht mit Begierde und Vertrauen die Brust, die es bis dahin süß genährt hatte; aber wenn die Amme, um es zu entwöhnen, sie mit Wermut netzt, zieht das Kind die Lippe zurück, versucht es dann noch einmal, aber verwirft sie endlich, weint zwar, aber verwirft sie doch.
Jedoch was sagt man denn nun wohl dazu, wenn man vernimmt, daß, nicht bald angelangt und in dem neuen Dorfe eingewohnt, Renzo daselbst gehörigen Verdruß vorfand, der seiner wartete? Wahre Lumpereien, ja; aber es reicht doch schon so wenig hin, eine glückliche Lage zu stören! Die Sache war mit wenigen Worten die:
Das Gerede, das dort eine gute Zeit, schon bevor sie angekommen, über Lucia stattgefunden; das Bewußtsein, daß Renzo so sehr an ihr gehangen hatte und immer beharrlich, immer treu gewesen war; vielleicht auch ein und das andere Wörtchen eines und des anderen für ihn und all das Seine eingenommenen Freundes, hatten eine gewisse Neugier, das Mädchen zu sehen, und eine gewisse Erwartung von ihrer Schönheit erregt. Nun weiß man, wie die Erwartung eben ist: einbilderisch, leichtgläubig, zuversichtlich und bei der Prüfung alsdann schwierig und eigensinnig; sie findet sich niemals befriedigt, denn eigentlich wußte sie nicht, was sie wollte, und läßt sich ohne Erbarmen die Süßigkeiten bezahlen, mit denen sie ohne vernünftigen Grund geschmeichelt hatte. Als diese Lucia erschien, begannen viele, die vielleicht glaubten, sie müsse wahrhaft goldenes Haar, wahrhaft rosige Wangen und ein Paar Augen, eins schöner als das andere, und was weiß ich? alles haben, die Achseln zu zucken, die Nase zu rümpfen und zu sagen: »Die ist es? Nach so langer Zeit, nach so vielem Reden hätte man anderes erwartet! Was ist sie denn weiter? Eine Bäuerin, wie so viele andere. Ei! solcher, wie sie, und noch besserer, gibt es allenthalben!« Und indem sie dann auf die Einzelheiten kamen, mußte der einen Makel, jener einen anderen auf; ja fehlte es auch nicht an welchen, die sie ganz häßlich fanden.
Solange nun aber keiner diese Dinge Renzo ins Gesicht sagte, solange hatte es damit nicht viel auf sich. Wer das Unheil stiftete, wer den Riß erweiterte, das waren gewisse Leute, die sie ihm zutrugen, und was will man? Renzo empfand sie bitter genug. Er fing an, sich darob Gedanken zu machen und teils gegen den, der ihm davon sagte, teils, und zwar am meisten, innerlich bei sich gewaltige Beschwerde zu führen: »Und was geht es denn euch an? Und wer hat euch geheißen, was zu erwarten? Habe ich etwa je mit euch davon gesprochen? Habe ich euch gesagt, daß sie schön sei? Und sagtet ihr es irgendje zu mir, habe ich euch da wohl was anderes drauf erwidert, als daß sie ein gutes Mädchen sei? Und eine Bäuerin! Habe ich euch schon einmal gesagt, ich hätte euch eine Prinzessin hierhergebracht? Sie gefällt euch nicht! Seht sie nicht an. Wenn ihr schöne Frauen habt, so schaut auf die.«
Und man beachte einmal, wie zuweilen ein Narrenspossen hinreicht, über den Zustand eines Menschen für sein Leben lang zu entscheiden. Hätte Renzo das seinige, seiner ersten Absicht gemäß, in diesem Dorfe zubringen müssen, so würde es ihm wenig Heil gebracht haben. Vermöge des Verdrusses, den man ihm gemacht, war er verdrießlich geworden. Er war gegen alle unfreundlich, denn ein jeder konnte ein Bekrittler Luciens sein. Er verstieß deshalb nicht gerade gegen die Höflichkeit; aber man weiß ja, was einer alles sich erlauben darf, ohne die Gesetze der guten Lebensart ausdrücklich zu übertreten, bis es nachgerade an ein Bauchaufschlitzen geht. Er hatte ein gewisses sardonisches Etwas in seinem ganzen Wesen, an allem fand auch er etwas auszusetzen; es ging so weit, daß, wenn es einmal zwei Tage hintereinander schlechtes Wetter war, er gleich sagte: »Ja, in so einem Dorfe auch!«
Ich muß sagen, daß ihn bereits eine gehörige Anzahl Menschen und zwar auch solche im Magen hatten, die ihm anfänglich wohlgewollt; und so würde er wohl mit der Zeit, wie denn eben eins das andere gab, ziemlich zu der ganzen Bevölkerung in ein gewissermaßen feindseliges Verhältnis getreten sein, ohne daß er selbst vielleicht hätte die erste Ursache dazu angeben, die Wurzel eines solchen Übels erkennen können.
Es war aber ordentlich, als ob die Pest die Verpflichtung übernommen hätte, alle seine Fehler wieder gutzumachen. Es hatte nämlich dieselbe den Besitzer einer anderen, fast an den Toren von Bergamo gelegenen Seidenspinnerei hinweggerafft, und war sein Erbe, ein liederlicher junger Mensch, der an dem ganzen Anwesen nichts Belustigendes finden konnte, gesonnen, ja begierig, und wäre es um den halben Preis, es loszuschlagen; aber er verlangte die Kaufsumme in barem Gelde ausgezahlt zu erhalten, damit er sie auch unverzüglich wieder um nichts und wieder nichts vergeuden könnte. Sobald die Sache Bortolo zu Ohren kam, lief er hin, um zuzusehen und handelte; ein besserer Kauf hätte sich gar nicht erhoffen lassen können; aber jene Bedingung barer Zahlung verdarb alles, weil seine kleine Barschaft, die aus allmählich zurückgelegten Ersparnissen bestand, noch lange nicht an jene Summe reichte. Er hielt also den guten Freund noch halb und halb beim Wort, kehrte eilig zurück, teilte die Sache dem Vetter mit und schlug ihm vor, sie auf gemeinschaftliche Rechnung mit ihm zu unternehmen. Ein so vorteilhafter Antrag setzte Renzos ökonomischen Zweifeln ein Ende, und er entschloß sich schnell zu der Industrie und sagte ja. Man ging miteinander hin und machte den Handel ab. Als darauf die neuen Herren in ihrem erworbenen Besitztum ankamen, ward Lucia, die dort nicht erwartet worden war, nicht nur keinen Bekrittelungen unterworfen, sondern mißfiel auch, kann man sagen, ganz und gar nicht, und erfuhr wohl Renzo, daß von mehr als einem gesagt worden war: habt ihr die schöne Füchsin schon gesehen, die zu uns gekommen ist? Das Beiwort entschuldigte das Hauptwort.
Und auch von dem Verdruß, den er in dem anderen Dorfe gehabt, blieb ihm eine nützliche Lehre zurück. Früherhin war er ein wenig vorschnell im Urteilen gewesen und ließ er sich unschwer verleiten, über eines anderen Frau oder irgend sonst etwas abzusprechen. Jetzt erkannte er aber nun, daß Worte sich ganz anders im Munde als im Ohre ausnehmen und gewöhnte sich ein wenig mehr daran, die seinen innerlich erst anzuhören, bevor er sie ausspräche.
Man erwarte indessen nicht zu hören, daß auch hier nicht die eine und die andere kleine Unannehmlichkeit vorgefallen wäre. »Der Mensch,« sagt unser Anonymus – und man weiß aus Erfahrung schon, daß er in dem, was Gleichnisse anlangte, einen etwas absonderlichen Geschmack besaß; doch lasse man sich nur dieses noch gefallen; es soll das letzte sein –, »der Mensch, solange er auf dieser Welt ist, ist ein Kranker, der auf einem mehr oder minder unbequemen Bette liegt, um sich herum andere, äußerlich wohleingerichtete, glatte, ebene Betten sieht und sich einbildet, es müsse darauf ein gemächliches Lager sein. Aber wenn er einmal dazu kommt, zu wechseln, so hat er sich nicht sobald auf dem neuen ausgestreckt, als er auch zu seiner Qual hier einen aufstechenden Dorn, dort eine Härte zu fühlen beginnt, und kurz und gut, sich ungefähr wieder in der nämlichen Lage wie zuvor befindet. Und eben deshalb,« fügt er hinzu, »müssen wir mehr darauf bedacht sein, gut zu tun als gut zu leben, auf welche Weise es einem am Ende auch besser ergehen wird.«
Das ist nun allerdings ein wenig mit den Haaren herbeigezogen und recht eigentlich als Schriftsteller des siebzehnten Jahrhunderts gesprochen, im Grunde aber hat er denn doch recht. »Übrigens,« fährt er fort, »erlitten unsere guten Leute Kummer und Ungemach von der Art und Größe, wie wir schon berichtet haben, fernerweit nicht mehr. Ihr Leben war von nun an eins der geruhigsten, glücklichsten und beneidenswertesten, dergestalt, daß man sich zu Tode langweilen würde, wenn ich es erzählen sollte.«
Die Geschäfte gingen trefflich vonstatten; anfänglich stockten sie einigermaßen wegen des Mangels an Arbeitern und der Verwöhnung und Ansprüche der wenigen Überbliebenen. Es erschienen Verordnungen, die den Arbeitslohn beschränkten. Trotz dieser Hilfe kamen die Dinge aber wieder ins alte Gleis, weil sie doch am Ende eben wieder dahin kommen müssen. Es traf eine andere, etwas verständigere Verordnung von Venedig ein: Befreiung auf zehn Jahre von allen dinglichen und persönlichen Lasten für diejenigen Ausländer, die sich in diesem Staate niederließen. Für die Unserigen war dies ein neuer Glücksfall.
Noch bevor das erste Jahr der Ehe ablief, kam ein holdes Geschöpf an das Licht der Welt; und gleich als hätte Renzo damit ausdrücklich und alsbald Gelegenheit gegeben werden sollen, sein hochherziges Gelübde zu erfüllen, war es ein Mädchen; man kann sich wohl vorstellen, daß es Maria genannt wurde. Es kamen nachher mit der Zeit noch, ich weiß nicht wie viele andere des einen wie des anderen Geschlechts, und Agnes hatte vollauf zu tun, eins nach dem anderen herumzutragen, indem sie sie kleine Schelme nannte und ihnen so derbe Schmätze aus die Gesichtchen drückte, daß sie für eine Weile darauf einen weißen Fleck zurückließen. Und sie waren allesamt gut geartet, und Renzo wollte, daß sie allesamt Lesen und Schreiben lernten, denn er sagte, da die Spitzbüberei nun einmal vorhanden sei, so sollten sie doch wenigstens auch sie sich zunutze machen. Eine Lust war es, ihn seine Abenteuer erzählen zu hören, und das Ende vom Liede war immer, daß er die großen Dinge anführte, die er daraus gelernt, um sich inskünftige besser aufzuführen. »Ich habe gelernt,« sagte er, »mich in keine Händel einzulassen; ich habe gelernt, auf der Gasse, nicht zu predigen; ich habe gelernt, nicht über den Durst zu trinken; ich habe gelernt, den Türklopfer nicht in der Hand zu behalten, wenn Leute herumstehen, die rappelköpfisch sind; ich habe gelernt, mir keine Schelle an die Füße zu schnallen, ohne zuvor bedacht zu haben, was daraus entstehen könne. Und noch hunderterlei sonst.«
Lucia dagegen fand zwar nicht gerade diese Lehre falsch, war aber doch auch nicht davon zufriedengestellt; es wollte sie so halb und halb bedünken, daß noch irgend etwas daran mangele. Da sie nun dasselbe Lied immer wieder absingen hörte und ein jedesmal darüber nachsann, sagte sie eines Tages zu ihrem Sittenlehrer: »Und ich, was habe ich daraus lernen können? Ich bin es nicht, die die Leiden aufgesucht hat, sie sind es, die mich heimgesucht haben. Du müßtest denn etwa sagen wollen,« fügte sie sanft lächelnd hinzu, »mein dummer Streich sei gewesen, daß ich dich lieb gehabt und mich dir verlobt habe.«
Renzo war darob anfänglich in Verlegenheit. Nachdem sie aber lange miteinander hin und her geredet und geforscht hatten, verständigten sie sich dahin, daß die Leiden wohl oft aus der Ursache kommen, die der Mensch ihnen gibt; daß aber auch die bedachtsamste und schuldloseste Aufführung nicht vor ihnen sichert und daß, wenn sie, verschuldet oder unverschuldet, kommen, das Vertrauen auf Gott sie lindert und für ein besseres Leben heilsam macht.
Dieser Schluß, wiewohl von armen Leuten gezogen, hat uns dennoch so richtig geschienen, daß wir ihn gleich als den Kern der ganzen Geschichte hierherzusetzen gedacht haben.
Hat euch diese Geschichte einiges Ergötzen gewährt, so seid dem Anonymus und ein wenig auch seinem Wiederhersteller darum günstig gesinnt. Hätten wir aber anstatt dessen euch gar Langeweile gemacht, so seid versichert, daß wir es eben nicht mit Willen getan haben.