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Einundzwanzigstes Kapitel

Die Alte hatte sich beeilt, zu gehorchen und zu befehlen im Namen dessen, der da drinnen alles in Trab setzte; denn es war ausgeschlossen, daß jemals einer sich unterstehen könnte, ihn zu mißbrauchen. Sie fand sich bei der »Übeln Nacht« in der Tat etwas früher ein, als die Kutsche daselbst anlangte, und sobald sie sie anlangen sah, stieg sie aus der Sänfte, winkte dem Kutscher, anzuhalten, trat zu dem Schlage und sagte dem Geier, der den Kopf heraussteckte, den Willen des Gebieters ins Ohr.

Lucia fuhr über das Stillhalten der Kutsche zusammen und kam aus einer Art von Schlafsucht wieder zu sich. Es überfiel sie eine neue Angst, sie riß Mund und Augen auf und staunte. Der Geier hatte sich zurückgezogen, und die Alte sah, das Kinn auf dem Schlage, Lucia an und sagte: »Kommt, Mädchen, kommt, arme Kleine; kommt mit mir, ich habe Befehl, Euch gut zu behandeln und Euch Mut zu machen.« Von dem Klange einer weiblichen Stimme fühlte sich die Ärmste einen Augenblick getröstet und ermutigt; aber sie sank alsbald in ein noch düstereres Entsetzen zurück.

»Wer seid Ihr?« sprach sie mit bebender Stimme und heftete den verwunderten Blick auf das Antlitz der Alten.

»Kommt, kommt, armes Kind,« wiederholte diese.

Der Geier und die anderen beiden entnahmen aus ihren Worten und ihrer so ungewöhnlich milden Stimme, wie der Herr gesinnt sein müsse, und suchten die Bedrängte deshalb im Guten zum Gehorsam zu bringen. Aber sie starrte fort und fort hinaus, und wiewohl der wilde unbekannte Ort und die Zuversichtlichkeit ihrer Wächter sie keine Hoffnung auf Hilfe fassen ließen, so tat sie doch den Mund auf, um zu schreien; nur da sie den Geier grimmige Augen nach dem Tuche machen sah, schwieg sie still, zitterte, krümmte sich und ward gewaltsam in die Sänfte gebracht. Nach ihr stieg die Alte hinein. Der Geier stellte die beiden anderen Halunken an, zur Begleitung hinterherzugehen und machte, daß er hinaufkam, um dem Rufe des Gebieters Folge zu leisten.

»Wer seid Ihr?« fragte Lucia angstvoll das unbekannte, mißgestaltete Gesicht. »Warum bin ich bei Euch? Wo bin ich? Wohin bringt Ihr mich?«

»Zu jemand, der Euch wohl will,« antwortete die Alte, »zu einem großen ... Heil denen, denen er Gutes tun will! Wohl Euch, wohl Euch. Fürchtet Euch nicht, seid munter; er hat mir geboten, Euch Mut zu machen. Ihr werdet ihm schon sagen, he? daß ich Euch Mut gemacht habe?«

»Wer ist er? Warum? Was will er von mir? Ich gehe ihn nichts an. Sagt mir, wo bin ich; laßt mich gehen; sagt den Leuten, sie sollen mich gehen lassen, sie sollen mich nach irgend einer Kirche tragen. Oh! Ihr, die Ihr doch ein Weib seid, im Namen der Jungfrau Maria!« ...

Dieser heilige und süße Name, den die Alte dereinst in ihren ersten Jahren mit Ehrfurcht ausgesprochen und dann lange Zeit hindurch weder mehr angerufen, noch vielleicht gar nicht einmal ausgesprochen gehört hatte, befremdete das Gemüt der Unseligen, die ihn jetzt vernahm, auf eine verworrene, eigene, feierliche Weise, wie die Erinnerung an Licht und Formen einen seit der Kindheit erblindeten ehrwürdigen Greis.

Währenddessen hatte sich der Ungenannte an das Tor der Feste begeben, von wo er hinunterschaute, und sah die Sänfte, wie vorher die Kutsche, Schritt vor Schritt immer höher und höher heraufkommen, und ihr voran, in einer mit jedem Augenblicke zunehmenden Entfernung, den Geier hastig herzuschreiten. Sobald dieser die Höhe erreicht hatte, sagte der Herr zu ihm: »Komm her,« trat vor ihm wieder ein und begab sich in ein Zimmer der Burg.

»Nun?« sagte er, hier stehenbleibend.

»Aufs pünktlichste vollzogen,« versetzte der Geier, indem er sich verneigte. »Die Nachricht zu rechter Zeit, das Mädchen zu rechter Zeit, kein Mensch zur Stelle, ein einziger Schrei, niemand, der sich blicken lassen, der Kutscher brav, die Pferde tüchtig, niemand unterwegs: aber ...«

»Nun aber ...«

»Aber, ich sage die Wahrheit, es würde mir lieber gewesen sein, ich hätte Befehl gehabt, sie hinterrücks niederzuschießen, ohne sie reden zu hören, ohne ihr ins Gesicht zu sehen ...«

»Wie? Was? Was willst du sagen?«

»Ich will sagen, daß ich die ganze Zeit über, die ganze Zeit über ... gar zu viel Mitleid mit ihr gehabt habe.«

»Mitleid! Was weißt du von Mitleid? Was ist Mitleid?«

»Ich habe es noch nie so gut begriffen als diesmal: es ist mit dem Mitleid eine ähnliche Geschichte wie mit der Furcht: wenn einer sich erst von ihnen überkommen läßt, so ist er kein Mann mehr.«

»Nun, so laß doch einmal hören, wie die es angefangen hat, dich zum Mitleid zu bewegen.«

»Ach, gnädigster Herr! so lange Zeit! ... weinen, bitten, und so gewisse Augen machen, und bleich, bleich wie der Tod werden, und hernach schluchzen und wieder bitten, und so gewisse Worte ...«

– »Ich will sie nicht im Hause haben, –« dachte der Ungenannte derweil bei sich. – »Ich habe mich zur unglücklichen Stunde darauf eingelassen; aber ich habe zugesagt, ich habe zugesagt. Wenn sie fern sein wird ...« Und das Gesicht gebieterisch zum Geier erhebend, sagte er ihm: »Jetzt laß du dein Mitleid beiseite: steig zu Pferde, nimm noch einen, zwei, wenn du willst, mit, und reite, reite zu, bis du zum Schlosse des Don Rodrigo, du weißt schon, gekommen bist. Sage ihm, er solle gleich ... aber ja gleich jemand ... denn sonst ...«

Aber ein abermaliges Nein, noch gebieterischer als das erste, untersagte ihm auszureden. »Nein,« sprach er mit entschlossenem Tone, fast wie um das Gebot der geheimen Stimme sich noch deutlicher zu machen. »Nein: geh und ruh dich aus, und morgen früh ... wirst du tun, was ich dir sage.«

– »Die hat irgendeinen Teufel, der ihr beisteht,« – dachte er dann, alleingeblieben, dastehend, die Arme über der Brust verschränkt und starr aus eine Stelle des steinernen Fußbodens blickend, wo der Strahl des Mondes, in ein hochangebrachtes Fenster hereinbrechend, ein Viereck bleichen Lichtes abzeichnete, das von den starken Eisenstäben in Würfel eingeteilt und von den Einfassungen der kleinen Glasscheiben dazwischen in noch kleinere Kreise zerschnitten wurde. – »Irgendeinen Teufel, oder ... irgendeinen Engel, der sie beschützt ... Mitleid in dem Geier! ... Morgen früh, morgen früh, beizeiten, fort mit ihr von hinnen; ihrem Schicksal entgegen, und man spricht nicht mehr von ihr und« – fuhr er bei sich selbst, in demselben Sinne fort, wie man einem unfolgsamen Knaben ein Gebot gibt, wohl wissend, daß er nicht gehorchen wird – »und man denkt nicht mehr an sie. Don Rodrigo, der Hansnarr soll mir nicht kommen und mir den Kopf mit Danksagungen warm machen; denn ... ich will einmal nicht mehr von ihr reden hören. Ich habe ihm gedient, weil ... weil ich es versprochen habe, und ich habe es versprochen, weil ... es mein Schicksal so wollte. Aber ich will ihn mir den Dienst da schwer entgelten lassen. Wir wollen einmal zusehen ...«

Und er wollte sich irgendeine recht schwierige Arbeit ausdenken, um sie Don Rodrigo zur Entgeltung und gewissermaßen zur Buße aufzugeben; aber es kamen ihm von neuem die Worte in den Sinn: »Mitleid in dem Geier! – Wie mag sie das angefangen haben?« – fuhr er fort, von dem Gedanken hingerissen. – »Ich will sie sehen. Doch nein. Ja, ich will sie sehen.«

Und, aus einem Zimmer ins andere, gelangte er an eine kleine Treppe und stieg zaudernd zu der Kammer der Alten empor; er stieß mit dem Fuße wider die Tür.

»Wer da?«

»Mach auf.«

Bei diesem Rufe tat die Alte drei Sätze; man hörte gleich den Riegel geräuschvoll durch die Ringe fahren, und die Tür ging weit auf. Der Ungenannte warf von der Schwelle aus einen Blick in das Gemach, und beim Schimmer einer Lampe, die auf einem dreifüßigen Tische brannte, sah er Lucia in dem von der Tür entferntesten Winkel auf der Erde kauern.

»Wer hat dir geheißen, sie wie einen Sack Lumpen dahinzuwerfen. Heillose?« sprach er mit zürnender Miene zu der Alten.

»Sie hat sich setzen können, wohin sie gewollt,« antwortete diese demütig. »Ich habe alles mögliche getan, ihr Mut zu machen, sie mag es selber sagen, aber es hilft nichts.«

»Steht auf,« sagte er zu Lucia und trat näher zu ihr. Sie aber, der das Anklopfen, das Öffnen, die Schritte, die Stimme einen neuen und düsteren Schrecken in die verzagte Seele gejagt hatten, blieb noch mehr als vorher zusammengekauert in dem Winkel sitzen, das Gesicht in die flachen Hände verborgen und sich nur insoweit regend, als sie über und über erzitterte.

»Steht auf, ich will Euch nichts zuleide tun ... und kann Euch Gutes tun,« wiederholte der Herr ... »Steht auf!« donnerte dann dieselbe Stimme, aufgebracht, zweimal vergebens geboten zu haben.

Gleich als ob der Schrecken sie wieder neu gekräftigt, erhob sich die Unglückliche augenblicklich auf die Knie und schlug, die flachen Hände faltend, als ob sie vor einem heiligen Bilde gelegen hätte, die Augen zu dem Angesichte des Ungenannten auf und sagte, indem sie sie gleich wieder zu Boden senkte: »Da bin ich, töten Sie mich.«

»Ich habe Euch schon gesagt, daß ich Euch nichts zuleide tun will,« entgegnete milderen Tones der Ungenannte und faßte die Züge dieses von Kummer und Schrecken verstörten Gesichts ins Auge.

»Mut, Mut,« sagte die Alte: »wenn er es Euch nun selber sagt, daß er Euch nichts tun will ...

»Und warum,« hob Lucia wieder mit einer Stimme an, worin zwischen dem Beben der Furcht doch eine gewisse Sicherheit verzweifelter Entrüstung durchklang, »warum lassen Sie mich die Qualen der Hölle erdulden? Was habe ich Ihnen getan? ...«

»Sie haben Euch doch nicht gemißhandelt? Sprecht ...

»Oh, gemißhandelt? Sie haben mich verräterischer-, gewaltsamerweise ergriffen! Warum? Warum haben sie mich geraubt? Warum bin ich hier? Wo bin ich? Ich bin ein armes Geschöpf; was habe ich Ihnen getan? Bei Gott im Himmel ...«

»Gott, Gott,« fiel der Ungenannte ein, »immer Gott; wer sich nicht selber verteidigen kann, wer nicht die Kraft dazu hat, ist immer mit Gott bei der Hand, als ob er mit ihm geredet hätte. Was wollt Ihr denn mit diesem Euerm Worte da? Wollt Ihr mich etwa?« ... und er brach in der Mitte der Rede ab.

»Oh, Herr! was ich will? Was kann ich Ärmste sonst wollen, als daß Sie Erbarmen mit mir tragen! Gott vergibt so viele Dinge um eines einzigen Werkes der Barmherzigkeit willen. Lassen Sie mich gehen, lassen Sie mich aus Menschlichkeit gehen. Es tut nicht gut, wenn einer, der sterblich ist, ein armes Geschöpf so leiden läßt. O sagen Sie, der Sie befehlen können, daß man mich gehen läßt! Sie haben mich mit Gewalt hierhergeschleppt. Lassen Sie mich wieder zu dieser Frau setzen und mich nach *** schaffen, wo meine Mutter ist. Ach! heiligste Jungfrau! meine Mutter! Meine Mutter, Barmherzigkeit, meine Mutter! Vielleicht ist sie nicht weit von hier ... ich habe meine Berge gesehen; warum lassen Sie mich so viel ausstehen? Lassen Sie mich in eine Kirche bringen; ich will mein ganzes Leben lang für Sie bitten. Was kostet es Ihnen, ein Wort zu sagen? Ach sehen Sie! Sie sind gerührt; sagen Sie ein Wort, sagen Sie es. Gott vergibt gar viele Dinge um eines Werkes der Barmherzigkeit willen!«

»– Oh, warum ist sie doch nicht die Tochter eines der Niederträchtigen, die mich verbannt haben!« – dachte der Ungenannte; – »eines der Elenden, die meinen Tod verlangen! daß ich mich jetzt an diesem ihren Gewinsel weiden könnte, und anstatt ... –«

»Verleugnen Sie eine gute Eingebung nicht!« fuhr Lucia inbrünstig fort, neu davon beseelt, daß sie in Antlitz und Haltung ihres Tyrannen ein gewisses Schwanken wahrnahm. »Wenn Sie dies Erbarmen nicht mit mir haben, so wird es der Herr mit mir haben; er wird mich sterben lassen, und dann wird es mit mir aus sein; wie aber ... Vielleicht, daß eines Tages auch Sie ... doch nein, nein; ich werde den Herrn bitten, Sie vor allem Übel zu bewahren. Was kostet es Ihnen, ein Wort zu sagen? Wenn Sie diese Pein erdulden sollten!« ...

»Nicht doch, ermutigt Euch,« unterbrach sie der Ungenannte mit einer Milde, ob der die Alte höchlich erstaunte. »Habe ich Euch ein Leid zugefügt? Habe ich Euch gedroht?«

»Ach nein! ich sehe, Sie haben ein gutes Herz und fühlen Mitleid mit einem armen Geschöpf. Wenn Sie wollten, könnten Sie mir mehr Furcht einflößen als alle die anderen, könnten Sie mir den Tod geben, und statt dessen haben Sie mir ... ein wenig das Herz erleichtert. Gott wird es Ihnen vergelten. Vollenden Sie das Werk der Barmherzigkeit; geben Sie mich frei, geben Sie mich frei.«

»Morgen früh ...«

»Ach, geben Sie mich jetzt frei, jetzt ...«

»Morgen früh sehen wir uns wieder, sage ich. Wohl auf! seid indessen gutes Muts. Ruht Euch aus. Ihr müßt das Bedürfnis haben, zu essen; sie sollen Euch gleich was bringen.«

»Nein, nein, ich sterbe, wenn jemand hier hereinkommt; ich sterbe. Bringen Sie mich in die Kirche ... die Schritte wird Ihnen Gott zählen.«

»Es wird eine Frau kommen und Euch zu essen bringen,« sagte der Ungenannte, und nachdem er es gesagt hatte, blieb auch er erstaunt, wie ihm eine solche Aushilfe in den Sinn gekommen sei, und wie er das Bedürfnis empfunden habe, danach zu suchen, um ein einfaches Weib zu beruhigen.

»Und du,« hob er flugs wieder an, zu der Alten gewendet, »ermuntere sie, zu essen, bringe sie ins Bett zur Ruhe, und wenn sie dich zur Genossin haben will, gut; wo nicht, so kannst du schon einmal eine Nacht auf dem Fußboden zubringen. Flöße ihr Mut ein, sage ich dir; erheitere sie. Und daß sie sich nicht über dich zu beklagen habe!«

Dies gesagt, ging er rasch zur Tür. Lucia sprang auf und eilte ihm nach, um ihn zurückzuhalten und ihre Bitte zu erneuern; aber er war verschwunden.

»Ach, ich Arme! Macht zu, geschwind macht zu.« Und sobald sie die Türflügel einen gegen den anderen hatte klappen und den Riegel rasseln hören, kauerte sie sich wieder in ihren Winkel nieder. »Ach, ich Arme!« rief sie von neuem unter Schluchzen. »Wen soll ich nun bitten? Wo bin ich? Sagt mir, sagt mit aus Barmherzigkeit, wer ist der Herr ... der mit mir gesprochen hat?«

»Wer er ist, ei? Wer er ist? Ihr wollt, daß ich es Euch sage, ich? Du kannst warten, bis ich es dir sage. Weil er Euch in Schutz nimmt, seid Ihr schon übermütig geworden und wollt Euch Eure Neugier stillen lassen, und ich soll den Schaden davon haben. Fragt ihn nur darum. Wenn ich Euch auch darin den Willen täte, so würde er mir nicht so gute Worte geben, als Ihr bekommen habt. Ich bin alt, ich bin die Alte« – fuhr sie zwischen den Zähnen brummend fort. »Verwünscht wären doch die Jungen, die zu rechter Zeit zu weinen und zu lachen verstehen und immer recht behalten.« – Aber da sie Lucia schluchzen hörte und das Gebot des Herrn ihr drohend wieder einfiel, so neigte sie sich zu der armen im Winkel Verkrochenen hinab und begann mit schwächerer menschlicherer Stimme wieder: »Nicht doch, ich habe Euch nichts Schlimmes gesagt, seid lustig. Fragt mich nicht solche Dinge, die ich Euch nicht sagen kann, und seid übrigens getrosten Muts. Hu, wenn Ihr wüßtet, wieviel Leute froh gewesen sein würden, ihn so reden zu hören, wie er mit Euch geredet hat! Immer lustig; es wird nun gleich zu essen kommen, und ich, die ich es daraus entnehme ... wie er mit Euch gesprochen hat, weiß, daß Ihr gut daran seid. Und dann könnt Ihr Euch niederlegen, und ... werdet mir wohl auch ein Eckchen übriglassen,« fügte sie im Tone unterdrückten Grolles hinzu.

»Ich will nicht essen, ich will nicht schlafen. Laßt mich in Frieden; kommt mir nicht näher; geht nicht hinaus!«

»Nein, nein, nicht doch,« sagte die Alte und setzte sich abseits auf eine alte Bank, von wo sie gewisse ängstliche und zugleich mißgünstige Blicke auf die Arme warf, und sodann beschaute sie ihr Bett, indem sie sich heimlich ärgerte, daß sie für die ganze Nacht daraus verdrängt sei, und über die Kälte murrte. Jedoch labte sie ihr Gemüt mit dem Gedanken an das Abendessen und der Hoffnung, daß auch für sie etwas davon abfallen würde. Lucia verspürte von der Kälte nichts, empfand keinen Hunger, und hatte, wie betäubt von ihren Schmerzen und Schrecken, selbst nur ein dunkles Gefühl, den Traumbildern eines Fieberkranken ähnlich.

Sie fuhr zusammen, als sie anklopfen hörte, und indem sie das erschreckte Antlitz emporhob, rief sie: »Wer ist da? Wer ist da? Es soll niemand kommen!«

»Es ist nichts, es ist nichts; gute Zeitung,« sagte die Alte. »Es ist Martha, die zu essen bringt.«

»Macht zu, macht zu!« rief Lucia aus.

»I! gleich, gleich,« versetzte die Alte, und nachdem sie der Martha einen Korb aus den Händen genommen, schickte sie sie hastig wieder fort, schloß wieder zu und stellte den Korb auf einen Tisch inmitten der Stube. Sie lud darauf Lucia zu wiederholten Malen ein, zu kommen und von den Gerichten zuzulangen. Sie wendete die nach ihrer Meinung wirksamsten Worte an, um der Armen wieder Eßlust zu machen, sie erging sich in Ausrufungen über die Köstlichkeit der Speisen: »Bissen, an die gemeine Leute zeitlebens denken, wenn sie einmal davon lecken dürfen! Wein, von dem der Herr mit seinen Freunden trinkt ... wenn einer von denen herkommt ... und wenn sie lustig sein wollen! Hm! ...«

Da sie aber sah, daß alle Beschwörungen vergebens blieben, sagte sie: »Es ist also Euer Wille nicht. Daß Ihr ihm nur aber morgen nicht etwa sagt, ich hätte Euch nicht zugeredet. Ich werde essen, und es wird immer mehr als genug für Euch übrig sein, falls Ihr noch Vernunft annehmen und essen wolltet.« Dies gesagt, fiel sie gierig über die Speise her. Sobald sie gesättigt war, stand sie auf, ging nach dem Winkel und indem sie sich zu Lucia hinabbog, forderte sie sie von neuem auf, zu essen und sich niederzulegen.

»Nein, nein, ich will nichts,« erwiderte diese mit matter und wie schlaftrunkener Stimme, worauf sie unverzagter wieder anhob: »Ist die Tür zugeschlossen? Ist sie wohlverwahrt?« Und nachdem sie sich umgesehen hatte, erhob sie sich und ging mit vorgestreckten Händen und argwöhnischem Schritte darauf zu.

Die Alte kam ihr zuvor, legte Hand an das Schloß, erfaßte die Klinke, drückte sie auf und zu und rüttelte am Riegel, daß er in den Bändern knarrte, die ihn festhielten. »Hört Ihr? seht Ihr? Ist es fest zu? Seid Ihr nun zufrieden?«

»Ach, zufrieden! Ich hier zufrieden!« sagte Lucia, indem sie von neuem in ihren Winkel kroch. »Aber Gott der Herr weiß es, daß ich hier bin!«

»Kommt schlafen. Was wollt Ihr da liegen wie ein Hund? Ist es wohl schon dagewesen, daß man sich eine Bequemlichkeit nicht gefallen läßt, wenn man sie haben kann?«

»Nein, nein; laßt mich liegen.«

»Ihr habt es so gewollt. Seht, ich lasse Euch den guten Platz; ich lege mich hier auf den Rand, ich werde es Euretwegen unbequem haben. Wenn Ihr ins Bett kommen wollt, so wißt Ihr, wie Ihr es macht. Erinnert Euch, daß ich Euch vielmal darum gebeten habe.« Mit diesen Worten fuhr sie unter die Decke, und alles schwieg.

Lucia blieb regungslos zusammengekauert in dem Winkel, die Knie an den Leib gezogen, die Hände auf den Knien und das Gesicht in den Händen. Sie schlief weder noch wachte sie, aber ihr Zustand war eine rasche Reihenfolge, ein unmutiger Wechsel von Gedanken, Einbildungen und Herzschlägen. Bald sich ihrer selbst mehr bewußt und der gewahrten und erduldeten Schrecken dieses Tages bestimmter eingedenk, fügte sie sich schmerzlich in die Umstände der düsteren und furchtbaren Wirklichkeit, worin sie sich verwickelt fand; bald kämpfte der in eine noch düsterere Gegend verlockte Geist gegen die von der Furcht und Ungewißheit erzeugten Trugbilder an. In diesen Ängsten verbrachte sie eine lange Zeit, die wir jedoch hier rasch übergehen wollen; entkräftet und entmutigt ließ sie endlich die erstarrten Glieder sinken, streckte sich nieder oder sank ausgestreckt um und blieb eine Welle in einem, einem wahrhaften Schlafe ähnlicheren Zustande liegen.

Aber auf einmal erwachte sie wieder wie auf einen inneren Ruf und fühlte das Bedürfnis, völlig wieder zu sich zu kommen, alle ihre Gedanken zusammenzunehmen, zu erkennen, wo sie wäre, wie es gekommen sei?

Sie horchte auf ein Geräusch; es war das langsame, rauhe Schnarchen der Alten; sie riß die Augen auf und sah eine schwache Helligkeit abwechselnd erscheinen und verschwinden; es war der Docht der Lampe, der, dem Erlöschen nahe, ein zitterndes Licht von sich gab und es alsbald wieder gewissermaßen zurückzog, so wie es mit dem Kommen und Gehen der Flut am Gestade ist, und dieses Licht, das den Gegenständen entfloh, noch ehe sie von ihm bestimmte Gestaltung und Farbe annahmen, stellte dem Blicke nur eine Aufeinanderfolge von Verwirrung dar. Nicht lange jedoch, so halfen ihr die frischen Eindrücke, die sich der Seele erneuten, dasjenige unterscheiden, was verworren vor den Sinn trat. Die Unglückliche erkannte ihr Gefängnis; alle Erinnerungen des verflossenen entsetzlichen Tages, alle Schrecken der Zukunft bestürmten sie mit einmal; diese neue Ruhe nach solchen Gemütsbewegungen selbst, diese Art von Erholung, diese Abgeschiedenheit, in der sie gelassen war, flößten ihr eine neue Angst ein, und sie wurde von solcher Betrübnis überwältigt, daß sie den Tod herbeiwünschte.

Aber indes gedachte sie, daß sie auch beten könne, und zugleich mit diesem Gedanken kam es wie eine plötzliche Hoffnung des Trostes über sie. Sie zog ihren Rosenkranz abermals hervor und hob an ihn abzusagen, und in dem Verhältnisse, daß das Gebet von ihren bebenden Lippen floß, erwachte in ihrem Herzen die Hoffnung.

Plötzlich fuhr ihr ein anderer Gedanke durch den Sinn, daß ihr Gebet desto angenehmer sein und desto gewisser erhört werden würde, wenn sie in ihrer Hilflosigkeit auch irgendein Gelübde täte. Sie erinnerte sich dessen, was ihr das Liebste war, oder des Liebsten, das sie besessen hatte; denn in diesem Augenblick konnte ihre Seele keine andere Regung als die Furcht empfinden, so wenig wie etwa ein anderes Verlangen als das nach Befreiung fassen; sie erinnerte sich dessen und entschloß sich auf der Stelle, es zum Opfer zu bringen. Sie erhob sich auf die Knie, und indem sie die Hände, aus denen der Rosenkranz herabhing, gefaltet über die Brust hielt, richtete sie das Antlitz und die Augen zum Himmel empor und sagte: »O heiligste Jungfrau! Du, der ich mich so vielmal befohlen habe, und die du mich so vielmal getröstet hast! Du, die du so viele Schmerzen erlitten und jetzt so glorreich bist und so viele Wunder für die armen Bedrängten getan hast: steh mir bei! errette mich aus dieser Gefahr, führe mich sicher zu meiner Mutter zurück, Mutter des Herrn, und ich gelobe dir, Jungfrau zu bleiben, verzichte für immer auf den armen Renzo, um nimmer sonst jemand anzugehören als dir.«

Nachdem sie diese Worte gesprochen hatte, neigte sie das Haupt und hing sich den Rosenkranz um den Hals, wie zum Zeichen der Weihung und zum Schirme zugleich, als ein Rüstzeug der neuen Heerschar, der sie sich beigesellt hatte. Sie setzte sich dann wieder auf den Fußboden nieder und fühlte nun eine gewisse Ruhe, eine innigere Zuversicht über ihr Gemüt kommen. Es fiel ihr das von dem mächtigen Unbekannten wiederholte: »Morgen früh,« ein, und sie meinte in diesem Worte eine Zusage der Erlösung zu finden. Die in einem solchen Kampfe ermüdeten Sinne wurden allmählich von der Friedlichkeit dieser Gedanken eingewiegt, und zuletzt, als es beinahe schon tagte, versank Lucia, den Namen ihrer Beschützerin halb auf den Lippen, in einen tiefen, anhaltenden Schlaf.

Aber es war noch jemand in derselben Feste, der gern ein Gleiches hätte tun mögen und es doch nicht konnte. Nachdem er sich von Lucia entfernt hatte oder fast von ihr entflohen war, nachdem er für ihr Abendessen Sorge getragen und noch gewissen Posten des Kastells einen gewohnten Besuch abgestattet, derweil ihm jenes lebendige Bild immer vor der Seele stand und jene Worte im Ohre widerhallten, war der Herr in sein Schlafgemach gestürzt, hatte sich hastig darin verschlossen, als ob ein Feind, der stärker als er, draußen wäre, und sich niedergelegt, nachdem er sich hastig entkleidet hatte.

Aber es war, als ob jenes ihm gegenwärtige Bild dabei zu ihm sagte: »Du sollst nicht schlafen.«

»Was für eine alberne weibische Neugier,« dachte er, »mußte mich plagen, sie zu sehen? Er hat recht, der Tölpel, der Geier; man ist kein Mann mehr, man ist kein Mann mehr! ... Ich! ... bin ich kein Mann mehr, ich? Was ist geschehen? Was für ein Teufel muß mich plagen? Was gibt es denn Neues? Wußte ich es nicht im voraus, daß die Weiber winseln? Sogar die Männer winseln ja zuweilen, wenn sie sich nicht wehren können. Was der Teufel! Habe ich denn niemals Weiber wimmern hören?«

Und hier, ohne daß er sich weiter sehr anstrengte, es sich in das Gedächtnis zurückrufen, hielt ihm das Gedächtnis von selber mehr als einen Fall vor, in dem weder Bitten noch Klagen ihn bewogen hatten, von einmal beschlossenen Unternehmungen im mindesten abzulassen. Aber weit entfernt, daß jene Erinnerungen ihm, wie es schien, daß er es erwartete und wünschte, den ihm fehlenden Mut gegeben hätten, diese zu Ende zu führen, weit entfernt, das Mitleid in ihm zu ersticken, fügten sie vielmehr eine Art von Schrecken und Bestürzung noch hinzu, so daß es ihm eine Erleichterung dünkte, zu jener ersten Vorstellung von Lucia zurückzukehren, gegen die er gestrebt hatte, seinen Mut zu wappnen. »Sie lebt ja,« sagte er, »sie ist hier; ich bin in ihrer Nähe; ich kann zu ihr sagen: ›Geht hin, seid wieder getrost,‹; ich kann sehen, wie sich das Gesicht verwandelt; ich kann auch zu ihr sagen: ›Verzeiht mir ...‹; Verzeiht mir? Ich und um Verzeihung bitten? ein Weib? Ich! ... Ach, und dennoch! Wenn ein Wort, ein solches Wort mir wohltun, mir ein wenig von dieser Hölle abnehmen könnte, so würde ich es sagen; ja, so fühle ich, daß ich es sagen würde. Wohin ist es mit mir gekommen! Ich bin kein Mann mehr, ich bin kein Mann mehr! ... Weg da!« sprach er dann und wälzte sich ungestüm auf seinem Lager, das so hart, so hart geworden unter der Decke, die so schwer, so schwer auflag. »Weg! das sind Albernheiten, die mir schon ein andermal durch den Sinn gefahren sind. Sie werden auch diesmal vorübergehen.«

Und um sie vorübergehen zu lassen, suchte er mit den Gedanken irgend etwas Wichtiges, irgend etwas derart zu erfassen, das ihn lebhaft zu beschäftigen pflegte, um sie gänzlich darauf zu richten; aber er fand nichts derart. Alles kam ihm wie umgewandelt vor; was ehemals sein Verlangen am stärksten aufregte, hatte jetzt gar keinen Reiz mehr für ihn; die Leidenschaft, gleich wie ein Pferd, das mit einmal über einen Schatten störrisch geworden ist, den es plötzlich erblickt, wollte nicht mehr vorwärts. Gedachte er der eingeleiteten und nicht zu Ende gebrachten Unternehmungen, so empfand er, anstatt sich zu ihrer Ausführung zu ermutigen, anstatt sich durch die Hindernisse in Zorn setzen zu lassen – Zorn würde ihm in diesem Augenblick süß bedünkt haben – eine Betrübnis, gleichsam eine Bestürzung über die schon getanen Schritte. Die Zeit trat, alles Gewinnes, aller Wünsche, aller Tatkraft ledig, nur von unerträglichen Erinnerungen angefüllt, vor ihn hin; alle Stunden ähnlich der, die so träge, sein Haupt so niederdrückend über ihn hinschlich. Er ließ in der Einbildung alle seine feilen Knechte an sich vorübergehen, und er fand nicht das mindeste, das er einem von ihnen etwa aufzutragen gehabt hätte; schon der Gedanke, sie wiederzusehen, sich unter ihnen zu befinden, war ihm eine neue Last, ein Gedanke voll Widerwillen und Verwirrung. Und wenn er zu morgen dennoch ein Geschäft, eine zulässige Tat ausfinden wollte, so mußte er daran denken, daß er morgen jene arme Kleine in Freiheit setzen konnte.

»Ich will sie freilassen, ja; kaum, daß es tagt, so will ich zu ihr eilen und ihr sagen: ›Fort, fort.‹; Ich will sie geleiten lassen ... Und das Versprechen? Und die Verpflichtung? Und Don Rodrigo? ... Wer ist Don Rodrigo?«

Wie einer, der von einer unvermuteten und verwirrenden Frage eines Höheren überrascht wird, gedachte der Ungenannte alsbald auf diejenige zu antworten, die er sich selbst oder vielmehr die ihm sein neues Ich gestellt hatte, das mit einmal furchtbar anwachsend, wie um das alte zu richten, sich erhob. Er forschte also den Gründen nach, aus denen er, fast ehe er noch darum gebeten worden, sich hatte entschließen können, die Verpflichtung auf sich zu nehmen, ohne Haß und ungescheut eine unbekannte Unglückliche, jenem zu gefallen, so vieles erdulden zu lassen; aber nicht nur gelang es ihm nicht Gründe aufzufinden, die ihm in diesem Augenblick haltbar geschienen hätten, diese Tatsache zu entschuldigen, er kam fast sogar nicht einmal damit zustande, irgend recht zu begreifen, wie er sich dazu habe verleiten lassen. Dieser Wille vielmehr als etwa Erwägung, war eine augenblickliche Regung der altgewohnten Gefühle folgenden Seele, eine Folge von tausend vorgängigen Tatsachen gewesen, und so fand sich der gequälte Prüfer seiner selbst, um sich von einer einzigen Handlung Rechenschaft abzulegen, in die Untersuchung seines ganzen Lebens tief versenkt. Immer weiter zurück, von Jahr zu Jahr, von Unternehmung zu Unternehmung, von Blut zu Blut, von Ruchlosigkeit zu Ruchlosigkeit, stellte sich wieder eine jede, von den Empfindungen getrennt, die sie eingegeben und verschuldet hatten, dem bewußten und erneuten Gemüt dar, ja stellte sich ihm mit einer Scheußlichkeit dar, die diese Gefühle damals nicht darin hatten wahrnehmen lassen. Sie waren alle die seinigen, sie waren er: das bei einer jeden dieser Vorstellungen wieder auflebende, allen anklebende Entsetzliche dieses Gedankens steigerte sich bis zur Verzweiflung. Er richtete sich hastig zum Sitzen empor, fuhr mit den Händen rasch an die Wand neben dem Bette, wählte eine Pistole aus, ergriff sie, riß sie los und ... in dem Augenblick, da er ein ihm unerträglich gewordenes Leben enden wollte, drang sein Gedanke, von einer Furcht und Besorgnis befallen, die es sozusagen überlebten, in die Zeit hinein, die doch auch nach seinem Ende ihren ferneren Lauf nehmen würde. Er stellte sich mit Schauder seinen entstellten, regungslosen Leichnam vor; in der Willkür des Niedrigsten, der ihn überlebte; die morgende Überraschung, der Aufruhr in der Feste; alles drunter und drüber; er selber kraftlos, stumm, wer weiß wohin geworfen. Er stellte sich den Lärm vor, den das machen würde, das Gerede, das es darob hier, in der Nähe und Ferne geben würde, das Frohlocken seiner Feinde. Auch die Finsternis, auch die Stille trugen dazu bei, daß ihm der Tod noch trübseliger, noch schreckhafter vorkam; er meinte, er würde, hätte er sich am hellen lichten Tage draußen vor allen Leuten befunden, nicht gezaudert haben, sich in ein Wasser zu stürzen, um zu verschwinden. Und in diese qualvollen Betrachtungen vertieft, spannte er abwechselnd, mit krampfhafter Anstrengung des Daumens, den Hahn der Pistole und setzte ihn wieder in Ruhe, als ihm ein anderer Gedanke einfiel. – »Wenn jenes andere Leben, von dem sie mir vorgesagt haben, als ich ein Knabe war, von dem sie noch immer fort und fort reden, als ob es eine ausgemachte Sache wäre, wenn jenes Leben nicht ist, wenn es eine Erdichtung der Pfaffen ist; was mache ich dann? warum dann sterben? was hat dann das, was ich begangen habe, auf sich? was tut es? Es ist eine Narrheit von mir ... Und wenn dies andere Leben dennoch ist! ...« –

Über einen solchen Zweifel, über eine solche Ungewißheit verfiel er in eine noch schwärzere, noch drückendere Verzweiflung, der er nicht einmal mit dem Tode hätte entfliehen können. Er ließ die Waffe sinken, wühlte sich mit den Nägeln in den Haaren herum, klapperte mit den Zähnen und zitterte an allen Gliedern. Auf einmal kamen ihm Worte wieder ins Gedächtnis, die er schon vor wenigen Stunden wiederholt vernommen hatte: »Gott verzeiht ja viele Dinge um eines Werkes der Barmherzigkeit willen.« Und zwar vernahm er sie nicht in jenem Tone demütiger Bitte, mit dem sie gesprochen worden waren; sondern vielmehr erklangen sie mit höchstem Nachdruck, der zugleich einer entfernten Hoffnung Raum gab. Es war dies ein Moment der Erleichterung; er nahm die Hände von den Schläfen und richtete in ruhigerer Haltung die Augen seines Geistes auf diejenige, die diese Worte gesprochen hatte, und er erblickte sie nicht als seine Gefangene, als eine Bittende, sondern mit dem Wesen dessen, der Gnade und Trost austeilt. Er erwartete ungeduldig den Tag, um sie eilends freizulassen, um aus ihrem Munde andere Worte der Erquickung und des Lebens zu hören; er dachte daran, sie selbst zu der Mutter zurückzuführen. – Und hernach? Was soll ich morgen anfangen, den übrigen Tag? was soll ich übermorgen tun? was überübermorgen? Und die Nacht? die nach zwölf Stunden wiederkehren wird! Ach, die Nacht! nein, nein, die Nacht!« –

Und in die endlose Leere der Zukunft zurückversunken, suchte er vergeblich nach einer Ausfüllung der Zeit, danach, wie er die Tage und die Nächte verbringen möchte. Bald nahm er sich vor, die Feste zu verlassen und in ferne Lande fortzugehen, wo man nicht von ihm reden gehört; aber er fühlte wieder, daß doch er, er immerdar sich folgen würde; bald lebte eine dunkle Hoffnung in ihm auf, dem alten Mut, die alten Lüste wiederzugewinnen, und daß dies gleichsam ein flüchtiger Fieberwahn wäre. Bald scheute er sich vor dem Tageslicht, das ihn den Seinigen so jämmerlich verwandelt zeigen würde; bald ersehnte er es, gleich als ob es auch in seine Gedanken Licht bringen sollte. Und siehe da! gerade als es anfing zu tagen, wenige Augenblicke später, als Lucia eingeschlafen war, indem er regungslos dasaß, hörte er, wie die Woge eines nicht recht bestimmten Getönes, dem aber eine gewisse Feierlichkeit zu eigen war, an sein Ohr schlug. Er horchte auf und erkannte ein fernes, volles Festgeläute; gleich nachher unterschied er das Echo des Berges, das von Zeit zu Zeit den Klang schwach wiederholte und mit ihm zusammenschmolz. Nach einer kleinen Weile hörte er eine andere nähere Glocke gleichfalls festlich läuten; dann noch eine andere. – »Was für eine Fröhlichkeit ist das? Worüber freut sich alles? Was haben sie für gute Zeit?« –

Er sprang von dem Dornenlager empor, kleidete sich in Eile halb an, ging und riß die Flügel eines Fensters auf und sah hinaus. Die Gebirge waren noch dunkel, der Himmel nicht sowohl umwölkt als über und über nur eine aschgraue Wolke. Aber bei der Helligkeit des schon angebrochenen Tages nahm man auf dem Wege im Talgrunde Leute wahr, die geschäftig vorübergingen, Leute, die aus den Türen traten und sich auf den Weg machten, alle in derselben Richtung nach der Mündung des Tales, rechts von der Feste hin, und es ließ sich das Festliche in Kleidung und Wesen der Wanderer erkennen. – »Was der Teufel haben sie? Was gibt's denn für eine Lust in dem verwünschten Lande?« – Und er rief einem getreuen Bravo zu, der in dem anstoßenden Gemach schlief, und fragte ihn, was die Ursache der Bewegung sei? Dieser, der nicht mehr davon wußte als er, erwiderte, er werde gleich Erkundigungen deswegen einziehen. Der Herr sah fortwährend aufmerksam dem beweglichen Schauspiele zu, das der zunehmende Tag mit jedem Augenblick deutlicher hervortreten ließ. Man sah Leute vorüberziehen und immer neue Leute zum Vorschein kommen: Männer, Frauen, Kinder, truppweise, paarweise, einzeln; der holte einen vor ihm Gehenden ein und gesellte sich zu ihm; jener machte sich an den ersten besten, dem er unterwegs begegnete, indem er aus dem Hause trat, und sie gingen miteinander wie Freunde auf eine verabredete Reise. Die Gebärden deuteten offenbar Eile und eine gemeinsame Freude an, und jener nicht zusammenstimmende, aber gleichbedeutende Widerhall der verschiedenen, teils mehr, teils minder nahen und austönenden Glocken schien gewissermaßen der gemeinsame Ausdruck dieser Gebärden und die Ergänzung der Worte zu sein, die nicht bis dort hinaufdringen konnten. Er schaute und schaute, und es erwuchs ihm im Herzen mehr als Neugier, zu erfahren, was eine so einhellige Freudigkeit, einen so gleichen Willen in so vielen verschiedenartigen Menschen hervorrufen könnte.


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