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Die Feste des Ungenannten lag über einem engen schattigen Tale auf dem Gipfel einer Anhöhe, die aus einer rauhen Bergkette hervorragt, und ist, man würde nicht recht zu sagen wissen, ob durch eine Menge Felsklippen oder Abhänge, und durch ein Irrsal von Klüften und Gründen, sowohl von hinten als auf den Seiten, mit ihr verbunden oder von ihr getrennt. Die Seite nach dem Tale zu ist die einzig zugängliche; ein ziemlich steiler, gleichmäßiger und ununterbrochener Abhang; auf der Höhe Triften, nach dem Fuße zu Ackerland und hier und da vereinzelte Wohnungen. Der Grund ist ein Bett von großen Kieseln, durch die je nach der Jahreszeit ein kleiner Bach oder ein starker Strom fließt, der damals die Grenze der beiden Länder ausmachte. Die gegenüberliegenden Gipfel, die sozusagen die andere Talwand bilden, haben auch einen allmählich gesenkten und ein wenig bebauten Fuß, aber nur auf eine kurze Strecke; das übrige sind Klippen und Gestein, jähe Stürze, unwegsam und nackt, bis auf einiges Strauchwerk in den Ritzen und Erdaufwürfen.
Von der Höhe der Feste herab, wie der Geier von seinem blutigen Horste aus, beherrschte der wilde Herr die ganze Gegend in der Runde umher, wo nur ein menschlicher Fuß treten konnte und hörte keinen sich über seinem Haupte regen. Mit einem Blicke der Augen durchschweifte er die ganze Öde, die Schlüfte, den Talgrund, die darin gebahnten Wege.
Der Weg, welcher sich im Zickzack zu dem furchtbaren Wohnsitz emporwand, lag dem Hinunterblickenden wie ein geschlängeltes Band vor, von den Fenstern, von den Schießscharten aus konnte der Gebieter gemächlich die Schritte dessen zählen, der heraufstieg, und ihn hundertmal aufs Korn nehmen. Und auch von einem starken Trupp Angreifer hätte er, mit der Besatzung von Bravi, die er da unten hielt, gar manchen auf dem Fußpfade niederstrecken oder in das Tal hinabstürzen können, ehe ein einziger den Gipfel erreichte. Übrigens unterfing sich keiner, nicht bloß da unten hin, sondern auch nicht einmal in das Tal einen Fuß zu setzen oder durch dasselbe hindurchzugehen, der nicht mit dem Herrn der Feste gut stand. Der Häscher nun gar, der sich darin hätte blicken lassen, würde wie ein feindlicher Spion, den man in einem Lager aufgefangen, behandelt worden sein. Man erzählte sich von den letzten, die das Wagestück hatten unternehmen wollen, trübselige Geschichten; aber das waren eben schon alte Geschichten, und kein einziger der jungen Talbewohner erinnerte sich, einen dieses Schlages weder lebendig noch tot dort gesehen zu haben.
Eine solche Schilderung gibt uns der Ungenannte vom Orte, vom Namen nichts; ja, um uns auch nicht auf den Weg zu bringen, ihn zu entdecken, sagt er ebensowenig von Don Rodrigos Reise, und versetzt ihn mit einem Sprunge mitten in das Tal, an den Fuß der Anhöhe, wo der steile und gewundene Fußpfad anhob. Hierselbst war eine Schenke, die man auch hätte ein Wachthaus nennen können. Ein altes über der Tür aufgehangenes Schild zeigte auf beiden Seiten eine gemalte strahlende Sonne; aber die Stimme des Volkes, die mitunter die Namen wiederholt, so wie sie ihr gelehrt werden, zuweilen sie auf ihre Weise verkehrt, bezeichnete diese Schenke nur mit dem Namen der »Übeln Nacht.«
Bei dem Geräusch eines nahenden Pferdes erschien auf der Schwelle ein mit Messern und Pistolen wohlbewehrter loser Bube, der, nachdem er einen Blick darauf geworfen, hineinging, um drei Raubgesellen zu unterrichten, die am Tische mit gewissen schmutzigen, wie Dachziegel zusammengerollten Karten spielten. Der, welcher der erste zu sein schien, stand auf, begab sich an den Eingang und verbeugte sich, sobald er einen Freund seines Gebieters erkannt hatte. Don Rodrigo erwiderte den Gruß sehr höflich und fragte, ob der Herr in der Feste zugegen sei, und da ihm der schuftige Häuptling antwortete, er glaube, ja, so stieg er vom Pferde und warf den Zügel dem Treffer, einem aus seinem Gefolge, zu. Er nahm darauf die Büchse von der Schulter und stellte sie dem Bergläufer zu, wie um sich einer unnützen Last zu entledigen und geschwinder hinaufzukommen; aber in der Tat, weil er wohl wußte, daß den Abhang hinauf es nicht erlaubt war, Schießgewehr bei sich zu führen. Dann zog er einige Berlinghen aus der Tasche, die er dem Lochbohrer gab, und sagte zu ihm: »Ihr erwartet mich und mögt Euch einstweilen mit den braven Leuten lustig machen.« Endlich langte er einige Goldscudi hervor, händigte sie dem Häuptlinge ein und bedeutete ihn, daß die Hälfte davon ihm gehöre und er die andere Hälfte unter seine Leute verteilen möge. Und nunmehr trat er mit dem Grauen, der seine Büchse gleichfalls abgelegt hatte, den Aufgang zu Fuße an. Die drei obgenannten Bravi und der Zerreißer, der der vierte war – man sieht, die Namen sind schön genug, um so sorgfältig von uns aufbewahrt zu werden –, blieben unterdessen bei den dreien des Ungenannten und bei dem losen zum Galgen großgezogenen Buben zurück, um zu spielen, zu zechen und sich wechselweise ihre Heldentaten zu erzählen.
Ein anderer Raufbold des Ungenannten, der hinaufstieg, holte Don Rodrigo bald nachher ein; er sah ihn an, erkannte ihn und gesellte sich zu ihm, und ersparte ihm also den Verdruß, seinen Namen zu sagen und allen anderen, denen er begegnet wäre, und die ihn nicht gekannt hätten, wiederholt über sich Auskunft zu erteilen.
Bei der Feste angelangt und eingelassen, wiewohl der Graue an der Tür zurückbleiben mußte, ward er durch ein Wirrsal von finsteren Flurgängen und durch mehrere Säle geführt, deren Wände voller Musketen, Säbel und Partisanen, und in deren jedem ein Bravo Wache hielt, und nachdem er ein wenig gewartet hatte, wurde er in den Saal eingelassen, wo sich der Ungenannte befand.
Dieser ging ihm entgegen und erwiderte seine Begrüßung, indem er ihn von oben bis unten mit dem Blicke maß und ihm besonders ins Gesicht und auf die Hände sah; wie er aus Gewohnheit, und nunmehr fast unwillkürlich mit jedem tat, der zu ihm kam, und wenn er zu seinen ältesten und geprüftesten Freunden gehörte. Er war von hoher Gestalt, hager, kahlköpfig; beim ersten Anblick hätte man von dieser Kahlheit, von dem Grau der wenigen Haare, die ihm noch verblieben waren, und von den Runzeln des Gesichts auf ein weit in die sechziger Jahre, die er doch kaum überschritten hatte, vorgerücktes Alter schließen mögen; die Haltung und die Bewegungen, die empfindliche Härte der Gesichtszüge, und ein verschlossenes Feuer, das ihm aus den Augen sprühte, verrieten eine Rüstigkeit an Leib und Seele, die selbst in einem Jünglinge außerordentlich gewesen sein würden.
Don Rodrigo sagte, er komme um Rat und Hilfe willen; in einem mißlichen Unternehmen begriffen, aus dem seine Ehre ihm nicht gestatte, sich zurückzuziehen, habe er sich der Versprechungen des Mannes erinnert, der niemals weder zu viel noch eitel verspreche, und setzte ihm dann seinen nichtswürdigen Handel auseinander.
Der Ungenannte, der bereits etwas davon wußte, hörte seine Erzählung aufmerksam an; teils weil er solche Geschichten liebte, teils weil in diese ein ihm bekannter und höchst verhaßter Name, der des Bruders Cristoforo verwickelt war, der alle Tyrannen mit Wort und, wo er konnte, mit der Tat bekämpfte.
Der Erzähler begann darauf vorsätzlich die Schwierigkeiten der Sache zu übertreiben; die Entfernung des Ortes, ein Kloster, das Fräulein! ... Hier fiel ihm der Ungenannte plötzlich, als ob ein in seinem Herzen versteckter böser Geist es ihm geboten hätte, in die Rede und sagte, er nehme die Sache auf sich. Er zeichnete sich den Namen unserer armen Lucia auf und schickte Don Rodrigo wieder mit den Worten fort: »Binnen kurzem sollen Sie von mir Nachricht erhalten, was Sie zu tun haben.«
Wenn der Leser sich jenes unseligen Egidio erinnert, der neben dem Kloster wohnte, worin die arme Lucia Zuflucht genommen hatte, so wisse er jetzt, daß derselbe einer der vertrautesten und engverbundensten Genossen war, die der Ungenannte unter den Gottlosen hatte; weshalb eben dieser so rasch und entschlossen sein Wort abgegeben hatte.
Indessen sah er sich nicht sobald wieder allein, als er auch, ich will nicht sagen, bereute, sich aber doch ärgerte, es verpfändet zu haben. Schon seit einiger Zeit fing er an, wo nicht Gewissensbisse über seine Verbrechen, so doch einen gewissen Überdruß daran zu empfinden. All die vielen, freilich mehr in seinem Gedächtnisse als in seinem Gewissen angehäuften Untaten wurden bei einer jeden neuen, die er beging, wieder wach und stellten sich unbehaglich und nur allzu zahlreich dem Gemüte vor; es war, wie wenn eine schon beschwerliche Last immer mehr und mehr ins Gewicht fiele. Ein gewisser Widerwille, den er bei den ersten Verbrechen empfunden und dann überwunden und fast ganz ausgetilgt hatte, machte sich ihm jetzt abermals fühlbar. Aber in jenen ersten Zeiten erfüllte das Bild einer langen, unbestimmten Zukunft, das Gefühl einer frischen Lebenskraft das Gemüt mit einer sorglosen Zuversicht: jetzt im Gegenteil waren es eben die Gedanken an die Zukunft, die die Vergangenheit am lästigsten machten. – Altern! sterben! Und alsdann? – Und, wie bemerkenswert! Die Vorstellung des Todes, die, in einer nahen Gefahr, einem Feinde gegenüber, die Lebensgeister dieses Mannes um das Doppelte zu erhöhen und ihm einen mutvollen Zorn einzuflößen pflegte, eben dieselbe Vorstellung, wenn sie in der Stille der Nacht, in der Sicherheit seiner Feste über ihn kam, versetzte ihn in eine unversehene Verwirrung. Es war nicht der von einem gleichfalls sterblichen Feinde angedrohte Tod; er war nicht mit stärkeren Waffen und mit einem rascheren Arme abzuwehren; er kam allein, er erzeugte sich innerlich; er war vielleicht noch fern, aber jeden Augenblick tat er einen Schritt, und während der Geist sich peinlich anstrengte, den Gedanken daran zu entfernen, nahte er heran. In den ersten Zeiten hatten ihm die so häufigen Beispiele, das gewissermaßen unausgesetzte Schauspiel der Gewalttätigkeit, der Rache, des Mordes, indem sie ihn mit einem wilden Nacheifer beseelten, auch wie mit einer Art von Gewicht gegen das Gewissen gedient; jetzt ging ihm nach und nach der verworrene, aber furchtbare Gedanke an eine jedem einzelnen gewährte Urteilskraft, an eine vom Beispiele unabhängige Vernunft auf; jetzt teilte sich ihm zuweilen darin, daß er aus dem gemeinsamen Haufen der Bösen hervorgetreten, daß er es allen zuvorgetan, das Gefühl einer grausenhaften Einsamkeit mit. Den Gott, von dem er reden gehört hatte, aber den es ihm seit langer Zeit nicht beigekommen war, weder zu verleugnen noch anzuerkennen, indem er nur damit umging, zu leben, als ob derselbe nicht da wäre, den Gott glaubte er jetzt, in gewissen Momenten der Niedergeschlagenheit, ohne besondere Ursache des Schreckens, ohne Gefahr in sich rufen zu hören: »Ich bin dennoch!« In der ersten Hitze der Leidenschaften hatte ihm das Gesetz, das er doch in seinem Namen verkündigen gehört, nur verhaßt gedeucht; jetzt, wenn es ihm unvermutet in den Sinn kam, begriff es wider Willen sein Verstand wie eine Sache, die ihre unausbleiblichen Folgen hat. Aber nicht etwa, daß er, weder im Reden noch im Tun, von dieser neuen Unruhe jemals etwas hätte durchscheinen lassen, verbarg er sie vielmehr und bemäntelte sie damit tief unter dem Anscheine einer desto heftigeren und unergründlicheren Wildheit und suchte sogar mittels dessen sie sich selber zu verhehlen oder sie zu ersticken. Er dachte voll Neid jener Zeiten, da er sie einmal nicht vernichten oder vergessen konnte, in denen er gewohnt war, die Ruchlosigkeit ohne Reue, ohne andere Bekümmernis als die um den Erfolg zu begehen, und strebte mit aller Kraft danach, daß sie wiederkämen, daß er jenen alten vollen, kecken, unbehinderten Willen behauptete oder wiedererlangte, daß er sich selbst überzeugte, noch jener Mensch zu sein.
So hatte er denn nun bei dieser Gelegenheit auf der Stelle Don Rodrigo sein Wort verpfändet, um jedem Zaudern den Zugang zu versperren. Aber kaum, daß jener fort war, fühlte er neuerdings die Entschlossenheit schwächer werden, die er sich auferlegt hatte, um zu versprechen, fühlte er nach und nach Gedanken in seinem Geiste entstehen, die ihn versuchten, dem Worte untreu zu werden und ihn hätten dahinbringen können, sich gegen einen Freund, gegen einen untergeordneten Genossen etwas zu vergeben. Um diesen peinlichen Kampf mit einmal abzubrechen, berief er den Geier zu sich, einen der gewandtesten und verwegensten Diener seiner Abscheulichkeiten; es war derselbe, dessen er gewohnt war, sich in seinem Verkehr mit Egidio zu bedienen. Und mit entschlossener Miene gebot er ihm, sofort zu Pferde zu steigen, geradeswegs nach Monza zu reiten, Egidio die übernommene Verpflichtung kundzutun und von ihm Anleitung und Beistand zu begehren, um ihr zu genügen.
Der verruchte Bote kehrte schneller, als sein Herr es erwartet hätte, mit der Antwort von Egidio zurück, daß das Unternehmen leicht und sicher sei; der Ungenannte solle unverzüglich eine Kutsche, die nicht gekannt, mit zwei oder drei wohlvermummten Bravi absenden; Egidio nehme die Sorge für alles übrige auf sich und werde die Sache ausführen. Was dabei auch in der Seele des Ungenannten vorging, so gab er doch auf die Anzeige hin dem Geier selbst den schleunigen Befehl, demgemäß alles vorzubereiten und mit zwei anderen, die er bestimmte, zu dem Unternehmen aufzubrechen.
Wofern Egidio, um den schmählichen Dienst zu leisten, der von ihm gefordert worden war, nur seine gewöhnlichen Hilfsmittel allem anzuwenden gehabt hätte, so würde er sicherlich nicht so ungesäumt eine so unbedingte Zusage erteilt haben. Aber in jener Freistätte selbst, wo es schien, als ob alles hinderlich werden müsse, hatte der gottlose Jüngling ein ihm allein bekanntes Hilfsmittel, und was eben für andere die allergrößte Schwierigkeit gewesen sein würde, diente ihm als Werkzeug.
Wir haben berichtet, wie das unselige Fräulein dereinst einer Anrede von seiner Seite Gehör lieh, und der Leser mag verstanden haben, daß dies eine Mal nicht das letzte blieb, wohl aber der erste Schritt auf einem verabscheuungswürdigen, blutigen Wege ward. Die nämliche Stimme, die eine gebieterische und, ich möchte fast sagen, eine das Verbrechen beglaubigende geworden war, legte ihr jetzt das Opfer der Unschuldigen auf, die man ihrem Schutze anvertraut hatte.
Der Antrag versetzte Gertrude in Schrecken. Sie würde es schon für ein Unglück, für eine schwere Züchtigung am gesehen haben, hätte sie Lucia unverschuldeterweise, etwa durch einen unvermuteten Unfall eingebüßt, und es wurde ihr zugemutet, sich ihrer mittels einer schändlichen Treulosigkeit zu berauben, ein Sühnungsmittel in eine neue Gewissensqual zu verkehren. Die Unglückliche versuchte es auf jede Weise, sich dem entsetzlichen Gebote zu entziehen, auf allen Wegen, nur auf dem einzigen nicht, auf dem es ihr unfehlbar gelungen sein würde, und der ihr doch offen stand. Die Sünde ist eine gestrenge, unerbittliche Gebieterin, gegen welche nur derjenige stark ist, der sich völlig gegen sie empört. Dazu wollte sich Gertrude nicht entschließen, und so gehorchte sie. –
Es war der festgesetzte Tag da, die verabredete Stunde nahte; Gertrude hatte sich mit Lucia in ihr geheimes Sprechzimmer zurückgezogen, wo sie ihr noch größere Liebkosungen als gewöhnlich erwies, und Lucia empfing und erwiderte dieselben mit steigender Zärtlichkeit, so wie das Schaf, das furchtlos unter der Hand des Schäfers, die es anfaßt und sanft mit sich fortzieht, sich umwendet und diese Hand leckt und nicht weiß, daß draußen vor dem Schafstalle der Schlächter wartet, dem es der Schäfer vor einem Augenblicke verkauft hat.
»Ich bedarf eines großen Dienstes, und du allein kannst ihn mir erweisen. Ich habe so viele Leute, die bereit sind, mir zu gehorchen, aber keinen Menschen, auf den ich mich verlassen kann. In einer äußerst wichtigen Angelegenheit, von der ich dir nachher sagen werde, habe ich flugs mit dem Pater Guardian der Kapuziner zu sprechen, der dich, meine arme Lucia, hier zu mir hergebracht hat; aber es ist auch vonnöten, daß niemand wisse, ich habe ihn selbst rufen lassen. Ich habe nur dich, um diesen Auftrag insgeheim auszuführen ...«
Lucia entsetzte sich über ein solches Verlangen, und mit all ihrer Blödigkeit, wiewohl nicht ohne einen starken Ausdruck von Verwunderung, brachte sie sogleich, um sich davon loszumachen, die Gründe vor, die dem Fräulein einleuchten mußten, die es hatte vorhersehen mögen: ohne die Mutter, ohne Begleitung, eine einsame Straße, an einem unbekannten Orte ... Aber die in einer höllischen Schule abgerichtete Gertrude bezeigte auch ihrerseits eine solche Verwunderung und einen solchen Mißmut, so viel Widerspenstigkeit bei derjenigen anzutreffen, der sie so viele Wohltaten erwiesen hatte, stellte sich an, ihre Ausflüchte für so eitel anzusehen! Am hellen Tage, einen kleinen Gang, eine Straße, über die Lucia erst vor wenigen Tagen gekommen war, und die man schon auf die bloße Angabe hin, wenn man sie auch nie gesehen, nicht verfehlen konnte! ... Sie sagte so vielerlei, daß die Ärmste, von Dankbarkeit und Scham zu gleicher Zeit angespornt, sich die Worte entschlüpfen ließ: »Nun wohl denn, was habe ich zu tun?«
»So geh nach dem Kapuzinerkloster,« und sie beschrieb ihr den Weg wiederholt; »laß den Pater Guardian rufen, sage ihm, er solle flugs zu mir kommen; aber ja niemand merken lassen, daß dies auf meinen Antrieb geschehe.«
»Aber was soll ich der Schaffnerin sagen, die mich noch niemals hat ausgehen sehen, und mich fragen wird, wohin ich will?«
»So vorbeizukommen, ohne gesehen zu werden, und wenn dir das nicht gelingt, so sage ihr, du gingest in die und die Kirche, wo du gelobt habest, deine Andacht zu verrichten.«
Eine neue Verlegenheit für Lucia, zu lügen; aber das Fräulein nahm ihren Widerspruch von neuem so übel auf, beschämte sie so sehr damit, daß ihr eine nichtige Bedenklichkeit über die Dankbarkeit ginge, daß die Ärmste, mehr betäubt als überzeugt, und vor allem von diesen Worten gerührt, antwortete: »Nun wohl, ich gehe. Gott helfe mir!« und sich entfernte.
Als Gertrude, die ihr vom Gitter aus mit finsterem, starrem Blick folgte, sie den Fuß über die Schwelle setzen sah, bewegte sie, wie von einem unwiderstehlichen Gefühl überwältigt, die Lippen und sagte: »Höre, Lucia!«
Diese wandte sich und kehrte zum Gitter zurück.
Aber schon war ein anderer Gedanke, ein Gedanke, gewohnt vorzuherrschen, in Gertrudens unseligem Geiste durchgedrungen. Sich den Anschein gebend, als genügten die schon erteilten Anweisungen nicht, beschrieb sie Lucia nochmals den Weg, den sie zu nehmen habe, und entließ sie mit den Worten: »Tue in allem, was ich dir gesagt, und komm gleich wieder.« Lucia ging fort.
Sie kam unbemerkt an der Pforte des Klosters vorbei, schlug mit gesenkten Augen den Weg längs der Mauer ein, fand nach den erhaltenen Angaben und mit den eigenen Erinnerungen das Tor des Fleckens und ging hinaus. Sie wanderte ganz in sich gekehrt und ein wenig zitternd auf der Landstraße hin, gelangte bald an die Stelle, wo der Weg abging, der nach dem Kloster führte, und erkannte ihn wieder. Dieser Weg war damals und ist noch jetzt nach Art eines Flußbettes zwischen zwei hohen Uferwänden eingesenkt und mit Bäumen besetzt, die sich darüber zusammenwölben. Sowie Lucia ihn betrat und so völlig einsam sah, fühlte sie ihre Furcht zunehmen und beeilte ihre Schritte; aber nach einer kleinen Strecke ermutigte sie sich wieder ein wenig, da sie einen haltenden Reisewagen und daneben vor dem offenen Schlage zwei Reisende wahrnahm, die, wie des Weges ungewiß, umherschauten. Näher hinzugekommen, hörte sie einen von beiden sagen: »Sieh, da ist ein gutes Mädchen, das uns zurechtweisen wird.« Und als sie sich bei der Kutsche befand, wendete sich derselbe mit einer höflicheren Gebärde, als ihm ähnlich sah, um und sagte: »Mein Kind, könnt Ihr uns wohl den Weg nach Monza zeigen?«
»Sie fahren nach der unrechten Seite zu,« antwortete die arme Kleine. »Monza liegt dort ...« und sie wandte sich eben zurück, um mit dem Finger hinzudeuten, als der andere Geselle – es war der Geier – sie unversehens mitten um den Leib faßte und vom Boden aufhob. Lucia drehte entsetzt den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus; der Räuber trug sie in die Kutsche; einer, der noch außerdem auf dem Hintersitze drinnen saß, erfaßte sie und zwang die Kreischende, die sich vergebens wand, sich ihm gegenüber niederzusetzen, ein anderer stopfte ihr ein kleines Tuch in den Mund und erstickte ihr das Schreien in der Kehle. Währenddessen warf sich auch der Geier hastig in die Kutsche, der Schlag wurde zugemacht, und die Kutsche jagte in vollem Laufe von dannen. Der Räuber, welcher die verräterische Frage an sie gerichtet hatte und auf dem Wege geblieben war, sah sich eiligst allenthalben um: es war niemand da; er tat einen Satz zu der einen Wand empor, erfaßte ein Stämmchen der Hecke, die da oben hingepflanzt war, schwang sich hinüber, sprang in ein Eichengebüsch, das sich eine Strecke längs der Straße hinzog und verbarg sich darin, um nicht etwa von den Leuten gesehen zu werden, die auf den Schrei herzulaufen könnten. Er war einer von Egidios Spießgesellen; er hatte in der Nähe der Klosterpforte auf der Lauer gestanden, hatte Lucia herauskommen sehen, Kleidung und Gestalt sich gemerkt, und war querfeldein voraus, gelaufen, um sie an der verabredeten Stelle zu erwarten.
Wer vermöchte nun wohl den Schrecken, ihre Angst zu beschreiben, anzudeuten, was in ihrem Gemüte vorging? Sie riß die scheuen Augen weit vor Bangen auf, um ihre fürchterliche Lage zu erkennen, und machte sie doch, vor Entsetzen über diese wilden Gesichter schaudernd, gleich wieder zu; sie wollte sich loswinden, aber sie ward von allen Seiten gehalten; sie raffte alle ihre Kräfte zusammen und drängte ungestüm nach dem Kutschenschlage hin; jedoch zwei nervige Arme hielten sie wie angenagelt auf dem Hintersitze des Wagens fest, vier andere Riesenfäuste kamen ihnen dabei zu Hilfe. Ein jedesmal, wenn sie Miene machte, einen Schrei auszustoßen, erstickte das Tuch ihr denselben im Halse, während drei Höllenschlünde mit der menschlichsten Stimme, die ihnen gegönnt war, immerfort wiederholten: »Still, still, fürchtet Euch nicht, wir wollen Euch nichts tun.«
Nach einigen Augenblicken eines so angstvollen Kampfes schien sie sich zu beruhigen; die Arme erschlafften ihr, sie ließ das Haupt zurücksinken, bezwang die Augenlider nur mühsam vor dem Zufallen, derweil das Auge unbeweglich blieb, und die scheußlichen Fratzen vor ihr schienen sich ihr aufzulösen und zu einem unförmlichen Gemisch ineinander zu wallen; das Blut trat ihr aus dem Antlitz zurück; ein kalter Schweiß überzog es, sie brach zusammen und sank in Ohnmacht.
»Auf, auf, Mut!« sprach der Geier. »Mut, Mut!« wiederholten die anderen beiden Schurken; aber die Betäubung aller Sinne bewahrte in diesem Moment Lucia davor, die Tröstungen dieser abscheulichen Stimmen zu hören.
»Teufel! sie scheint tot,« sagte einer von ihnen; »wenn sie im Ernst tot wäre!«
»Uf!« sagte der andere; »'s ist so eine Ohnmächtigkeit, wie sie die Frauenzimmer gleich ankommt. Ich weiß ja doch, wenn ich ein Manns- oder Weibsbild in die andere Welt habe schicken wollen, daß da mehr dazu gehört hat.«
»Ei was!« sagte der Geier, »tut eure Schuldigkeit und bekümmert euch um nichts weiter. Langt die Schießprügel unterm Sitze vor und haltet sie fertig; in dem Holze, in das wir jetzt kommen, sind beständig Spitzbuben eingenistet. Nicht so in der Hand, zum Teufel! wieder hinter euch damit, hingelegt! Seht ihr nicht, daß das Gänschen da um nichts und wieder nichts kalt wird. Wenn sie nun gar Gewehre sieht, ist sie imstande, einem unter der Hand zu sterben. Und wenn sie erst wieder bei sich ist, seht euch wohl vor, daß ihr sie nicht ängstigt; ihr rührt sie nicht an, ehe ich euch einen Wink dazu gebe; um sie festzuhalten, braucht's weiter keinen als mich. Und still: laßt mich reden.«
Unterdessen war die Kutsche, immer aufs rascheste zu, fahrend, in den Wald gelangt.
Nach einer Weile fing die arme Lucia an, wie nach einem tiefen und beängstigenden Schlafe, wieder zur Besinnung zu kommen und schlug die Augen auf. Sie mühte sich einige Zeit ab, die schmutzigen Gegenstände zu unterscheiden, die sie umgaben, ihre Gedanken zu sammeln, endlich begriff sie aufs neue wieder ihre schauderhafte Lage. Der erste Gebrauch, den sie von den zurückgekehrten geringen Kräften machte, war, daß sie sich auf den Kutschenschlag warf, um sich hinauszustürzen, aber sie ward abgehalten und konnte nur auf einen Augenblick die wilde Einsamkeit der Gegend sehen, die sie durchfuhr. Sie hob noch einmal an zu schreien, aber der Geier erhob die Faust mit dem Tuche und sagte zu ihr so sanft er konnte: »Verhaltet Euch ruhig, es kommt Euch zu gut, wir wollen Euch nichts Böses zufügen, aber wenn Ihr nicht stillschweigt, so werden wir Euch zur Ruhe bringen.«
»Laßt mich gehen! Wer seid Ihr? Wo bringt Ihr mich hin? Warum habt Ihr mich gefangen? Laßt mich gehen, laßt mich gehen!«
»Ich sage Euch, seid ohne Furcht; Ihr seid ja kein kleines Kind und müßt doch einsehen, daß wir Euch nichts tun wollen. Seht Ihr nicht, daß wir Euch hätten hundertmal umbringen können, wenn wir Böses mit Euch im Sinne hätten? Darum gebt Euch zufrieden.«
»Nein, nein, laßt mich meines Weges gehen; ich kenne Euch nicht.«
»Wir kennen Euch recht gut.«
»O heilige Jungfrau! Laßt mich gehen, aus Barmherzigkeit. Wer seid Ihr? Warum habt Ihr mich gefangen?«
»Weil es uns so befohlen worden ist.«
»Wer? wer? Wer kann es Euch befohlen haben?«
»Still!« sagte der Geier, und zog ihr ein gestrenges Gesicht. An uns stellt man keine solchen Fragen.«
Lucia versuchte nochmals unversehens zum Schlage zu stürzen; da sie jedoch sah, daß es vergebens war, so legte sie sich wiederholt aufs Bitten, und, vorgeneigten Angesichts, die Wangen mit Tränen benetzt, die Stimme von Schluchzen unterbrochen, die gefalteten Hände vor den Lippen, sagte sie: »Oh! um Gottes und der heilgen Jungfrau willen, laßt mich gehen! Was habe ich Euch getan? Ich bin ein armes Geschöpf, das niemand Böses zugefügt hat. Das, was Ihr mir zugefügt habt, vergebe ich Euch von Herzen, und ich werde Gott für Euch bitten. Wenn auch Ihr eine Tochter, ein Weib, eine Mutter habt, so bedenkt, was sie leiden würden, wenn sie in dieser Lage wären. Erinnert Euch, daß wir alle sterben müssen, und daß Ihr eines Tages wünschen werdet, daß Gott sich Eurer erbarme. Laßt mich gehen, laßt mich hier; der Herr wird mich meinen Weg finden lassen.«
»Wir können nicht.«
»Ihr könnt nicht? Oh, Herr! Warum könnt Ihr nicht? Wohin wollt Ihr mich führen? Warum ...?«
»Wir können nicht, es ist umsonst; fürchtet Euch nicht, wir wollen Euch nichts tun; verhaltet Euch ruhig, so soll Euch niemand anrühren.«
Immer beklommener, bekümmerter und bestürzter, da sie sah, daß ihre Worte nichts fruchteten, wandte sich Lucia zu dem, der die Herzen der Menschen in seiner Hand hält und auch die härtesten erweichen kann, sobald er will. Sie drückte sich in die Ecke wo sie saß, verschränkte die Arme über der Brust und betete inbrünstig im Herzen, darauf zog sie den Rosenkranz aus der Tasche und begann ihn gläubiger und andächtiger herzusagen, als sie noch jemals in ihrem Leben getan. Von Zeit zu Zeit hoffte sie das Erbarmen, um das sie flehte, erlangt zu haben, und schickte sich wieder an, jene zu bitten, aber immer vergebens. Dann sank sie wieder zurück, ihrer Stimme abermals beraubt, dann fand sie sie wieder, um zu neuen Ängsten aufzuleben. Aber jetzt reicht uns der Mut nicht aus, diese ferner zu schildern: ein allzu schmerzliches Mitleid treibt uns an das Ziel dieser Reise, die länger als vier Stunden währte, und nach welcher wir auch noch andere angstreiche Stunden werden zu überstehen haben. Wir versetzen uns also in das feste Schloß, wo die Unglückliche erwartet wurde.
Sie wurde von dem Ungenannten mit ungewöhnlicher Ängstlichkeit und Seelenspannung erwartet. Seltsam! Er, der mit unbewegtem Herzen über so viele Leben geschaltet, der bei so vielen seiner Handlungen die Angst und Pein, die er hatte erdulden lassen, nur insofern beachtet, als er zuweilen eine grausame Rachlust darin schmeckte, empfand jetzt über die Willkür, die er gegen diese Lucia, gegen eine Unbekannte, ein geringes Landmädchen, ausübte, gleichsam einen Schauder, eine Reue, ja, ich möchte fast sagen, ein Entsetzen.
Von einem hohen Fenster seiner festen Burg aus schaute er seit einer Welle nach einer Öffnung des Tales, und siehe! da zeigte sich die Kutsche und kam langsam näher; denn jenes erste rasche Enteilen hatte den Mut der Pferde gedämpft und ihre Kraft gebrochen. Und obwohl das Geleite von dem Punkte aus, wo er es beobachtete, nicht größer als etwa so ein Wägelchen erschien, das die Kinder als Spielwerk ziehen, so erkannte er es dennoch gleich und fühlte ein erneutes und stärkeres Herzklopfen.
»Wird sie drin sein?« dachte er gleich und fuhr fort bei sich zu sprechen: »was für Verdruß mir die macht! Wir wollen sie uns vom Halse schaffen.«
Und er stand im Begriff, einen Raubgesellen zu rufen und auf der Stelle der Kutsche entgegenzuschicken, um dem Geier den Befehl zu hinterbringen, umzukehren und jene nach Don Rodrigos Schloß zu führen. Aber ein gebieterisches Nein, das alsbald in seinem Innern ertönte, machte diesen Vorsatz zunichte. Da ihm jedoch das Bedürfnis zusetzte, irgend etwas zu befehlen, insofern ihm das müßige Erwarten der Schritt vor Schritt – wie ein Verrat, was weiß ich? wie eine Züchtigung – herannahenden Kutsche unerträglich fiel, so ließ er eine alte Dienerin kommen.
Dieselbe war als die Tochter eines alten Wärters, in der Burg geboren, und hatte ihr ganzes Leben dort zugebracht. Was sie von der frühesten Kindheit an hier gesehen und gehört, hatte ihrem Geiste einen hochherrlichen und furchtbaren Begriff von der Macht ihrer Gebieter eingeprägt, und der Hauptgrundsatz, den sie sich aus Lehre und Beispiel abgezogen, war, daß man ihnen in allem gehorchen müsse, weil sie viel Gutes und viel Böses vermöchten. Der wie ein Keim in aller Menschen Herz gepflanzte Gedanke der Pflicht, der sich in dem ihren zugleich mit den Gefühlen einer Ehrerbietung, einer Angst, einer Anhänglichkeit, die knechtisch waren, entwickelte, hatte sich zu diesen gesellt und nach ihnen bequemt. Als der Ungenannte, Herr geworden, anfing, einen so furchtbaren Gebrauch von seiner Macht zu machen, empfand sie anfangs davor einen gewissen Abscheu, zugleich mit einem tieferen Gefühle von Unterwürfigkeit. Sie hatte sich mit der Zeit daran gewöhnt, was sie alle Tage sah und wovon sie alle Tage reden hörte: der mächtige und unbeschränkte Wille eines solchen Herrn war für sie gleichwie ein unvermeidliches Gericht. Schon bei Jahren, hatte sie einen Diener desselben geheiratet, der bald nachher auf ein gefährliches Unternehmen ausgezogen war und seine Gebeine auf einer Landstraße, sowie sie als Witwe in der Burg gelassen hatte. Die Rache, die der Herr unverzüglich für diesen Toten nahm, gewährte ihr einen grausamen Trost und erhöhte ihren Stolz, unter einem solchen Schutze zu stehen. Fortan setzte sie nur höchst selten den Fuß vor die Feste hinaus, und so verblieben ihr allmählich fast keine anderen Vorstellungen vom menschlichen Leben, als die sie an diesem Orte empfing. Sie war auf keinen besonderen Dienst angewiesen, aber von der Bande gab ihr bald der eine, bald der andere alle Augenblicke etwas zu tun, und das wurmte sie innerlich. Bald hatte sie Lumpen zu flicken, bald in der Eile einem, der von einem Unternehmen zurückkehrte, das Essen vorzubereiten, bald Verwundeten Arznei zu reichen. Und die Befehle dieser Menschen, die Vorwürfe, Danksagungen waren mit Spott und Schimpf gewürzt: Alte war der gewöhnliche Name, bei dem man sie rief; die Beiwörter, die ein jeder immer noch daranhing, waren je nach den Umständen und der Laune des Anredenden verschieden. In der Faulheit aber gestört und im Zorne gereizt, denn dies waren zwei ihrer vorherrschenden Leidenschaften, erwiderte sie diese Höflichkeiten zuweilen mit Worten, in denen Satanas mehr von seinem Geiste erkannt haben würde als in denen der Beleidiger.
»Du siehst da unten die Kutsche!« sagte der Herr zu ihr.
»Ich sehe sie,« versetzte sie, indem sie das spitzige Kinn vorreckte und die eingesunkenen Augen anstrengte, als ob sie sie aus den Rändern der Augenhöhlen hervorzudrängen suchte.
»Laß augenblicklich eine Sänfte zurechtmachen, setz dich hinein und laß dich flugs zur »Übeln Nacht« hinuntertragen, daß du noch früher hinkommst, als die Kutsche da ist; sie kommt schon mit dem Schritt des Todes heran. In der Kutsche ist ... soll ... ein Mädchen sein. Wenn sie drinnen ist, so sage dem Geier auf meinen Befehl, er solle sie in die Sänfte packen und gleich selber zu mir heraufkommen. Du setztest dich in die Sänfte, zu ... dem Mädchen, und sobald ihr hier oben seid, wirst du sie mit in deine Kammer nehmen. Fragt sie dich, wohin du sie führst, wem das Schloß gehört, so sieh dich wohl vor ...«
»Oh!« sprach die Alte.
»Aber,« fuhr der Ungenannte fort, »sprich ihr Mut zu.«
»Was soll ich ihr sagen?«
»Was du ihr sagen sollst? Mach ihr Mut, sage ich dir. Bist du so alt geworden und weißt nicht, wie man einem Mut macht, wenn es darauf ankommt! Hast du niemals Herzweh gehabt? Hast du niemals Furcht empfunden? Weißt du nicht, was für Worte in solchen Augenblicken wohltun? Sag ihr solche Worte, denk dir welche aus, das rat ich dir. Mach geschwind.«
Und sobald sie fort war, blieb er noch eine Weile am Fenster stehen und starrte auf die Kutsche hin, die schon viel größer aussah; darauf blickte er nach der Sonne, die sich in dem Moment hinter dem Berge verkroch; dann sah er in die darüber verstreuten dunkeln Wolken, die sich fast in einem Nu in feurige verwandelten. Er zog sich zurück, machte das Fenster zu und fing an, mit dem Schritte eines eilfertigen Wanderers im Zimmer auf und nieder zu gehen.