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In Erwartung der Stunde, zur Feier des Gottesdienstes in die Kirche zu gehen, beschäftigte sich der Kardinal Federigo, wie es seine Gewohnheit in allen kleinen Zwischenzeiten war, eben mit Studien, als der Kaplan Kreuzträger mit erblaßtem und ängstlichem Gesicht eintrat.
»Ein seltsamer, wahrlich seltsamer Besuch, mein hochwürdiger Herr.«
»Wer?« fragte der Kardinal.
»Kein geringerer als der Herr ...« fuhr der Kaplan fort, und indem er die Silben mit rechtem Nachdruck einzeln hervorhob, sprach er den Namen aus, den wir für unsere Leser nicht niederschreiben können. Darauf fügte er hinzu: »Er ist in eigener Person draußen und verlangt nicht weniger als zu Ihrer Gnaden vorgelassen zu werden.«
»Er!« sagte der Kardinal mit bewegtem Angesicht, indem er das Buch zumachte und sich von seinem Sitze erhob: »Er soll kommen! Er soll gleich kommen!«
»Aber ...« entgegnete der Kaplan, ohne sich zu rühren, »Ihre Gnaden müssen wissen, wer er ist: der Landflüchtige, der Berüchtigte ...«
»Und ist es nicht ein gutes Glück für einen Bischof, daß ein solcher Mensch das Verlangen fühlt, zu ihm zu kommen?«
»Aber ...« blieb der Kaplan dabei, »wir dürfen uns über gewisse Dinge niemals auslassen, weil Ihre Hochwürden sagen, es seien Possen; jedoch, wenn der Fall eintritt, so dünkt es mir, daß es eine Pflicht sei ... Der Eifer macht Feinde, hochwürdiger Herr, und wir wissen bestimmt, daß mehr als ein Schurke sich zu rühmen gewagt hat, über lang oder kurz ...«
»Und was haben sie getan?« unterbrach ihn der Kardinal.
»Ich meine nur, daß gerade der die Missetaten ordentlich gepachtet hat, daß er ein verzweifelter Mensch ist, der mit den allertollsten Schurken im Verkehr steht und vielleicht den Auftrag erhalten haben kann ...«
»Oh, was für eine Kriegszucht ist das,« fiel Federigo lächelnd wieder ein, »daß die Soldaten ihren General bereden, sich zu fürchten.« Darauf ernst und nachdenkend werdend, fuhr er fort: »Der heilige Karl würde nicht in den Fall gekommen sein, zu überlegen, ob er einen solchen Menschen empfangen solle; er würde ihn aufgesucht haben. Laßt ihn sogleich eintreten; er hat bereits zu lange gewartet.«
Der Kaplan machte sich auf und sagte in seinem Herzen: – »Es schlägt nichts an; alle diese Heiligen sind Starrköpfe.« –
Er machte die Tür auf und trat in das Zimmer, wo der Herr und die Versammlung war, und sah, daß diese sich nach einer Seite hin zurückgezogen hatte und flüsterte, und jenen von der Seite anschielte, der in einem Winkel allein geblieben war.
Er ging auf ihn zu, und indem er ihn von oben bis unten, wiewohl verstohlen, mit dem Blicke maß, bedachte er, was für ein ganzer Teufel von Waffen unter der langen Jacke versteckt sein konnte, und daß man in Wahrheit, ehe man ihn einführte, ihm vorschlagen sollte, wenigstens ... aber er konnte keinen Entschluß fassen. Er trat auf ihn zu und sagte: »Se. Hochwürden erwarten Ihre Gnaden. Geruhen Sie mit mir zu kommen.« Und darauf ging er ihm durch den kleinen Haufen voran, der flugs eine Gasse bildete, und warf nach rechts und links hin Blicke, die besagten: »Was wollt ihr? Wißt ihr nicht selbst, daß er immer auf seinem Kopfe besteht?«
Mit ihm angelangt, zog der Kaplan die Tür auf und ließ den Ungenannten eintreten. Federigo kam ihm mit zuvorkommender und heiterer Miene entgegen, streckte die flachen Hände nach ihm aus, wie nach einem Erwarteten und gab dem Kaplan sogleich einen Wink hinauszugehen, der befolgt wurde.
Die zwei Zurückgebliebenen standen eine Weile schweigend und in sehr verschiedener Weise unschlüssig einander gegenüber. Der Ungenannte, der, viel mehr wie mit Gewalt von einem unerklärlichen Drange hingezogen, als durch eine bestimmte Absicht hingeführt worden war, stand auch wie festgehalten da, zweien einander widerstrebenden Leidenschaften zur Beute, jenem verworrenen Verlangen und jener Hoffnung, eine Linderung der inneren Qual zu finden und anderseits einem Ärger und einer Scham, wie ein Bereuender, Unterwürfiger, Elender hierhergekommen zu sein, um sich für schuldig zu bekennen, um einen Menschen anzuflehen, und er suchte kaum nach Worten, geschweige denn, daß er welche gefunden hätte. Jedoch, indem er die Augen zu dem Angesicht jenes Mannes aufschlug, fühlte er sich je mehr und mehr von einem Gefühl der Ehrfurcht überkommen, das zugleich gebieterisch und sanft, indem es das Zutrauen erhöhte, den Verdruß milderte und den Stolz beseitigte und zum Schweigen brachte, ohne ihn zu beleidigen.
Die Erscheinung Federigos war in der Tat von der Art derjenigen, die eine Überlegenheit ankündigten und doch bewirken, daß man sie liebgewinnt. Seine Haltung war von Natur ungezwungen und fast unwillkürlich majestätisch, von den Jahren weder im mindesten gebeugt noch geschwächt; das Auge ernst und lebhaft, die Stirn ruhig und tiefsinnig, in dem grauen Haar, in der Blässe, unter den Spuren der Enthaltsamkeit, des Nachdenkens, der Anstrengung doch eine Art von jungfräulicher Jugendblüte; die ganze Gesichtsbildung verriet, daß ihr zu anderer Zeit eben das zu eigen gewesen war, was man im strengeren Sinne Schönheit nennt; die Gewohnheit feierlicher und wohlwollender Gedanken, der innerliche Friede eines langen Lebens, die Menschenliebe, die immerwährende Heiterkeit einer unsäglichen Hoffnung hatten an deren Statt eine, ich möchte fast sagen, Greisenschönheit daraus gebildet, die in jener prächtigen Einfachheit des Purpurs noch mehr hervorstach.
Auch er ließ einen Moment seinen durchdringenden Blick, der von altersher geübt war, aus den Mienen die Gedanken zu erraten, auf dem Angesicht des Ungenannten ruhen, und da es ihm vorkam, als ob er unter der Düsterheit und Verwirrung immer mehr etwas wahrnähme, das der Hoffnung entspräche, die er bei der ersten Ankündigung eines solchen Besuches gefaßt hatte, so sagte er ganz belebt: »Ach, welch ein erfreulicher Besuch ist dies! und wie sehr dankbar muß ich Ihnen für einen so guten Entschluß sein, obwohl ein gewisser Vorwurf für mich darin liegt.«
»Ein Vorwurf!« rief der Herr verwundert aus und zugleich zufrieden, daß der Kardinal das Eis gebrochen und irgendein Gespräch begonnen hatte.
»Gewiß, es ist mir ein Vorwurf,« hob dieser wieder an, »daß ich Sie mir habe zuvorkommen lassen; während ich in so langer Zeit zu Ihnen hätte kommen sollen.«
»Sie, zu mir!« Wissen Sie, wer ich bin? Hat man Ihnen meinen Namen recht gesagt?«
»Und die Zufriedenheit, die ich empfinde und die sich gewiß in meinem Äußeren kundgibt, meinen Sie, daß sie bei der Anmeldung, beim Anblick eines Unbekannten mir hätte zuteil werden sollen? Sie sind es, der sie mir verursacht; Sie, sage ich, den ich hätte aussuchen sollen; Sie, den ich wenigstens so viel geliebt und beweint, für den ich so sehr gebetet habe; Sie, unter meinen Kindern, die ich doch alle von Herzen liebe, den ich zumeist gewünscht haben würde, zu bewillkommnen und zu umarmen, wenn ich geglaubt hätte, es hoffen zu können. Aber Gott allein weiß Wunder zu tun und ergänzt die Schwäche und Lässigkeit seiner armen Diener.«
Der Ungenannte erstaunte über dies so warme Entgegenkommen, über diese Worte, die so unbedenklich auf das antworten, was er noch nicht gesagt hatte und noch nicht einmal völlig entschlossen war, zu sagen, und bewegt, wenn auch bestürzt, schwieg er still. »Und wie?« hob noch liebreicher Federigo wieder an, »Sie haben mir eine gute Nachricht zu geben, und lassen Sie mich so lange harren?«
»Eine gute Nachricht? Ich! Ich habe die Hölle im Herzen und sollte Ihnen eine gute Nachricht geben? Sagen Sie, wenn Sie es wissen, was ist das für eine gute Nachricht, die Sie von jemand meinesgleichen erwarten?«
»Daß Gott Ihnen das Herz gerührt hat und Sie zu dem Seinigen machen will,« versetzte der Kardinal ruhig.
»Gott! Gott! Gott! Wenn ich ihn sähe! Wenn ich ihn hörte! Wo ist dieser Gott!«
»Sie fragen mich das? Sie? Und wem ist er näher als Ihnen? Fühlen Sie ihn nicht im Herzen, der Sie bedrängt, der Sie bewegt, der Sie nicht in Ruhe läßt und Sie zu gleicher Zeit an sich zieht, Sie eine Hoffnung auf Frieden und Trost, auf einen Trost vorempfinden läßt, der vollkommen, unermeßlich sein wird, sobald Sie ihn erkennen, ihm vertrauen, ihn anflehen?«
»Ach, allerdings! habe ich hier etwas, das mich bedrängt, das mich verzehrt! Aber Gott! Wenn dieser Gott wirklich ist, wenn er der ist, wie Sie sagen, was wollen Sie, das er mit mir tue?«
Diese Worte wurden mit einem Nachdruck der Verzweiflung gesprochen; aber Federigo erwiderte feierlich, wie im Tone sanfter Eingebung: »Was Gott mit Ihnen tun kann? Was er aus Ihnen machen will? Ein Wahrzeichen seiner Macht und seiner Güte; er will von Ihnen einen Ruhm ernten, den ein anderer ihm nicht gewähren könnte. Daß die Welt schon seit so langer Zeit über Sie schreit, daß tausend und aber tausend Stimmen Ihre Taten verwünschen ...« – Der Ungenannte bebte zusammen und war einen Augenblick betroffen, diese so ungewohnte Sprache gegen sich führen zu hören, noch betroffener, keinen Zorn, ja sogar fast Erleichterung darob zu empfinden. – »Welchen Ruhm,« fuhr Federigo fort, »hat Gott davon? Es sind Stimmen des Schreckens, es sind Stimmen des Eigennutzes; Stimmen vielleicht auch der Gerechtigkeit, aber einer so leichten Gerechtigkeit! einer so natürlichen! einige vielleicht auch leider nur zu sehr des Neides, über diese Ihre unselige Macht über diese bis heute beweinenswerte Seelenruhe. Aber wenn Sie selbst sich erheben werden, um Ihr Leben zu verdammen, um sich selbst anzuklagen, dann! dann wird Gott verherrlicht werden! Und Sie fragen, was Gott mit Ihnen tun könne? Wer bin ich, armer Mensch, daß ich Ihnen jetzt schon sollte zu sagen wissen, welchen Nutzen ein solcher Herr von Ihnen ziehen könne? was er aus diesem ungestümen Willen, aus dieser unerschütterlichen Ausdauer machen könne, sobald er sie mit Liebe, Hoffnung, Reue beseelt und entzündet hat? Wer seid Ihr, armer Mensch, der Ihr vermeintet, Ihr hättet Eurerseits größere Dinge im Bösen zu ersinnen, und zu vollbringen verstanden, als Gott Euch zwingen könne im Guten zu wollen und zu bewirken? Was Gott mit Euch tun könne? Und Euch verzeihen? und Euch erretten? und das Werk der Erlösung in Euch vollbringen? sind das nicht herrliche und seiner würdige Dinge? O bedenkt! Wenn ich Menschlein, ich Elender und dennoch so erfüllt von mir selbst, ich, so wie ich bin, mir jetzt Euer Heil so sehr angelegen sein lasse, daß ich darum mit Freuden – Er ist mein Zeuge – diese wenigen Tage geben möchte, die mir noch übrig sind, o bedenkt! wie groß, welcher Art erst die Barmherzigkeit dessen sein muß, der mir die so ungenügende, aber lebhafte Barmherzigkeit einflößt, wie Euch derjenige liebt, er Euch wohlwill, der mir eine Liebe zu Euch gebietet und eingibt, die mich verzehrt!«
In dem Maße, wie diese Worte über seine Lippen gingen, war Gesicht, Blick, jede Gebärde von ihrem Sinne durchdrungen. Die Gesichtszüge seines Zuhörers nahmen zuerst nach krampfhafter Verzerrung den Ausdruck des Erstaunens und der Achtsamkeit an, worauf sie sich in einer tieferen und weniger angstreichen Rührung beruhigten. Seine Augen, die seit der Kindheit keine Tränen mehr kannten, schwollen; als die Worte zu Ende waren, bedeckte er sich das Gesicht mit den Händen und brach in übermäßiges Weinen aus; was gewissermaßen die letzte und die deutlichste Antwort war.
»Du großer und guter Gott!« rief Federigo, die Augen und die Hände zum Himmel erhebend; »was habe ich doch nur getan, ich unnützer Knecht, ich schläfriger Hirt, daß du mich zu diesem Gnadenmahle berufst, daß du mich würdigest, einem so freudigen Wunder mit beizuwohnen!« Indem er so sprach, streckte er die Hand aus, um die des Ungenannten zu erfassen.
»Nein,« rief dieser aus; »nein! fern bleiben Sie, fern von mir; beschmutzen Sie nicht diese schuldlose, wohltätige Hand. Sie wissen nicht, was alles die, die Sie drücken wollen, begangen hat.«
»Lassen Sie,« sagte Federigo und erfaßte sie mit liebreicher Gewalt, »lassen Sie mich diese Hand drücken, die so vieles Unrecht wieder gutmachen, so viele Wohltaten verbreiten, so viele Bekümmerte aufrichten, die sich wehrlos, friedfertig, demütig so vielen Feinden entgegenstrecken wird.«
»Es ist zuviel!« sagte der Ungenannte schluchzend; »lassen Sie mich, hochwürdiger Herr; guter Federigo, lassen Sie mich. Eine gedrängte Volksmenge erwartet Sie; so viele gute Seelen, so viele Unschuldige, so viele, die von fernher gekommen sind, um Sie einmal zu sehen, um Sie zu hören, und Sie verweilen ... bei wem!«
»Lassen wir die neunundneunzig Schafe,« versetzte der Kardinal, »sie sind sicher auf dem Berge; ich will jetzt bei dem bleiben, das verirrt war. Jene Seelen sind jetzt vielleicht weit zufriedener, als wenn sie diesen armen Bischof sähen. Gott, der das Wunder seiner Barmherzigkeit in Ihnen bewirkt hat, strömt jetzt vielleicht eine Freude in sie, deren Ursache sie noch nicht kennen. Jene Volksmenge ist vielleicht, ohne es zu wissen, mit uns vereinigt. Der Geist senkt vielleicht in ihre Herzen eine dunkle Inbrunst des Erbarmens, ein Gebet, das er für Sie erhört, eine Danksagung, deren noch nicht gekannter Gegenstand Sie sind.«
Bei diesen Worten warf er die Arme um den Hals des Ungenannten, der, nachdem er versucht, sich ihnen zu entziehen und einen Moment widerstrebt hatte, wie von diesem Ungestüm der Menschenliebe überwältigt, nachgab, auch seinerseits den Kardinal umarmte, und sein zitterndes und umgewandeltes Antlitz auf dessen Schulter senkte.
Seine heißen Tränen fielen auf den lauteren Purpur Federigos nieder, und die von Schuld reinen Hände desselben umfingen liebevoll die Glieder, drückten den Körper fest an sich, der gewöhnt war, die Waffen der Gewalttätigkeit und Verräterei zu tragen.
Indem sich der Ungenannte aus der Umarmung wand, bedeckte er sich von neuem mit einer Hand die Augen und rief, das Gesicht zugleich emporrichtend, aus: »Du wahrhaft großer Gott! Du wahrhaft guter Gott! Ich erkenne mich jetzt, begreife, wer ich bin. Meine Gottlosigkeiten schweben mir vor; ich verabscheue mich selbst, und dennoch! ... dennoch fühle ich eine Erleichterung, eine Freude, ja eine Freude, wie ich sie noch in diesem ganzen, meinem entsetzlichen Leben nicht empfunden habe.«
»Das ist ein Vorgeschmack,« sagte Federigo, »den Gott Ihnen gibt, um Sie an seinen Dienst zu fesseln, um Sie zu ermutigen, getrost in das neue Leben einzugehen, in dem Sie so viel ungeschehen, so viel wieder gutzumachen, so viel zu beweinen haben!«
»Ich Unglückseliger!« rief der Herr aus, »wie viele, viele ... Dinge, die ich nur werde beweinen können! Aber wenigstens kann ich noch einige verhindern; eine ist darunter, die ich gleich abbrechen, ungeschehen, wieder gutmachen kann.«
Federigo ward aufmerksam, und der Ungenannte erzählte in der Kürze, aber in vielleicht kräftigeren Ausdrücken des Abscheus, als wir angewandt haben, seinen Anschlag auf Lucia, die Leiden, die Schrecken der Ärmsten, und wie sie gefleht habe, und welchen Aufruhr dieses Flehen in ihm hervorgebracht, und daß sie noch in der Feste ...
»Ach, da verlieren wir keine Zeit!« rief Federigo, vor Angst und Mitleid schwer aufatmend, aus. »Sie Glücklicher! Diese ist ein Unterpfand der Vergebung Gottes! Tun Sie das mögliche, daß sie ein Werkzeug der Rettung denjenigen werden, die Sie zu Grunde richten wollten. Gott segne Sie! Gott hat Sie gesegnet! Wissen Sie, von wo diese unsere arme Geplagte ist?«
Der Herr nannte Luciens Dorf.
»Es ist unfern von hier,« sagte der Kardinal, »gelobt sei Gott, und wahrscheinlicherweise ...« Bei diesen Worten lief er zu einem kleinen Tische, ergriff eine kleine Glocke und klingelte. Und flugs trat der Kaplan Kreuzträger angstvoll ein und richtete den ersten Blick auf den Ungenannten, und nachdem er das verwandelte Gesicht und die Augen rot vom Weinen gesehen hatte, blickte er auf den Kardinal, und als er unter der unveränderlichen Gesetztheit in dessen Antlitz etwas wie eine ernste Zufriedenheit, einen außerordentlichen Eifer wahrnahm, wäre er beinahe in Verzückung mit offenem Munde stehen geblieben, wenn ihn der Kardinal nicht alsbald aus dieser Betrachtung erweckt hätte, indem er ihn fragte, ob unter den hier versammelten Pfarrern sich nicht der von *** befände.
»Er ist zugegen, mein hochwürdigster Herr,« antwortete der Kaplan.
»Laßt ihn sogleich eintreten,« sagte Federigo, »und mit ihm den Pfarrer der hiesigen Kirche.«
Der Kaplan ging hinaus und begab sich in das Zimmer, wo die Priester versammelt waren. Aller Augen wendeten sich nach ihm. Er, mit noch immer offenem Munde, im Angesicht noch von jener Verzückung verklärt, sprach, die Hände erhebend und damit durch die Luft fahrend: »Meine Herren! haec mutatio dexterae Excelsi.« Er stand einen Augenblick, ohne weiter etwas zu sagen. Dann fand er Ton und Stimme seiner Amtswürde wieder und fügte hinzu: »Seine hochwürdige Gnaden verlangt den Herrn Pfarrer des Kirchspiels und den Herrn Pfarrer von ***.«
Der zuerst Gerufene trat auf der Stelle vor, und zugleich drang mitten aus der Menge ein mit dem Tone der Verwunderung angestimmtes geschleiftes: »Ich?«
»Sind Sie nicht der Herr Pfarrer von ***?« begann der Kaplan wieder.
»Ganz recht; aber ...«
»Seine hochwürdige Gnaden verlangt Sie.«
»Mich?« sagte nochmals jene Stimme, in dieser einen Silbe klar andeutend: Was kann ich dabei zu schaffen haben?
Aber diesmal drang mit der Stimme zugleich der Mann, Don Abbondio, in eigener Person heraus, zögernden Schrittes und mit einer Miene, die zwischen Erstaunen und Mißvergnügen stand. Der Kaplan gab ihm mit der Hand einen Wink, der besagen wollte: »Kommt, vorwärts, wird es Euch so sauer?« Und er schritt mit den beiden Pfarrern voran zur Tür, machte sie auf und führte sie hinein.
Der Kardinal ließ die Hand des Ungenannten fahren, mit dem er inzwischen beredet hatte, was zu tun sei, trat ein wenig beiseite und berief den Pfarrer des Kirchsprengels zu sich. Er sagte ihm mit kurzen Worten, worauf es ankam, und ob er wohl gleich ein braves Weib aufzutreiben wüßte, das sich in einer Sänfte würde nach der Feste begeben wollen, um Lucia abzuholen, ein herzhaftes, tüchtiges Weib, das sich in einen so neuen Auftrag zu schicken und das zweckdienlichste Betragen anzunehmen, die passendsten Worte zu finden verstände, um jene Arme zu ermutigen und zu beruhigen, der, nach solchen Ängsten und in solcher Aufregung ihre Befreiung selbst eine neue Verwirrung in der Seele anrichten könnte.
Der Pfarrer bedachte sich einen Augenblick, sagte dann, er habe ein solches gefunden, und ging fort. Der Kardinal beschied mit einem anderen Winke den Kaplan vor sich, dem er das Geheiß erteilte, die Sänfte und die Sänftenträger gleich in Bereitschaft zu setzen und zwei Mauleselinnen zum Reiten aufschirren zu lassen. Und sobald auch der Kaplan fort war, wendete er sich an Don Abbondio.
Dieser, der ihm schon nahe stand, um sich von jenem anderen Herrn entfernt zu halten und mittlerweile bald dem einen, bald dem anderen einen flüchtigen Blick von unten herauf zuwarf, indem er fortwährend bei sich überlegte, was denn das ganze Getreibe eigentlich vorstellen möge, trat noch einen Schritt vor, verbeugte sich und sagte: »Mau hat mich bedeutet, Ihre Gnaden verlangten eben nach mir; aber ich glaube wohl, daß dies ein Mißverständnis sein mag.«
»Ein Mißverständnis ist es keineswegs,« entgegnete Federigo; »ich habe Ihnen nämlich eine frohe Nachricht und einen tröstlichen, höchst angenehmen Auftrag zu geben. Eines Ihrer Pfarrkinder, das Sie schon als verloren beweint haben werden, Lucia Mondella, ist wiedergefunden, ist hier in der Nähe im Hause dieses meines lieben Freundes, und Sie sollen jetzt mit ihr und mit einer Frau, die der hiesige Herr Pfarrer soeben holt, hingehen, Sie sollen hingehen, sage ich, und jenes Ihr Beichtkind dort in Empfang nehmen und hierher begleiten.«
Don Abbondio tat sein Äußerstes, um den Verdruß, was sage ich? den Kummer und den Ingrimm zu verhehlen, die ihm eine solche Zumutung oder ein solcher Befehl erregten, und da es nicht mehr Zeit war, einer häßlichen Grimasse Einhalt zu tun oder sie abzulegen, die sich auf seinem Gesicht schon zusammengezogen hatte, so verbarg er sie, indem er sich zum Zeichen willigen Gehorsams tief verneigte. Und er erhob es nur wieder, um eine andere tiefe Verbeugung dem Ungenannten, und zwar mit einem gutherzigen Blicke zu machen, der besagte: ich bin in Euern Händen, tragt Erbarmen: Parcere subjectis.
Der Kardinal fragte ihn darauf, was für Angehörige Lucia habe.
»Nahe, bei denen sie lebt oder lebte, hat sie nur die Mutter,« versetzte Don Abbondio.
»Befindet sie sich zu Hause?«
»Ja, hochwürdiger Herr.«
»Da das arme Mädchen,« fuhr Federigo fort, »nicht sogleich wieder nach ihrer Heimat wird gebracht werden können, so möchte es ihr wohl eine große Beruhigung sein, sobald als möglich ihre Mutter zu sehen; wenn also der hiesige Herr Pfarrer, bevor ich in die Kirche gehe, nicht zurückkehren sollte, so bitte ich Sie, ihm zu sagen, eine Barutsche oder ein Tier zum Reiten zu besorgen, und einen verständigen Mann nach der Mutter auszusenden, um sie hierherzubringen.«
»Wenn ich nun dorthin ginge?« sagte Don Abbondio.
»Nein, nein, Sie nicht; ich habe Sie schon um etwas anderes ersucht,« erwiderte der Kardinal.
»Ich meinte nur,« antwortete Do» Abbondio, »damit ich die arme Mutter vorbereitete. Sie ist eine sehr reizbare Frau, und es gehört einer dazu, der sie kennt und auf ihre Art zu behandeln weiß, um ihr nicht wehe anstatt wohlzutun.«
»Und eben deshalb ersuche ich Sie, daß Sie den Herrn Pfarrer daran erinnern wollen, einen tauglichen Mann zu erwählen: Sie werden anderswo mehr Nutzen stiften,« entgegnete der Kardinal. Und er hätte sagen mögen: Dem armen Mädchen tut es gewiß viel mehr not, alsbald ein bekanntes, zuverlässiges Gesicht, nach so vielen Stunden des heftigsten Schmerzes und in einer erschreckenden Ungewißheit über die Zukunft in jener Feste zu sehen. Aber das war kein Grund, der sich vor jenem Dritten so gerade heraussagen ließ. Es befremdete jedoch den Kardinal, daß Don Abbondio ihn damit nicht erraten oder das von selbst bedacht hatte: ja sein Antrag und seine Hartnäckigkeit deuchten ihm so übel angebracht, daß er annahm, dahinter müsse etwas anderes stecken. Er sah ihm ins Gesicht und entdeckte darin mit leichter Mühe die Furcht, mit diesem entsetzlichen Manne zu reisen, wenn auch für wenige Augenblicke nur sein Gast zu sein. Da er also diese kleinmütigen Besorgnisse völlig zerstreuen wollte und es ihm doch nicht geraten schien, den Pfarrer beiseite zu ziehen und mit ihm heimlich zu flüstern, derweil sein neuer Freund als dritter hier zugegen wäre, so dachte er, es würde das dienlichste Mittel dazu sein, dasjenige zu tun, was er wohl auch ohne diesen Beweggrund getan hätte, mit dem Ungenannten selbst zu reden; aus dessen Antworten Don Abbondio dann am Ende erkennen müßte, daß er eben kein Mann mehr sei, den man zu fürchten habe. Er näherte sich darum dem Ungenannten und sagte zu ihm mit jener ungezwungenen Vertraulichkeit, die ebensowohl einer neuen und gewaltigen Zuneigung als einer alten innigen Freundschaft eigen ist: »Glauben Sie nicht, daß ich mir für heute an diesem Besuche genügen lasse. Sie kommen wieder mit, nicht wahr? in Gesellschaft dieses rechtschaffenen Geistlichen?«
»Ob ich wiederkomme!« erwiderte der Ungenannte, »ja, und wenn Sie mich auch abwiesen, würde ich doch, so wie der Bettler, beharrlich an Ihrer Tür stehenbleiben. Es ist mir Bedürfnis, mit Ihnen zu reden, Sie zu hören, Sie zu sehen; ich bedarf Ihrer!«
Federigo nahm ihn an der Hand, drückte sie und sagte: »Erzeigen Sie also dem Pfarrer dieses Dorfes und mir die Gunst, mit uns zu Mittag zu essen. Ich erwarte Sie. Indessen gehe ich und bete und danke mit dem Volke, und gehen Sie, die ersten Früchte der Barmherzigkeit zu pflücken.«
Don Abbondio stand bei diesen Erklärungen wie ein furchtsamer Knabe, der jemand zusieht, wie er seinen großen, struppigen, rotäugigen Köter, der einen durch Bisse und Schrecken schon berüchtigten Namen hat, streichelt und den Herrn sagen hört, sein Hund sei ein gar gutes, liebes Vieh, das niemand etwas tue; er sieht den Herrn an und widerspricht so wenig, als er beistimmt; er sieht den Hund an und getraut sich nicht, ihm näher zu kommen, aus Furcht, das gute liebe Vieh möge ihm, wenn auch nur so zum Spaße die Zähne weisen; er getraut sich nicht, sich zu entfernen um nicht feige zu scheinen, und sagt in seinem Herzen »Ach, wenn ich doch zu Hause wäre!«
Dem Kardinal, der sich in Bewegung gesetzt hatte, um hinauszugehen, indem er den Ungenannten immer bei der Hand hielt und mit sich fortzog, fiel von neuem der arme Mann ins Auge, der, tölpisch unempfindlich, so sauertöpfisch zurückblieb. Und da er bedachte, der Verdruß könne ihm vielleicht auch daher kommen, daß es ihn bedünke, hintangesetzt und gleichsam beiseitegeschoben zu sein und dies insbesondere einem so bewillkommneten, so geliebkosten Bösewicht gegenüber, so wendete er sich im Vorbeigehen ihm zu, blieb einen Moment stehen und sagte mit einem liebevollen Lächeln: »Herr Pfarrer, Sie sind immerdar mit mir im Hause unseres guten Vaters; aber dieser ... dieser perierat et inventus est.«
»Oh, wie sehr freut mich das!« sagte Don Abbondio, und machte beiden zusammen eine große Verbeugung.
Der Erzbischof ging voraus, drückte wider die Tür, deren beide Flügel alsbald durch zwei an den Seiten stehende Diener von außen weit aufgerissen wurden, und das wunderbare Paar zeigte sich den begierigen Blicken der im Zimmer versammelten Geistlichkeit. Sie sahen die beiden Antlitze, auf denen eine zwar verschiedenartige, aber gleich tiefe Bewegung ausgedrückt war; eine dankbare Liebe, eine demütige Freude in den ehrwürdigen Zügen Federigos; in denen des Ungenannten eine von Trost gemilderte Verwirrung, eine neue Scham, eine Zerknirschung, unter der jedoch immer noch die Kraft dieser wilden und empfindlichen Natur hervorschien. Und es ergab sich nachher, daß mehr als einem der Zuschauenden damals jener Vers des Jesaias eingefallen war: »Kühe und Bären werden an der Weide gehen, daß ihre Jungen beieinander liegen, und Löwen werden Stroh essen wie die Ochsen.« Hinterdrein kam Don Abbondio, auf den niemand achtete.
Als sie in der Mitte des Zimmers waren, kam von der anderen Seite der Kammerdiener des Kardinals herein und trat auf ihn zu, um zu melden, daß er die ihm vom Kaplan zugekommenen Befehle vollzogen habe, daß die Sänfte und die beiden Maultiere bereit wären und man nur noch der Frau gewärtige, die der Pfarrer herbeibringen werde. Der Kardinal sagte ihm, sobald dieser anlange, solle er ihm zu wissen tun, er möge mit Don Abbondio sprechen, und es habe sich sodann alles nach dessen und den Befehlen des Ungenannten zu richten, dem er zum Abschiede die Hand wiederholt drückte, und zu dem er sprach: »Ich erwarte Sie.« Er wendete sich zu Don Abbondio, grüßte ihn mit dem Kopfe und brach in der Richtung auf, die zur Kirche führte. Der Klerus folgte ihm halb in Prozession, halb ungeordnet, wie ein jeder kam; die beiden Reisegefährten verblieben allein im Zimmer.
Der Ungenannte stand ganz in sich gekehrt gedankenvoll da, ungeduldig den Augenblick erharrend, da er gehen werde, um Lucia der Not und Haft zu entziehen, die jetzt in einem so ganz anderen Sinne als am vorigen Tage sein war, und sein Antlitz drückte eine heimliche Gemütsbewegung aus, die dem argwöhnischen Auge Don Abbondios leicht etwas Schlimmeres scheinen konnte. Er schielte ihn an, er blinzelte ihn an, er hätte so gern ein freundschaftliches Gespräch angeknüpft: – »Aber was habe ich ihm auch zu sagen?« – dachte er – »noch einmal es freut mich? Was freut mich denn? Daß Sie, nachdem Sie bisher ein Teufel gewesen sind, sich endlich entschlossen haben, ein Ehrenmann zu werden wie andere? Eine schöne Artigkeit! Ei, ei, ei! wie ich auch immer die Worte drehe, das: es freut mich, würde nichts anderes besagen. Und wenn es auch nur wirklich wahr ist, daß er ein Ehrenmann geworden; so Knall und Fall! Redensarten werden in dieser Welt genug geführt, und aus so mancherlei Gründen! Was weiß ich, bisweilen? Und unterdessen muß ich mit ihm gehen, nach dem Kastell! Ach, über die Geschichte! Über die Geschichte! Über die Geschichte! Wer hätte mir das heute morgen gesagt! Ach, wenn ich mit heiler Haut wieder hier wegkomme, so soll es Jungfer Perpetua anzuhören kriegen, daß sie mich mit aller Gewalt hergetrieben hat, was doch gar nicht not tat, aus meinem Kirchspiel heraus, weil ja alle Pfarrer von allenthalben sogar noch viel weiter herzueilten, und weil man doch nicht nachstehen dürfe, und weil bald dies, und weil bald was anderes, und mich da in einen solchen Handel zu verwickeln! Ach, weh mir Armen! Irgend etwas muß ich aber doch einmal dem da sagen.«
Und er hatte ausfindig gemacht, ihm zu sagen: ich würde nimmermehr erwartet haben, so glücklich zu sein, mich in einer so hochachtbaren Gesellschaft zu befinden, und er wollte eben den Mund auftun, als der Kammerdiener mit dem Pfarrer des Ortes eintrat, der hinterbrachte, daß die Frau in der Sänfte bereit sei, und sich darauf an Don Abbondio wendete, um von ihm den anderen Auftrag des Kardinals zu empfangen. Don Abbondio entledigte sich dessen, so gut er in dieser Verwirrung des Geistes konnte; näherte sich darauf dem Kammerdiener und sagte zu ihm: »Ich bitte nur wenigstens um ein frommes Tier; denn, die Wahrheit zu sagen, bin ich ein schlechter Reiter.«
»Das versteht sich,« erwiderte der Diener mit einem heimlichen Lächeln; »es ist das Maultier des Geheimschreibers, der ein Gelehrter ist.«
»Gut ...« versetzte Don Abbondio, und fuhr fort zu denken: – »der Himmel mache es gnädig mit mir.« –
Der Herr war bei der ersten Meldung rasch aufgebrochen; auf der Schwelle angelangt, nahm er wahr, daß Don Abbondio zurückgeblieben. Er wartete auf ihn, und als dieser eilfertig nachkam und um Verzeihung zu bitten schien, verneigte er sich vor ihm und ließ ihn mit höflicher und demütiger Gebärde vorangehen, was dem armen Geplagten einigermaßen den Mut aufrichtete. Kaum aber hatte er den Fuß in den kleinen Hof gesetzt, so versah er sich einer anderen Neuigkeit, die ihm den geringen Trost raubte; er sah den Ungenannten in den Winkel gehen, seinen Karabiner mit der einen Hand beim Laufe, dann mit der anderen beim Riemen anfassen und mit einer raschen Bewegung, als ob er exerzierte, ihn sich über die Schulter hängen.
– »O weh! o weh! o weh!« – dachte Don Abbondio: – »was will er mit dem Werkzeuge da beginnen? Ein schönes Bußgewand, eine schöne Kasteiung! Und wenn ihm nun eine Grille in den Kopf fährt? Ach, was für eine Sendung! Ach, was für eine Sendung!«
Wofern der Herr nur im mindesten hätte argwöhnen können, welcher Art Gedanken seinem Gefährten durch den Sinn kreuzten, so läßt sich gar nicht sagen, was er alles getan haben würde, um ihn zu beruhigen; aber er war himmelweit von einem solchen Argwohn entfernt, und Don Abbondio hütete sich wohl, irgend etwas zu begehen, das mit klaren Worten gesagt hätte: »Ich traue Ew. Gnaden nicht.« An den Ausgang zur Straße gelangt, fanden sie die beiden Tiere in Bereitschaft, der Ungenannte schwang sich auf das, was ihm ein Stallknecht vorführte.
»Mucken hat es doch nicht?« sagte Don Abbondio zum Kammerdiener, mit einem Fuße im Steigbügel schwebend, und mit dem anderen noch auf der Erde stehend.
»Steigen Sie nur getrost auf, es ist ein Lamm,« versetzte dieser. Don Abbondio klammerte sich am Sattel fest, und, vom Kammerdiener geschoben, ist er mit einem Satz auf dem Rücken seines Tieres.
Die auch von zwei Maultieren getragene Sänfte, die ein paar Schritte weiter vorn hielt, setzte sich auf einen Ruf des Sänftenführers in Bewegung, und der Zug ging fort.
Man mußte an der Kirche vorbei, die gepfropft voll Menschen war, über einen kleinen Platz, der gleichfalls von neu hinzugekommenen Landleuten, die in ihr nicht hatten Raum finden können, wimmelte. Schon war die große Neuigkeit herumgekommen, und beim Erscheinen des Zuges, beim Erscheinen des Mannes, der noch vor wenigen Stunden ein Gegenstand des Schreckens und der Verwünschung, jetzt freudigen Staunens, erhob sich in der Menge ein fast beifälliges Gemurmel: und, indem sie Platz machte, schwieg sie, wiewohl standhaltend, um ihn in der Nähe zu sehen. Die Sänfte kam vorüber, der Ungenannte kam vorüber, und vor der weit offenstehenden Kirchtür zog er den Hut ab und beugte die so gefürchtete Stirn bis auf die Mähne des Esels nieder, unter dem Gesumme von hundert Stimmen, die da sagten: »Gott segne Sie!« Don Abbondio zog ebenfalls seinen Hut, verneigte sich, befahl sich dem Himmel; aber als er den feierlichen Gesang seiner Amtsbrüder vernahm, der aus voller Macht ertönte, empfand er einen Neid, eine schwermütige Rührung, eine solche Anwandlung von Kummer im Herzen, daß es ihn Mühe kostete, sich der Tränen zu enthalten.
Außerhalb des Ortes nun, im freien Felde, auf den mitunter ganz menschenleeren Irrgängen des Weges, legte sich ein noch dunklerer Schleier über seine Gedanken. Einen anderen Gegenstand, worauf er den Blick mit Zuversicht konnte ruhen lassen, hatte er nicht, als den Sänftenführer, der, zu der Dienerschaft des Kardinals gehörig, doch ganz gewiß ein braver Mann sein mußte und nicht gerade verzagt aussah. Von Zeit zu Zeit erschienen auch eilige Wanderer, die herbeiliefen, um den Kardinal zu sehen, und das war ein Labsal für Don Abbondio, aber ein vorübergehendes; aber man nahte jenem entsetzlichen Tale, wo man nur Untertanen, und was für Untertanen! des guten Freundes begegnen würde. Mit dem guten Freunde hätte er jetzt mehr als je gewünscht, sich in ein Gespräch einzulassen, ebensowohl um immer mehr seine Gesinnung zu erforschen, als um ihn bei guter Stimmung zu erhalten; aber wenn er ihn in solches Sinnen versunken sah, verging ihm die Lust dazu. Er mußte also wohl mit sich selbst sprechen, und hier ist ein Teil dessen, was der arme Mann auf diesem Ritt zu sich sagte; denn, um alles aufzuschreiben, hätten wir ein Buch daraus machen müssen.
»Es ist ein wahres Wort, daß die Heiligen sowohl wie die Schurken Quecksilber in den Gliedern haben müssen und sich nicht damit begnügen, sich hin- und herzutreiben und zu sorgen, sondern auch, wenn sie könnten, die ganze Menschheit in Trab setzen wollen. Und daß nun gerade die allergeschäftigsten von den Müßiggängern über mich herfallen müssen, der ich niemand zu nahe trete, um mich bei den Haaren in ihre Händel hineinzuziehen, mich, der ich weiter nichts verlange, als daß man mir das bißchen Leben gönnt! Der tolle Schurke, der Don Rodrigo! Was ging ihm denn etwa ab, um der glückseligste Mensch auf Erden zu sein, wenn er nur ein klein wenig Vernunft angenommen hätte? Er ist reich, er ist jung, er ist angesehen, er ist gefeiert; er krankt daran, daß er sich zu wohl befindet und muß um Übel für sich und seinen Nächsten betteln gehen. Er könnte ein wahres Schlaraffenleben führen; aber nein, Herr, er macht sich lieber ein Gewerbe daraus, die Frauen zu verführen, was das alleralbernste, schändlichste, rasendste Gewerbe von der Welt ist; er könnte in der Kutsche zum Paradiese einfahren, und will lieber auf einem Beine in die Hölle hinken. Und der da?« ... – Und hier blickte er ihn an, als ob er Sorge trüge, der da möge seine Gedanken erraten. – »Der da hat in der Welt erst mit seinen Ruchlosigkeiten das Unterste zu oberst gekehrt und kehrt nun gar wieder das Unterste zu oberst mit seiner Bekehrung darin um, ... wenn noch was daran ist. Und gerade an mir muß das erprobt werden sollen, ob sie anhält! ... Derweil doch, wer da einmal mit der Wut im Leibe auf die Welt gekommen ist, sie auch unablässig wieder auslassen muß. Kommt was darauf an, daß man sein ganzes Leben lang, wie ich getan habe, sich als Ehrenmann führt? Nein, Herr, wohl aber muß man in Stücke hauen, totschlagen, Teufels spielen ... o weh, mir Armen! ... und hinterdrein auch noch einen rechten Wirrwarr, um Buße zu tun. Buße, wenn man nur sonst den guten Willen dazu hat, kann man zu Hause, in aller Stille tun, ohne so große Anstalten zu machen, ohne seinem Nebenmenschen so zur Last zu fallen. Und Seine hochwürdige Gnaden! was hast du, was kannst du, mit offenen Armen, lieber Freund hinten, lieber Freund vorn; gleich auf alles was zu geben, was ihm der da sagt, als ob er ihn hätte Wunder tun sehen, über Hals und Kopf einen Entschluß zu fassen, mit Händen und Füßen hineinzuplauzen, geschwind hier und geschwind wieder da; das nennt man bei mir zu Hause Unüberlegtheit. Und ohne daß man das mindeste Aufgeld hat, ihm einen armen Pfarrer in die Hand zu geben! Das nennt man um einen Menschen gerade oder ungerade spielen. Ein heiliger Bischof, so wie er einer ist, müßte auf die Pfarrer so wie auf seine Augäpfel halten. Ein bißchen Gelassenheit, ein bißchen Vorsicht, ein bißchen Mitleid, sollte ich meinen, verträgt sich auch mit der Heiligkeit ... Und wenn es nun nichts als ein bloßes Vorgeben wäre? Wer kann alle Absichten der Menschen kennen? Und nun gar solcher Menschen wie der da? Wenn ich bedenke, daß ich mit ihm nach seinem Hause gehen muß! Wer weiß, was für ein Teufel dahintersteckt! Ach, ich Armer! es ist besser, ich denke nicht daran. Was ist das für eine Verwirrung mit Lucia? Man sieht, es war ein Einverständnis von Don Rodrigo dabei; was für Menschen! und dennoch sind sie recht eigentlich so; aber wie hat der da sie in seine Klauen gekriegt? Wer weiß es? Es ist alles ein Geheimnis mit dem Hochwürdigen, und mir, den sie auf diese Weise in Trab setzen, wird nichts gesagt. Ich kümmere mich nicht darum, anderer Angelegenheiten zu erfahren; aber wenn eins seine Haut daran wagen soll, so hat er auch ein Recht, danach zu fragen. Und wenn es wirklich nur darum zu tun wäre, die arme Kreatur abzuholen, Geduld denn! wiewohl er sie auch lieber gleich hätte mit sich bringen können. Und übrigens, wenn er denn nun so bekehrt, wenn er ein so heiliger Vater geworden ist, wozu bedurfte es da meiner? Ach, was für ein Chaos! Nun wohl, gebe der Himmel, daß dem so ist, es wird ein schweres Ungemach gewesen sein, ja doch, Geduld! Es wird mich auch der armen Lucia halber freuen, auch sie muß einer großen Gefahr entgangen sein: weiß der Himmel, was sie gelitten hat, ich bedaure sie; aber sie ist zu meinem Unglück geboren ... Könnte ich dem da nur wenigstens recht ins Herz sehen, wie er es meinte. Wer kann ihn begreifen? Man achte nur darauf: bald sieht er wie St. Antonius in der Wüste, bald wie der leibhafte Holofernes aus. Ob, weh mir Armen! weh mir Armen! Schon gut; der Himmel ist verpflichtet, mir zu helfen, denn ich habe mich nicht aus eigenem Fürwitz darauf eingelassen.«
In der Tat sah man über das Antlitz des Ungenannten gewissermaßen die Gedanken hinziehen so wie zur Zeit eines Sturmwetters die Wolken über das Antlitz der Sonne hineilen, indem einmal über das andere ein sengendes Licht mit einem düsteren Schatten abwechselt. Die Seele, noch ganz von den liebreichen Worten Federigos trunken und wie in dem neuen Leben neugeschaffen und verjüngt, erhob sich zu jenen Vorstellungen von Erbarmen, Vergebung und Liebe; sodann fiel sie unter der Last der entsetzlichen Vergangenheit wieder zurück. Er forschte ängstlich nach, welche Ruchlosigkeiten noch wieder gutzumachen wären, was sich noch mitten darin abbrechen ließe, welche Hilfsmittel die wirksamsten und sichersten, wie so viele Verbindungen zu lösen, was mit so vielen Mitschuldigen anzufangen: es war eine verwickelte Geschichte, nur daran zu denken. An dieses Unternehmen sogar, das das allerleichteste und so bald beendigt war, ging er mit einer mit Angst vermischten Lust, daß inzwischen jenes Geschöpf Gott weiß wieviel leide, und daß, wenn er auch sie zu befreien brannte, er es war, der sie bis dahin leiden ließ. Bei jeder Wegscheide kehrte sich der Sänftenträger um, um sich zurechtweisen zu lassen; der Ungenannte deutete den Weg mit der Hand an und winkte ihm zugleich, daß er sich dazuhalten möge.
Man gelangt in das Tal. Was ward nunmehr aus dem armen Don Abbondio! Darin zu sein in dem berüchtigten Tale, von dem er so viel schwarze, entsetzliche Geschichten hatte erzählen hören; sie wie sie leibten und lebten vor sich zu sehen, diese berüchtigten Kerle, die Blume der Bravischaft von Italien, diese Menschen ohne Furcht und Erbarmen, einem oder zweien oder dreien von ihnen jedesmal, wenn er um eine Ecke bog, zu begegnen. Sie verneigten sich wohl demütig vor ihrem Herrn; aber gewisse sonnenverbrannte Gesichter! gewisse borstige Schnauzbärte! gewisse grimmige Augen, die, wie es Don Abbondio schien, besagen wollten: sollen wir ihm den Garaus machen, dem Pfaffen? – bis in einem Augenblick der äußersten Bestürzung es ihm entfuhr zu denken: »Hätte ich sie doch getraut! Etwas Schlimmeres konnte mir nicht begegnen.« – Mittlerweile ging es auf einem kiesigen Pfade längs des Gießbaches immer weiter: jenseits der Anblick der öden, rauhen Abstürze, diesseits die Bevölkerung, mit der verglichen jede Wüste wünschenswert erschien; Dante war mitten im Höllenpfuhl nicht schlimmer daran.
Man kommt an der »Übeln Nacht« vorbei; Raufbolde am Eingange, Verbeugungen vor dem Gebieter, Seitenblicke auf seinen Begleiter und die Sänfte. Diese wußten nicht, was sie denken sollten; schon der Ausgang des Ungenannten, allein am Morgen, hatte etwas Ungewöhnliches; die Rückkunft war es nicht weniger. War es eine Beute, die er mit sich führte? Und wie, hatte er sie für sich allein gemacht? Und wie kam er zu der fremden Sänfte? Und wessen konnte die Livree sein? Sie guckten und guckten, aber keiner rührte sich, denn dahin ging der Befehl, den er ihnen mit Auge und Mienen gab.
Man steigt empor, man ist auf der Höhe. Die Bravi, die auf dem Schloßplatze und an der Tür stehen, ziehen sich hier und dort zurück, um Platz zu machen; der Ungenannte gibt ihnen ein Zeichen, sich nicht weiter zu regen, setzt die Sporen ein und eilt der Sänfte voran, bedeutet dem Sänftenführer und Don Abbondio, ihm zu folgen, reitet in einen ersten Hof und aus diesem in einen zweiten, begibt sich auf ein Pförtchen zu, weist mit einer Gebärde einen Bravo zurück, der herbeieilte, um ihm den Bügel zu halten, und sagt zu ihm: »Du da, kein anderer trete näher.«
Er steigt ab und geht mit den Zügeln in der Hand nach der Sänfte, tritt zu der Frau bin, die den Vorhang zurückgezogen hatte, und sagt heimlich zu ihr: »Tröstet sie nur gleich; macht ihr gleich begreiflich, daß sie frei, in Freundeshänden ist. Gott wird es Euch vergelten.« Dann befiehlt er dem Sänftenführer, zu öffnen und läßt die Frau aussteigen. Worauf er Don Abbondio naht, und mit einer so heiteren Miene, wie dieser noch nicht an ihm gesehen und ihm auch nicht zugetraut hätte, in der die Freude an dem guten Werke leuchtete, das er endlich zu vollbringen begriffen war, ihm die Hand reicht, um abzusteigen und zu ihm gleichfalls mit leiser Stimme spricht: »Herr Pfarrer, ich bitte Sie nicht um Entschuldigung wegen der Beschwerde, die Sie meinetwegen auszustehen haben; Sie tun es für einen, der wohl vergilt, und für dieses sein armes Geschöpf!«
Dies Gesicht und diese Worte ließen Don Abbondio wiederum ein Herz fassen. Er stieß einen Seufzer aus, der ihn seit einer Stunde beunruhigte, ohne irgend den Ausweg zu finden, antwortete, man frage nicht erst, ob mit schüchterner Stimme: »Ihre Gnaden scherzen mit mir? Aber, aber, aber, aber! ...« Und indem er die Hand annahm, die ihm so höflich geboten wurde, rutschte er bestmöglichst von seinem Tiere herunter. Der Ungenannte nahm auch dessen Zügel an sich und übergab sie mit den anderen dem Sänftenführer, dem er anbefahl, ihn hier außen zu erwarten.
Er zog einen Schlüssel aus der Tasche, schloß das Pförtchen auf, ließ den Pfarrer und die Frau eintreten, trat selber ein, eilte ihnen voraus, ging auf die kleine Treppe zu, und alle drei stiegen stillschweigend empor.