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Der Leser denke sich den zu dem Lazarett gehörigen Raum mit sechzehntausend Pestkranken bevölkert: diesen ganzen Platz, teils mit Hütten und Zelten, teils mit Wagen, teils mit Menschen erfüllt; jene beiden endlosen Bogengänge rechts und links mit Entkräfteten oder Leichnamen bedeckt, ja davon wimmelnd, die auf Matratzen oder Stroh hingestreckt, und über diesem ganzen, fast unermeßlichen Lager eine Bewegung, einen Aufruhr wie das Wogen des Meeres, und innerhalb ein Gehen und Kommen, ein Verweilen, ein Gelaufe, ein Niedergebeuge, ein Aufstehen von Genesenden, Wahnsinnigen, Wärtern. Ein solches Schauspiel war es, das Renzos Blicke mit einmal erfüllte und ihn, übermannt und ergriffen, an die Stelle fesselte. Nun ist es keineswegs unsere Absicht, von diesem Schauspiel einen Teil nach dem anderen zu beschreiben, was gewiß kein Leser uns Dank wissen würde; wir werden bloß unserem Jüngling auf seinem peinlichen Gange folgen, da verweilen, wo er verweilt, und von dem, was er zu sehen bekam, nur soviel als nötig zu sagen, um das zu erzählen, was er tat, sowie das, was ihm begegnete.
Von dem Tore an, wo er stehengeblieben war, bis zu der Kapelle in der Mitte, und von dort bis zu dem anderen, entgegengesetzten Tor ging ein von Hütten und jedem sonstigen feststehenden Hindernis freier Weg, und auf den zweiten Blick nahm er darauf eine große Geschäftigkeit, ein Wegschaffen von Karren und Platzmachen wahr; er sah Beamte und Kapuziner, die dieses Vorhaben leiteten und zugleich einen jeden fortschickten, der dort nichts zu tun hatte. Und da er fürchtete, auf diese Weise selber hinausgewiesen zu werden, so drängte er sich geradezu zwischen die Hütten auf der Seite, nach der er sich zufällig gewandt hatte, nämlich auf der rechten ein.
Er ging weiter, je nachdem er Platz fand, wohin er seinen Fuß setzen konnte, von Hütte zu Hütte, steckte den Kopf in eine jede, indem er von außen aufmerksam jede Ruhestätte betrachtete und die von Leiden abgespannten oder von Krampf zusammengezogenen oder im Tode unbeweglichen Gesichter ins Auge faßte, ob es ihm wohl beschieden sein möchte, das eine ausfindig zu machen, das er sich doch fürchtete herauszufinden. Aber schon hatte er eine gute Strecke Weges zurückgelegt und wie viele, viele Male seine schmerzliche Nachforschung angestellt, ohne noch ein weibliches Wesen gesehen zu haben, und so nahm er denn daraus ab, sie müßten in einem abgesonderten Raume sein. Das hatte er wohl erraten, aber von dem Wo hatte er keine Spur und keine Mutmaßung darüber. Er begegnete von Zeit zu Zeit Dienenden, ebenso verschiedenartig an Aussehen, Betragen und Kleidung, als die Beweggründe an sich verschieden und einander entgegengesetzt waren, die den einen wie den anderen eine gleiche Kraft verliehen, in einem solchen Amte auszuhalten; bei den einen die Vernichtung jeder Empfindung des Mitleids, bei den anderen ein übermenschliches Erbarmen. Jedoch war er nicht geneigt, weder die einen noch die anderen um Auskunft anzusprechen, um sich nicht etwa gar Schwierigkeiten zu bereiten und beschloß, aufs Geratewohl nur immer zuzugehen, bis er Frauen zu Gesicht bekäme. Und im Gehen unterließ er nicht umherzuspähen, wenn er auch von Zeit zu Zeit gezwungen war, den Blick betrübt und von so vielen Wunden wie geblendet zurückzuziehen. Doch wohin sollte er ihn wenden, worauf ihn ruhen lassen, als zu und auf anderen Wunden?
Die Luft selbst und der Himmel erhöhten, wenn irgend etwas ihn erhöhen konnte, den Schrecken dieses Anblicks. Der Nebel hatte sich nach und nach verdichtet und zu dicken, düsteren Wolken zusammengeballt, die, immer trüber und trüber werdend, aussahen, als ob sie einen Sturm verkündeten; nur daß gegen die Mitte dieses dunkeln, tief gesenkten Himmels zu, wie hinter einem zerrissenen Schleier hervor die bleiche Sonnenscheibe schien, die rings um sich her einen schwachen duftigen Schimmer verbreitete und eine tote, drückende Schwüle ausströmte. Dann und wann hörte man durch das weite Gesumme hindurch tief murmelnde, wie abgebrochene, unbestimmte Klänge, und wenn man horchte, so würde man zwar nicht unterschieden haben, von welcher Seite sie kamen, doch hätte man sie für ein entferntes Fahren von Wagen, die plötzlich stillhielten, halten können. Man sah auf dem Felde umher auch nicht einen Zweig eines Baumes schwanken und auch nicht einen Vogel sich darauf niederlassen oder davon erheben; nur die Schwalbe allein, die sich plötzlich etwa auf dem Dache des Gebäudes zeigte, glitt mit ausgespannten Flügeln herab, wie um über die Fläche des Lagers hinzustreichen, schwang sich aber, von diesem Gewirr erschreckt, rasch wieder in die Höhe und entfloh. Es war so ein Wetter, wo unter einer Schar von Wanderern keiner ist, der das Stillschweigen bricht, wo der Jäger gedankenvoll, die Augen zu Boden gesenkt, vor sich hinschleicht; wo die Bäuerin, die das Feld umgräbt, aufhört zu singen, ohne sich des zu versehen; ein Wetter, wie es dem Sturme vorangeht, in dem die Natur, gleichsam regungslos nach außen und von innerlicher Anstrengung erschüttert, alles Lebende zu erdrücken, und ich weiß nicht, welche Mühseligkeit in jedes Geschäft, ja in den Müßiggang, in das Dasein selbst zu legen scheint. Aber an diesem schon an und für sich dem Leiden und Sterben gewidmeten Orte sah man den Menschen, mit dem Übel bereits handgemein, dem neuen Ungemach erliegen, sah man Hunderte urplötzlich schlimmer werden, und wurde zugleich der letzte Kampf angstvoller, wurde in der Zunahme der Schmerzen das Ächzen und Stöhnen erstickter; es war über diesen Ort vielleicht noch keine Stunde so bitter als diese hingegangen.
Schon war der Jüngling eine geraume Zeit, und zwar fruchtlos durch die Irrgänge von Hütten hingestrichen, als er in der Mannigfaltigkeit der Klagen und der Verwirrung des Gemurmels ein seltsames Gemisch von Blöken und Wimmern zu unterscheiden begann, bis er an eine zersplitterte und zerfallende Bretterwand gelangte, hinter der die ungewöhnlichen Töne hervordrangen. Er hielt das Auge an eine weite Öffnung zwischen zwei Brettern und sah einen Verschlag mit einzelnen Hütten darin, und sowohl in diesen als auf dem kleinen freien Raume nicht die gewöhnlichen Krankenlager, sondern neugeborene Kindchen auf Unterbetten oder Kopfkissen oder ausgebreiteten Bettüchern oder zerlumpten Kleidern liegend, und Ammen und andere geschäftige Frauen, und, was zumeist den Blick anzog und fesselte, Ziegen unter ihnen als ihre Gehilfinnen in der Ausübung ihrer Pflichten; ein Hospital Unmündiger, so wie Ort und Zeit es zuließen. Es war, sage ich, eine eigene Sache, einige dieser Tiere zu sehen, die ruhig über dem und jenem Säuglinge standen und ihm das Euter überließen, oder ein anderes, das wie aus mütterlichem Gefühl auf ein Kindergeschrei herzulief und neben dem rufenden Kleinen stehenblieb und sich für dasselbe zurechtzustellen strebte und blökte und sich gebärdete, fast als ob es verlangte, daß jemand ihnen beiden zu Hilfe käme.
Hin und wieder saßen Ammen mit Säuglingen an der Brust, einige mit so liebreichem Wesen, daß der Zuschauende zweifelhaft sein konnte, ob sie durch den Lohn oder von jener freiwilligen Menschenliebe an diese Stätte hingezogen worden, die die Notdurft und die Schmerzen aufsucht. Eine von ihnen nahm mit ganz betrübtem Angesicht einen weinenden armen Schelm von ihrer ausgesogenen Brust ab und ging und suchte traurig ein Tier auf, das ihre Stelle vertreten könnte. Eine andere betrachtete mit dem Auge des Wohlwollens das an ihrer Brust entschlummerte Kind und trug es, nachdem sie es sanft geküßt hatte, in eine Hütte, wo sie es auf ein Bett niederlegte. Eine dritte jedoch, die ihre Brust dem saugenden Fremdling hinhielt, starrte mit einem gewissen Ausdruck, wenn auch nicht der Fahrlässigkeit, so doch der Befangenheit in den Himmel; woran dachte sie in dieser Stellung, mit diesem Blicke sonst, wenn nicht an ein eigenes, das vielleicht noch kurz zuvor an dieser Brust gesogen hatte, das vielleicht daran verschieden war?
Andere, bejahrtere Frauen verrichteten andere Dienste. Eine und die andere lief auf das Geschrei eines verhungerten Kleinen herbei, nahm es auf und trug es zu einer Ziege, die einen Haufen frisches Gras abweidete, und legte es ihr an das Euter, indem sie mit der Stimme das unerfahrene Tier zugleich liebkoste und ausschalt, auf daß es zu dem Dienste bereitwillig wäre. Diese sprang auf, um eine andere Ziege wegzudrängen, die einen armen Wurm mit Füßen trat, ganz beflissen, einen anderen zu säugen; jene trug den ihrigen herum und wiegte ihn in den Armen, indem sie ihn bald in Schlaf zu singen, bald mit guten Worten zu beruhigen versuchte und ihn bei einem Namen rief, den sie ihm beigelegt hatte. Indes trat ein Kapuziner mit schneeweißem Barte dazu, zwei quiekende Kindlein, eins auf jedem Arme tragend, die er soeben erst von den entseelten Müttern weggenommen, und eine Frau lief und nahm sie in Empfang, und forschte unter den Weibern und der Herde umher, um alsbald eins aufzufinden, das Mutterstelle an ihnen verträte.
Mehr als einmal hatte sich der Jüngling, von seiner Sorge angetrieben, von der Öffnung entfernt um fortzugehen, und doch hatte er dann das Auge wieder daran gehalten, um noch einen Augenblick zuzusehen.
Nachdem er sich endlich davon losgerissen, ging er längs des Verschlages hin, bis eine kleine Anzahl daran aufgeschlagener Hütten ihn nötigte, eine andere Richtung zu nehmen. Er ging hierauf an den Hütten hin in der Absicht, sich wieder nach dem Verschlage zu wenden, um die Ecke zu biegen und anderswo hinauszuspähen. Derweil er nun so vor sich hinsah, um den Weg zu überlegen, traf sein Blick eine plötzliche, vorübergehende, flüchtige Erscheinung und brachte seine Seele in Aufruhr. Er sah nämlich in einer Entfernung von etwa hundert Schritten einen Kapuziner vorüberstreichen und sich gleich zwischen den Zelten verlieren, einen Kapuziner, der auch so von weitem und so flüchtig ganz und gar den Gang, das Wesen und die Gestalt des Pater Cristoforo hatte. Mit dem Ungestüm, das man sich denken kann, stürzte er sogleich nach der Gegend zu und suchte und trieb sich nun vorwärts und zurück, innen und außen, kreuz und quer im Gedränge so lange umher, bis er mit ebenso großer Freude jene Gestalt, jenen nämlichen Mönch wiedersah; er sah ihn unfern von sich von einem großen Kochtopfe hinweg mit einem Napf in der Hand nach einer Hütte gehen; er sah ihn darauf sich vor den Eingang derselben niedersetzen, ein Kreuz über den Napf schlagen, den er vor sich hielt, und indem er sich umsah, wie jemand, der immer auf dem Platze ist, zu essen anfangen. Es war der leibhaftige Pater Cristoforo.
Die Geschichte desselben von da an, wo wir ihn aus dem Gesicht verloren haben, bis zu diesem Begegnen läßt sich mit zwei Worten erzählen. Er war nicht eher von Rimini weggekommen, und es war ihm nicht eher eingefallen, sich von dort zu entfernen, als bis die in Mailand ausgebrochene Pest ihm die Gelegenheit zu dem bot, was er immer so sehnlich gewünscht hatte, für den Nächsten das Leben zu lassen. Er suchte flehentlich darum nach, zum Dienst und Beistand der Pestkranken abberufen zu werden. Der Graf-Oheim war tot, und übrigens waren zurzeit Krankenwärter nötiger als Politiker, also wurde ihm ohne Schwierigkeit gewillfahrt. Er kam sofort nach Mailand, kam in das Lazarett und war allda seit etwa drei Monaten.
Aber die Freude Renzos, seinen guten Klosterbruder wiederzufinden, war auch nicht einen Augenblick rein; zugleich mit der Gewißheit, daß er es war, empfing er einen schmerzlichen Eindruck von der mit ihm vorgegangenen Veränderung. Seine Haltung war gebeugt und kummervoll, sein Antlitz mager und abgefallen, und er zeigte eine völlig erschöpfte Natur, einen zerstörten, hinfälligen Leib, der nur mit Seelenstärke sich noch forthalf und jeden Augenblick gleichsam wieder aufrichtete.
Auch er richtete den Blick auf den Jüngling, der auf ihn zukam und mit Gebärden, da er dies mit der Stimme nicht wagte, bemüht war, sich ihm bemerklich und erkennbar zu machen. »Ach, Pater Cristoforo!« sagte er dann, als er ihm nahe genug war, um gehört werden zu können ohne zu schreien.
»Du hier!« sagte der Mönch, indem er den Napf auf den Boden setzte und aufstand.
»Wie geht es, Pater, wie geht es Ihnen?«
»Besser als den vielen armen Leuten, die du siehst«, entgegnete der Mönch, und seine Stimme war schwach, hohl und wie alles übrige verwandelt. Nur das Auge war noch wie früher oder ein gewisses lebhafteres, glänzenderes Etwas darin; die am Ende ihres Tagewerkes erhöhte und mit Frohlocken sich ihrem Ursprunge nahe fühlende Menschenliebe stellte in ihm gewissermaßen ein noch glühenderes und reineres Feuer als dasjenige her, was die Krankhaftigkeit nach und nach in ihm auslöschte. »Aber du,« fuhr er fort, »wie kommst du an diesen Ort? warum stellst du dich so der Pest bloß?«
»Ich habe sie gehabt, dem Himmel sei Dank. Ich komme ... ich suche ... Lucia.«
»Lucia! Ist Lucia hier?«
»Sie ist hier; wenigstens hoffe ich zu Gott, daß sie noch hier ist.«
»Ist sie dein Weib?«
»Ach, lieber Pater, leider ist sie noch nicht mein Weib. Wissen Sie denn nichts von alledem, was vorgefallen?«
»Nein, mein Sohn; seitdem Gott mich von euch entfernt hat, habe ich nichts mehr von ihr gehört; aber jetzt, da er dich mir sendet, wünsche ich allerdings sehnlich etwas von ihr zu erfahren. Aber ... der Steckbrief?«
»Sie wissen also, was sie mir angetan haben?«
»Aber du, was hattest du getan?«
»Hören Sie; wenn ich sagen wollte, ich wäre an jenem Tage in Mailand vernünftig gewesen, so würde ich eine Lüge sagen; aber schlechte Streiche habe ich wahrlich nicht begangen.«
»Ich glaube es dir und glaubte es auch schon gleich.«
»Jetzt kann ich Ihnen also alles sagen.«
»Warte,« sagte der Mönch, und einige Schritte vor der Hütte hingehend, rief er: »Pater Vittore!« Nicht lange, so erschien ein junger Kapuziner, zu dem er sprach: »Tut mir die Liebe, Pater Vittore, und wartet auch für mich diese unsere armen Kranken mit ab, derweil ich nicht zugegen bin, und wenn ja jemand nach mir fragen sollte, so wollet mich doch rufen. Besonders jener dort! wenn er das geringste Zeichen von sich gäbe, wieder zu sich zu kommen, so laßt es mich, seid so barmherzig, auf der Stelle wissen.«
Der junge Mönch erwiderte, er würde es tun, und der alte wendete sich zu Renzo und sagte: »Treten wir hier hinein. Aber«, fügte er gleich hinzu, indem er stehenblieb, »du scheinst mir sehr entkräftet; du hast gewiß das Bedürfnis, etwas zu essen.«
»Es ist wahr,« sagte Renzo; »jetzt, da Sie mich daran erinnern, fällt es mir ein, daß ich noch nüchtern bin.«
»Warte«, sagte der Mönch, nahm noch einen Napf, ging zum Kessel, aus dem er ihn vollfüllte, kehrte zurück und reichte ihn mit einem Löffel Renzo dar, den er auf den ihm als Bett dienenden Strohsack niedersetzen ließ. Dann schritt er zu einem in einem Winkel stehenden Faß und holte daraus ein Glas Wein, das er auf einen Tisch neben seinen Gast stellte. Dann griff auch er wieder zu seinem Napf und setzte sich neben ihm nieder.
»Ach, Pater Cristoforo!« sagte Renzo, »kommt es Ihnen zu, dergleichen zu verrichten? Aber Sie sind immer der nämliche. Ich danke Ihnen von Herzen.«
»Danke mir nicht,« sprach der Mönch, »es ist Armengut; aber auch du bist in diesem Augenblick ein Armer. Nun sage mir, was ich nicht weiß; erzähle mir von unserer Ärmsten, und tue es mit möglichst wenigen Worten, denn die Zeit ist knapp und, wie du siehst, genug zu tun.«
Renzo erzählte, zwischen einem Löffel nach dem anderen, Luciens Geschichte vom Anfang an, wie sie im Kloster von Monza untergebracht, wie sie geraubt worden war ...
Bei der Vorstellung solcher Leiden und solcher Gefahren, bei dem Gedanken, daß er es gewesen, durch den die arme Unschuldige an den Ort gekommen, verging dem guten Mönch der Atem; aber er kam ihm gleich wieder, als er hörte, wie wunderbar sie gerettet, der Mutter wiedergegeben und von dieser bei Donna Prassede untergebracht worden war.
»Nunmehr will ich Ihnen von mir erzählen«, fuhr der Sprecher fort und berichtete in der Kürze von jenem Tage in Mailand, von seiner Flucht und wie er immer fern von seiner Heimat geblieben wäre und jetzt, wo alles drunter und drüber gegangen, beschlossen gehabt hätte, sich dorthin zu begeben; wie er Agnes daselbst nicht vorgefunden; wie er in Mailand erfahren, Lucia befände sich im Lazarett. »Und so bin ich denn hier,« schloß er, »bin hier, um sie aufzusuchen, um zuzusehen, ob sie noch lebt und ob ... sie mich noch will ... denn ... zuweilen ...«
»Aber wie bist du nun wohl hier zurechtgewiesen?« fragte der Mönch. »Hast du irgend einen Fingerzeig darüber, wo man sie hingebracht hat, seit wann sie hierhergekommen ist?«
»Keinen, lieber Pater! keinen als den, daß sie hier ist, wenn sie noch hier ist, was Gott wolle!«
»Ach, du Ärmster! Aber was hast du bis jetzt versucht?«
»Ich bin hin und her gestrichen, aber unter anderem habe ich fast nichts als Männer gesehen. Ich habe mir wohl gedacht, daß die Frauen an einem besonderen Orte sein müssen; aber ich habe noch nicht dahin gelangen können; wenn dem nun so ist, werden Sie mir ihn jetzt schon weisen.«
»Weißt du nicht, mein Sohn, daß es den Männern, die darin nicht irgendeine Obliegenheit haben, verboten ist, hineinzugehen?«
»Ei, was könnte mir da weiter auch geschehen?«
»Das Gesetz ist heilig und gerecht, mein lieber Sohn; und wenn die Masse und Schwere der Not nicht zuläßt, daß es mit aller Strenge aufrechterhalten werden kann, ist das wohl für einen redlichen Menschen Grund genug, es zu übertreten?«
»Aber, Pater Cristoforo!« sprach Renzo, »Lucia sollte mein Weib sein; Sie wissen, wie wir getrennt worden sind; es sind zwanzig Monate her, seit ich leide und Geduld habe; ich bin auf so vielerlei Gefahren hin, die eine schlimmer als die andere, bis hierher gedrungen, und gegenwärtig nun ...«
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, hob der Mönch wieder an, viel eher seine Gedanken als die Worte des Jünglings beantwortend. »Du gehst in guter Absicht hin, und wollte Gott, alle, die freien Zutritt an dem Orte haben, führten sich da so auf, wie ich dir vertrauen kann, daß du tun wirst. Gott, der diese deine ausdauernde Liebe, diese deine getreue Anhänglichkeit an diejenige, die er dir gegeben hatte, dein getreues Suchen nach ihr sicherlich segnet, Gott, der gestrenger als die Menschen, aber auch nachsichtiger ist, wolle nicht darauf achten, was in dieser deiner Art und Weise, sie zu suchen, Unrechtes sein mag. Sei du nur dessen eingedenk, daß wir alle beide von deinem Betragen an jenem Orte, den Menschen nicht, aber Gott unfehlbar Rechenschaft abzulegen haben. Komm her.«
Bei diesen Worten erhob er sich und mit ihm Renzo, der, ohne daß er ermangelte, auf seine Worte aufzumerken, sich unterdessen mit sich selbst beraten hatte, von jenem gewissen Gelübde Luciens nicht, wie er sich anfänglich vorgesetzt, zu sprechen. – »Wenn er das noch hört,« hatte er gedacht, »so macht er mir ganz gewiß neue Schwierigkeiten. Entweder ich finde sie, und dann haben wir noch immer Zeit genug, das zu besprechen, oder ... und was hilft es dann?!«
Der Mönch zog ihn zu dem Eingang der Hütte, der gegen Mitternacht lag, und hob dann wieder an: »Höre; unser Pater Felice, der der Vorsteher des Lazaretts hier ist, führt heute die wenigen Genesenen, die wir haben, anderswohin, ihre Kontumaz zu halten. Du siehst die Kirche dort in der Mitte ... und«, die dürre zitternde Rechte erhebend, deutete er links in der trüben Luft auf die Kuppel der über die armseligen Zelte aufragenden Kapelle, und fuhr fort: »Dort herum versammeln sie sich jetzt, um in Prozession zu dem Tore hinauszuziehen, durch das du hereingekommen sein mußt.«
»Ach! also deshalb waren sie so geschäftig, den Weg freizumachen.«
»Ganz recht, und du mußt auch wohl einigemal haben die Glocke anschlagen hören.«
»Das war das zweitemal; beim dritten Schlage werden sie alle beisammen sein, wird Pater Felice sie mit ein paar Worten anreden und alsdann mit ihnen aufbrechen. Bei diesem Zeichen begib du dich dorthin; mache, daß du hinter die Versammlung an den Rand des Weges zu stehen kommst, wo du sie kannst vorüberziehen sehen, ohne eine Störung zu bewirken oder aufzufallen und sieh ... sieh zu, ob sie dabei ist. Wenn Gott nicht wollte, daß sie dabei ist, so ist jener Teil,« und er erhob die Hand von neuem und zeigte nach der ihnen gegenübergelegenen Seite des Gebäudes, »so ist jener Teil des Lazaretts und ein Teil des Platzes davor den Frauen angewiesen. Du wirst einen Bretterverschlag sehen, der dieses Viertel von jenem trennt, jedoch hier und da durchbrochen und offen ist, so daß du keine Schwierigkeit finden wirst, hinein zu gelangen. Drinnen dann wird dir wahrscheinlich niemand etwas sagen, wofern du nichts begehst, was jemand verdächtig ist; wenn man dir aber irgendein Hindernis in den Weg legen sollte, so sage nur, daß Pater Cristoforo von *** dich kenne und von dir Rechenschaft geben werde. Suche sie hier, suche sie mit Zuversicht und ... mit Ergebung. Denn bedenke wohl, daß es etwas Großes ist, was du begehrst: du begehrst im Lazarett jemand am Leben anzutreffen! Weißt du, wie vielmal ich dies mein armes Völkchen erneut gesehen! wie viele ich habe forttragen sehen; wie wenige hinausgehen! ... Geh, auf ein Opfer vorbereitet ...«
»Ja! ich sehe es auch ein,« unterbrach ihn Renzo mit verdrehten Augen und im ganzen Gesicht sich verfinsternd, »ich sehe es ein! Ich gehe, ich werde aufpassen und suchen hier und dort und von oben bis unten durch das ganze Lazarett ... doch wenn ich sie nicht finde! ...«
»Wenn du sie nicht findest?« sprach der Mönch in ernster Erwartung und mit einem verweisenden Blick.
Renzo aber, dem der im Herzen nach und nach schon wieder angeschwollene Zorn den Blick verdunkelte und die Ehrfurcht benahm, wiederholte und fuhr fort: »Wenn ich sie nicht finde, so werde ich jemand anders zu finden trachten. Gleichviel ob in Mailand oder in seinem abscheulichen Schlosse, oder an der Welt Ende, oder in der Hölle, ich werde ihn schon finden, den Bösewicht, der uns getrennt hat, den Schurken, ohne den Lucia schon seit zwanzig Monaten mein sein würde und wir wenigstens zusammen gestorben wären, wenn wir hätten sterben sollen. Ja, wenn der noch hienieden ist, so werde ich ihn finden ...«
»Renzo!« sagte der Mönch, ergriff ihn beim Arme und sah ihn noch strenger an.
»Und wenn ich ihn finde,« fuhr jener, ganz blind vor Zorn, fort, »wenn die Pest noch keine Gerechtigkeit an ihm ausgeübt hat ... Die Zeit ist nicht mehr, daß solche Memme, von seinen Bravi umgeben, die Leute in Verzweiflung bringen und hinterdrein auslachen kann; es ist eine Zeit gekommen, wo die Menschen Stirn gegen Stirn voreinander treten, und ... so werde ich Gerechtigkeit ausüben.«
»Unglückseliger!« rief Pater Cristoforo mit einer Stimme, die ihre ganze alte Fülle und ihren Wohlklang wieder angenommen hatte; »Unglückseliger!« Und sein auf der Brust lastendes Haupt hatte sich emporgerichtet, die Wangen färbten sich mit dem alten Leben, und das Feuer der Augen hatte, ich weiß nicht, was Erschreckliches. »Sieh, Unglückseliger!« Und während er mit einer Hand Renzos Arm stark drückte und schüttelte, streckte er die andere vor sich hin und deutete, soweit er konnte, auf das traurige Schauspiel, das sie umgab. »Sieh, wer der ist, der da straft! Der da richtet und nicht gerichtet wird! Der da geißelt und verzeiht! Aber du Erdenwurm, du willst Gerechtigkeit ausüben! Du, weißt du, was Gerechtigkeit ist! Geh, Unglückseliger, hinweg! Ich hoffte ... ja, ich habe gehofft, daß vor meinem Tode Gott mir den Trost verleihen würde, zu vernehmen, daß meine arme Lucia am Leben wäre, sie vielleicht zu sehen und mir von ihr versprechen zu hören, daß sie dort nach der Grube hin, wo ich ruhen werde, ein Gebet senden wolle. Geh, du hast mir meine Hoffnung benommen. Gott hat sie nicht für dich auf Erden gelassen, und du bist sicherlich nicht so vermessen, zu glauben, du seiest wert, daß Gott bedacht sei, dich zu trösten. Er wird an sie gedacht haben, denn sie ist eine jener Seelen, denen die ewigen Tröstungen beschieden sind. Geh! ich habe nicht Zeit mehr, auf dich zu hören.« Und indem er dies sagte, stieß er Renzos Arm von sich und schritt auf eine Krankenhütte zu.
»Ach, Pater!« sprach Renzo und ging ihm mit flehentlicher Gebärde nach, »wollen Sie mich auf diese Weise fortschicken?«
»Wie!« begann der Kapuziner mit nicht minder strenger Stimme wieder. »Dürftest du etwa verlangen, ich sollte meine Zeit diesen Betrübten entziehen, die gewärtig sind, daß ich mit ihnen von der Vergebung Gottes rede, um die Ausbrüche deiner Wut, die Vorsätze deiner Rache anzuhören? Ich habe dich angehört, als du Trost und Rat verlangtest, ich habe mich der Christenpflicht um der Christenpflicht willen entzogen; aber jetzt hast du deine Rache im Herzen, was willst du von mir? Geh fort. Ich habe hier Beleidigte sterben sehen, die verziehen, Beleidiger, die ächzten und stöhnten, daß sie sich nicht vor den Beleidigten demütigen konnten; ich habe mit den einen und den andern geweint; aber was habe ich mit dir zu schaffen?«
»Ach, ich vergebe ihm ja! ich vergebe ihm wahrhaftig, ich vergebe ihm für immer!« rief der Jüngling aus.
»Renzo!« sagte der Mönch mit ruhigerer Strenge, »bedenke einmal und sage an, wievielmal du ihm schon vergeben hast.«
Und da es eine Weile dauerte, ehe er eine Antwort erhielt, so neigte er mit einmal das Haupt und hob mit besänftigterer Stimme wieder an: »Du weißt, warum ich dieses Kleid trage!«
Renzo zögerte.
»Du weißt es!« wiederholte der Greis.
»Ich weiß es«, versetzte Renzo.
»Auch ich habe gehaßt, der ich dich wegen eines Gedankens, wegen eines Wortes gescholten; den Menschen, den ich haßte, den ich aufrichtig haßte, den ich lange Zeit haßte, ich habe ihn getötet.«
»Ja, aber einen Gewalttätigen, einen von denen ...«
»Schweig,« fiel der Mönch ein; »meinst du, wenn es eine Entschuldigung dafür gäbe, daß ich sie in dreißig Jahren nicht aufgefunden haben würde! Ach! wenn ich dir jetzt das Gefühl in das Herz pflanzen könnte, das ich darauf immer für den Menschen, den ich haßte, gehabt habe und noch habe! Wenn ich es könnte! ich? Aber Gott kann es: Er wolle es tun! ... Höre, Renzo, er will dir wohler, als du dir willst, du hast auf Rache sinnen können, aber er besitzt Kraft genug und Erbarmen genug, dich von ihr abzuhalten; er erzeigt dir eine Gnade, der ein anderer unwürdig war. Du weißt, du hast es so vielmals gesagt, daß er der Hand eines Gewalttätigen Einhalt tun kann; aber wisse, daß er auch der eines Rachsüchtigen Einhalt tun kann. Und weil du arm bist, weil du gekränkt bist, glaubst du, daß er da einen Menschen, den er nach seinem Ebenbilde geschaffen, nicht gegen dich verteidigen könne? Glaubst du, er würde dich alles tun lassen, was du wolltest? Nein! aber weißt du wohl, was du tun kannst? Du kannst hassen und dich verderben; du kannst mit einem deiner Gefühle allen Segen von dir entfernen. Darum sei versichert, daß, wie es dir auch immer ergehen, was für ein Glück dir irgend begegnen mag, alles dir doch nur zur Strafe gereichen wird, bis du nicht verziehen, auf eine Weise verziehen hast, daß du nimmer wieder sagen kannst: ich verzeihe ihm.«
»Ja, ja,« sagte Renzo ganz gerührt und ganz verwirrt; »ich sehe ein, daß ich ihm niemals wahrhaft verziehen hatte; ich sehe ein, daß ich wie ein unvernünftiger Mensch und nicht wie ein Christ gesprochen habe! Nunmehr aber, durch die Gnade des Herrn, verzeihe ich ihm recht von Herzen.«
»Und wenn du ihn sähest?«
»So würde ich den Herrn bitten, mir Geduld zu verleihen und ihm das Herz zu rühren.«
»Würdest du dich erinnern, daß der Herr nicht zu uns gesagt hat, wir sollten unseren Feinden verzeihen, daß er uns gesagt hat, wir sollten sie lieben? Würdest du dich erinnern, daß er ihn so sehr geliebt, für ihn zu sterben?«
»Ja, mit seiner Hilfe.«
»Wohlan denn; so komm und sieh ihn. Du hast gesagt: ich werde ihn finden; du wirst ihn finden. Komm und sieh, gegen wen du Haß in dir hegen, wem du Böses wünschen, wem du es zufügen wollen konntest, über wessen Leben du als Herr schalten wolltest.«
Und Renzos Hand ergreifend und sie drückend, wie ein rüstiger Jüngling es nur hätte tun können, brach er auf. Jener folgte ihm nach, ohne daß er noch etwas zu fragen wagte.
Nach einer kurzen Wanderung blieb der Mönch vor dem Eingange einer Hütte stehen, sah Renzo mit einer gewissen Mischung von Ernst und Rührung fest ins Gesicht und zog ihn hinein.
Der erste Gegenstand, der sich beim Eintreten darbot, war ein auf dem Stroh im Hintergrunde sitzender Kranker, ein jedoch nicht Schwerkranker, der sogar seiner Genesung nahe scheinen konnte, und, sobald er den Pater erblickt hatte, den Kopf wie verneinend schüttelte; der Pater senkte den seinigen mit einer Gebärde der Traurigkeit und Ergebung. Indem Renzo unterdessen mit unruhiger Neugier den Blick auf den anderen Gegenständen umherschweifen ließ, sah er drei oder vier Kranke, unterschied er einen auf der einen Seite, auf einer Matratze in ein Bettuch gewickelt, mit einem prächtigen Mantel anstatt der Decke über sich; faßte ihn ins Auge, erkannte Don Rodrigo und trat zurück. Der Mönch aber zog ihn zu dem Fuße des Lagers hin; indem er ihn wiederholt kräftig die Hand fühlen ließ, mit der er ihn hielt, streckte er die andere Hand darüber aus und wies mit dem Finger auf den darauf ausgestreckten Mann.
Der Unglückliche war regungslos; die Augen standen ihm weit offen, waren aber ohne Blick; das Antlitz bleich und voll einzelner schwarzer Flecken; die Lippen schwarz und geschwollen; man würde es für das Antlitz eines Toten gehalten haben, wenn nicht ein heftiges Zucken ein zähes Leben darin angekündigt hätte. Seine Brust hob sich von Zeit zu Zeit unter angstvollen, schweren Atemzügen; die von dem Mantel unbedeckte Rechte faßte denselben nahe bei dem Herzen mit krummgepreßten Fingern, die alle braun und blau und an den Spitzen schwarz waren.
»Du siehst!« sagte der Mönch mit leiser, feierlicher Stimme. »Es kann eine Strafe, es kann eine Gnade sein. Eben die Gesinnung, die du jetzt für diesen Mann haben wirst, der dich allerdings beleidigt, eben die Gesinnung wird an jenem Tage Gott, den du auch beleidigt hast, für dich haben. Segne ihn, und du wirst gesegnet werden. Seit vier Tagen ist er hier, so wie du ihn siehst, ohne ein Zeichen von Empfindung von sich zu geben. Vielleicht ist der Herr gewillt, ihm eine Stunde der Klarheit zu gewähren; wollte aber von dir darum gebeten sein; vielleicht will er, daß du ihn mit jener Unschuldigen darum bittest; vielleicht spart er seine Gnade für dein alleiniges Gebet auf, für das Gebet eines betrübten und ergebenen Herzens. Vielleicht hängt die Errettung dieses Menschen und die deine jetzt von dir ab, von einem Gefühl der Vergebung, des Mitleids ... der Liebe in dir!«
Er schwieg, faltete die Hände und neigte das Gesicht über sie, wie um zu beten. Renzo tat desgleichen.
Sie hatten einige Augenblicke in dieser Stellung zugebracht, als der dritte Glockenschlag ertönte. Sie brachen beide wie verabredetermaßen auf und gingen hinaus. Weder stellte der eine Fragen, noch gab der andere Beteuerungen von sich; ihre Gesichtszüge redeten.
»Geh jetzt,« hob der Mönch wieder an, »geh, darauf gefaßt, ein Opfer zu bringen, Gott zu loben, was auch immer der Erfolg deiner Nachforschungen sein möge. Und er möge sein, welcher er wolle, so komm und bringe mir Nachricht; wir werden ihn zusammen loben.«
Hier trennten sie sich, ohne weiter etwas zu sagen; der eine kehrte dorthin zurück, woher er gekommen; der andere machte sich nach der Kapelle auf den Weg, die nur auf Wurfweite entfernt war.