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Lucia war seit kurzer Zeit wieder zu sich gekommen und hatte sich einen Teil dieser Zeit bemüht, sich völlig zu ermuntern, die trübseligen Erscheinungen des Schlafes von den Erinnerungen und Bildern der einem düsteren Fiebertraume nur allzu ähnlichen Wirklichkeit zu sondern.
Die Alte war alsbald zu ihr getreten und hatte mit der erzwungenen Bescheidenheit ihrer Stimme zu ihr gesagt: »Ach, habt Ihr geschlafen? Ihr hättet im Bette schlafen können, ich habe es Euch gestern abend doch so vielmal gesagt.« Und keine Antwort empfangend, fuhr sie in dem Tone ärgerlichen Bittens fort: »Nun, so eßt doch einmal: nehmt Vernunft an. Hu, wie garstig seid Ihr! Es tut Euch not, daß Ihr eßt. Und hernach, wenn er zurückkehrt, zankt er mit mir!«
»Nein, nein; ich will fort, ich will zu meiner Mutter. Der Herr hat es mir versprochen, er hat gesagt: Morgen früh. Wo ist der Herr?«
»Er ist ausgegangen; aber er hat gesagt, er werde bald wieder da sein, er werde alles tun, was Ihr wollt.«
»Hat er das gesagt? hat er das gesagt? Nun wohl, ich will zu meiner Mutter; gleich, gleich.«
Und horch! da vernimmt man im anstoßenden Gemach das Geräusch von Fußtritten; darauf ein Pochen an die Tür. Die Alte läuft hinzu, fragt: »Wer da?«
»Mach auf,« antwortet leise die bekannte Stimme.
Diese zieht den Riegel zurück; der Ungenannte stößt den Türflügel leicht auf, so daß eine kleine Öffnung entsteht, befiehlt der Alten, herauszukommen, und läßt sogleich Don Abbondio mit der guten Frau hinein. Sodann machte er die Tür wieder zu, bleibt dahinter stehen und schickt die Alte in einen entfernten Teil der Burg, wie er auch schon die andere Frau, die draußen Wache hielt, hatte fortgehen heißen.
Diese ganze Bewegung, der Augenblick der Erwartung, das erste Erscheinen neuer Personen verursachten Lucia einen Anfall von Gemütsunruhe, für die, wenn auch ihr gegenwärtiger Zustand unerträglich, jede Veränderung doch ein schreckhaftes Ereignis war.
Sie blickte hin, sah einen Priester, eine Frau; faßte ein wenig Mut; sie sieht genauer hin; ist er's oder ist er's nicht? Sie erkennt Don Abbondio und hält wie bezaubert die Augen fest auf ihn gerichtet.
Die Frau trat zu ihr, bog sich zu ihr nieder, nahm, indem sie sie mitleidig ansah, ihre beiden Hände, wie um sie zugleich zu liebkosen und aufzurichten und sagte zu ihr: »Ach, arme Kleine! kommt, kommt mit uns.«
»Wer seid Ihr?« fragte Lucia; ohne jedoch auf die Antwort zu hören, wandte sie sich aufs neue zu Don Abbondio, der, gleichfalls mit einer höchst mitleidigen Miene, zwei Schritte entfernt stand, faßte ihn abermals ins Auge und rief aus: »Sie! Sind Sie es? Der Herr Pfarrer? Wo sind wir denn ... Ach, weh mir Armen! Ich bin nicht bei Sinnen!«
»Nein, nein,« erwiderte Don Abbondio, »ich bin es wahrhaftig, faßt nur Mut. Seht Ihr? wir sind hier, um Euch wegzubringen. Ich bin Euer leiblicher Pfarrer, ausdrücklich hierhergekommen, hergeritten ...«
Lucia richtete sich hastig auf, gleich als ob sie auf einmal alle ihre Kräfte wiedergewonnen hätte; heftete den Blick nochmals auf die beiden Gesichter und sprach: »Es ist also die Madonna, die Euch gesandt hat.«
»Das glaub ich wohl,« sagte die gute Frau.
»Aber wir können fortgehen, wir können im Ernste fortgehen?« hob Lucia, leise sprechend und mit einem scheuen, argwöhnischen Blicke wieder an. »Und all die Leute? ...« fuhr sie mit vor Furcht und Entsetzen bebenden und eingezogenen Lippen fort: »Und jener Herr! ... der Mann ... er hatte mir wohl versprochen ...«
»Er ist auch in eigener Person ausdrücklich mit uns hergekommen,« sagte Don Abbondio. »Er wartet hier draußen. Macht geschwind; wir dürfen jemand seinesgleichen nicht warten lassen.«
Nunmehr stieß derjenige, von dem die Rede war, die Tür auf, zeigte sich und kam hervor. Lucia, die ihn kurz vorher herbeigewünscht, ja, da sie auf nichts anderes in der Welt zu hoffen, nur ihn herbeigewünscht hatte, konnte sich gegenwärtig, nachdem sie befreundete Gesichter gesehen und befreundete Stimmen gehört, eines plötzlichen Schauders nicht erwehren; sie fuhr zusammen, hielt den Atem an, drückte sich an die gute Frau und barg das Gesicht an ihrem Busen. Er war gleich beim ersten Erblicken des Mädchens, auf dem er schon am vergangenen Abende das Auge nicht hatte ruhen lassen können, des Mädchens, das jetzt noch bleicher, kummervoller, durch das fortgesetzte Leiden und durch den Hunger abgezehrter geworden, auf halbem Wege stehengeblieben, und sowie er dann jene Gebärde des Schreckens sah, senkte er die Augen, blieb noch einen Moment stumm und unbeweglich stehen und antwortete darauf auf das, was die Ärmste gar nicht gesagt hatte, indem er ausrief: »Es ist wahr; vergebt mir!«
»Er kommt, Euch zu befreien; er ist nicht mehr derselbe; er ist gut geworden; hört Ihr, daß er Euch um Vergebung bittet!« flüsterte die gute Frau Lucia ins Ohr.
»Kann man mehr sagen? Nun, den Kopf in die Höhe: tut nicht wie ein kleines Kind, damit wir geschwind fortkommen,« sagte ihr Don Abbondio. Lucia erhob den Kopf, blickte den Ungenannten an und sagte, da sie jene Stirn gesenkt, jenen Blick verwirrt zu Boden geschlagen sah, von einem gemischten Gefühl des Trostes, der Dankbarkeit, des Mitleids ergriffen: »Ach, gnädiger Herr! Gott vergelte Ihnen Ihre Barmherzigkeit!«
»Und Euch auf tausendfältige Weise die Wohltat, die mir diese Eure Worte erzeigen.«
Hierauf wandte er sich, schritt nach der Tür und ging zuerst hinaus.
Lucia folgte ihm ganz neu belebt mit der Frau, die ihr den Arm lieh; Don Abbondio ging hinterdrein. Sie stiegen die Treppe hinunter, befanden sich an der Pforte, die nach dem Hofe führte. Der Ungenannte riß die Tür auf, ging zur Sänfte, öffnete den Schlag, reichte mit einer gewissen, fast scheuen Höflichkeit – zwei neue Dinge an ihm – Lucia den Arm und half ihr und dann der guten Frau hinein. Er nahm darauf aus den Händen des Sänftenführers die Zügel der beiden Reitesel und gab auch Don Abbondio, der sich ihm genähert hatte, den Arm.
»Oh, welche Herablassung!« sagte dieser und stieg schon weit behender als das erstemal auf. Der Zug setzte sich in Bewegung, sobald der Ungenannte sich auch seinerseits aufgeschwungen hatte. Seine Stirn hatte sich erhoben; der Blick den gewohnten gebietenden Ausdruck wieder angenommen. Die Spießgesellen, die sich am Wege befanden, nahmen auf seinem Antlitz wohl die Anzeichen eines festen Gedankens, eines außerordentlichen Eifers wahr; aber mehr begriffen sie nicht davon und konnten nicht mehr davon verstehen. Man wußte hier noch nichts von der großen Umwandlung dieses Mannes, und durch Vermutungen würde gewiß keiner von ihnen darauf gekommen sein.
Die gute Frau hatte gleich die Vorhänge an den Fensterchen der Schläge zugezogen, und nachdem sie sodann liebreich Luciens Hände erfaßt, hatte sie angefangen, sie mit Worten der Frömmigkeit, der Beglückwünschung und der innigen Teilnahme zu trösten. Und da sie sah, wie, abgesehen von ihrer Erschöpfung durch so viele ausgestandene Drangsale, die Verwirrung und Dunkelheit der Begebenheiten die Arme abhielten, sich ihrer Befreiung zu erfreuen, so sagte sie ihr, was sie nur irgend Zweckmäßiges ersinnen konnte, um ihrem Gedächtnis wieder aufzuhelfen, um sozusagen ihre Gedanken zu entwirren, sie wieder ins rechte Gleis zu bringen. Sie nannte ihr das Dorf, woher sie war und wohin die Reise ging.
»Ja!« sagte Lucia, die da wußte, daß es nahe dem ihrigen lag. »Ach, heiligste Jungfrau Maria, ich danke dir! Meine Mutter! Meine Mutter!«
»Wir werden sie recht bald holen lassen,« sagte die gute Frau, die nicht wußte, daß es schon geschehen war.
»Ja, ja, Gott wird es Euch lohnen ... Und Ihr, wer seid Ihr? Wie seid Ihr dazugekommen ...?«
»Mich hat unser Pfarrer geschickt,« sagte die gute Frau, »denn diesem Herrn hat Gott – er sei gelobt! – das Herz gerührt, und er ist in unser Dorf gekommen, um mit dem Herrn Kardinal Erzbischof zu sprechen, den wir drunten zum Kirchenbesuche haben, den teueren Gottesmann, und da hat er seine schweren Sünden bereut und will sein Leben ändern und hat dem Kardinal gesagt, er habe ein armes unschuldiges Mädchen, das Ihr seid, im Einverständnisse mit einem anderen Menschen ohne Gottesfurcht rauben lassen, den mir der Pfarrer nicht deutlich bezeichnet hat, wer es sein könnte.«
Lucia hob die Augen gen Himmel.
»Solltet Ihr es vielleicht wissen,« fuhr die gute Frau fort. »Nun gut; der Herr Kardinal hat also gedacht, da es sich um ein junges Mädchen handle, so bedürfe man einer Frau zu ihrer Begleitung, und hat dem Pfarrer gesagt, er solle eine herbeischaffen; und da hat denn der Pfarrer die Güte gehabt, zu mir zu kommen ...«
»Oh, der Herr vergelte Euch Eure Menschenliebe!«
»Denkt Euch nur, mein armes Mädchen! Und da hat der Herr Pfarrer zu mir gesagt, ich solle Euch Mut zusprechen und Euch recht bald aufzurichten suchen und Euch zu verstehen geben, wie wunderbar Euch der Herr errettet hat ...«
»Ach, ja wohl, recht wunderbar; auf die Fürbitte der Madonna.«
»Darum seid gutes Mutes und verzeiht dem, der Euch Böses zugefügt hat und seid froh, daß Gott ihm Barmherzigkeit hat angedeihen lassen, ja, bittet sogar für ihn, denn nicht nur, daß dies ein verdienstliches Werk von Euch sein wird, es wird Euch auch das Herz erweitern.«
Lucia antwortete mit einem Blicke, der so deutlich, als es Worte nur hätten tun, und mit einer Lieblichkeit, die die Worte nicht würden haben wiedergeben können, ihren Beifall ausdrückte.
»Braves Mädchen!« entgegnete die Frau. »Und da sich auch gerade Euer Pfarrer in unserem Dorfe befand, – denn es sind ihrer so viele, viele da, von weit und breit her, daß man zu gleicher Zeit vier Hochämter mit ihnen halten könnte, so hat es der Herr Kardinal für gut befunden, auch ihn zur Gesellschaft mitzuschicken, wenn er auch eben nicht viel geholfen hat: denn ich hatte wohl schon davon reden hören, daß er ein Feigling sei; aber bei dieser Gelegenheit habe ich sehen können, daß er sich nicht zu raten und zu helfen weiß.«
»Und dieser ...« fragte Lucia, »der gut geworden ist ... wer ist er?«
»Wie! Das wißt Ihr nicht?« sagte die gute Frau und nannte ihn.
»Ach, barmherziger Gott!« schrie Lucia. Diesen Namen, wie vielmal hatte sie ihn mit Abscheu wiederholt in mehr als einer Geschichte aussprechen hören, in der er immer wie sonst der des Werwolfs vorkam! Und jetzt, bei dem Gedanken, in seiner entsetzlichen Gewalt gewesen zu sein, und sich unter seiner frommen Obhut zu befinden, bei dem Gedanken einer so drohenden Gefahr und einer so unerwarteten Erlösung, bei dem Gedanken, daß es sein Antlitz war, das ihr erst mürrisch, dann gerührt, dann gedemütigt erschienen, geriet sie wie außer sich und sagte nur von Zeit zu Zeit: »Oh, Barmherzigkeit!«
»Es ist eine große Barmherzigkeit in der Tat!« sagte die gute Frau. »Es wird ein großer Trost für die halbe Welt ringsumher sein. Wenn man bedenkt, wie viele Leute er in der Furcht erhielt, und jetzt, wie mir unser Pfarrer gesagt hat ... man braucht ihm ja nur ins Gesicht zu sehen, ist er ein Heiliger geworden! Und dann sieht man ja auch die Werke schon.«
Wenn man etwa sagen wollte, die gute Frau hätte nicht gewaltige Neugier empfunden, die große Begebenheit ein wenig näher zu kennen, in der sie zufällig eine Rolle spielte, so würde das nicht die Wahrheit sein. Aber man muß ihr zu ihrem Ruhme nachsagen, daß sie von einem achtungsvollen Mitleid mit Lucia ergriffen, gewissermaßen den Ernst und die Würde des Amtes fühlend, das ihr anvertraut worden war, nicht einmal daran dachte, eine unbescheidene, müßige Frage an sie zu tun: Alles, was sie auf diesem Wege sprach, waren nur Worte des Trostes und der Teilnahme für das arme Mädchen.
»Gott weiß, seit wie lange Ihr nicht gegessen habt!«
»Ich erinnere mich nicht mehr ... Es ist eine Weile her.«
»Armes Kind! Ihr habt es nötig, daß Ihr Euch erquickt.«
»O ja,« erwiderte Lucia mit schwacher Stimme.
»In meinem Hause werden wir, gottlob! gleich etwas vorfinden. Faßt nur Mut, es ist nun nicht weit mehr hin.«
Lucia sank darauf kraftlos, wie vom Schlaf überwältigt, in die Sänfte zurück, und nunmehr ließ die gute Frau sie in Ruhe.
Für Don Abbondio war diese Rückkehr sicherlich nicht so an Ängsten reich, als der Hingang kurz zuvor; aber es war auch keineswegs eine Vergnügungsreise.
Sobald die erste grausame Furcht von ihm abgelassen, hatte er sich anfänglich ganz erleichtert gefühlt; aber alsbald begannen hundert andere Verdrießlichkeiten auf ihn einzubrechen; gleich wie da, wo ein großer Baum entwurzelt worden ist, das Erdreich einige Zeit frei bleibt, in kurzem aber sich mit Unkraut ganz bedeckt.
Er war für alles übrige empfindlicher geworden und in der Gegenwart sowohl wie in den Gedanken an die Zukunft gebrach es ihm auch gar nicht an Stoff, sich zu quälen. Er empfand jetzt weit mehr als auf dem Hinritt das Unbequeme dieser Art zu reisen, an die er nicht gewöhnt war, und zwar insbesondere auf dem Wege von der Feste in den Talgrund hinunter. Der Sänftenführer ließ, einem Winke des Ungenannten gehorsam, seine Tiere tüchtig ausschreiten; die beiden Reitesel hielten einer hinter dem anderen gleichen Schritt mit ihnen, woher es kam, daß an gewissen steileren Stellen der arme Don Abbondio, als ob er von hinten in die Höhe geprellt würde, nach vornhin schnellte, und, um sich im Sattel zu erhalten, sich mit der Hand daran festhalten mußte, und dennoch wagte er nicht darum zu bitten, daß es langsamer ginge, und hätte er doch anderseits gewünscht, sobald als möglich aus dem Dorfe hinaus zu sein. Überdies, wo der Weg auf einer Erhöhung oder Andämmung hinlief, schien das Maultier, nach der Art dieser Tiere, wie zum Trotz, sich immer an der Außenseite zu halten und die Füße recht eigentlich auf den Rand zu setzen, und so sah denn Don Abbondio fast senkrecht unter sich einen Sprung, oder, wie er meinte, einen Absturz. – »Auch du,« sagte er in seinem Herzen zu dem Tiere – »hast die vermaledeite Sucht, die Gefahren aufzusuchen, wo der Weg so breit ist!« – Und er zerrte den Zaum nach der anderen Seite hin, wiewohl vergebens, so daß er sich, wie gewöhnlich, von Furcht und Ärger heimlich verzehrt, nach fremder Willkür leiten ließ. Die Raubgesellen jagten ihm keinen solchen Schrecken mehr ein, jetzt, da er bestimmter wußte, wie der Gebieter gesinnt war. – »Aber« – überlegte er dessenungeachtet – »wenn die Kunde von dieser großen Bekehrung sich hier herum verbreitet, während wir noch darinnen stecken, wer weiß, wie die es da aufnehmen werden? Wer weiß, was geschieht! Können sie sich nicht einbilden, ich sei gekommen, den Heidenbekehrer zu spielen! Behüte der Himmel! sie machen mich zum Märtyrer!« – Das verdrießliche Gesicht des Ungenannten beunruhigte ihn nicht. – »Um die Fratzen hier in Zucht zu halten,« – dachte er – »braucht es nicht weniger als das; das begreife ich auch; aber wie komme ich gerade dazu, mich unter all den Kerlen zu befinden?«
Genug, man erreichte den Fuß des Abhanges und gelangte endlich auch aus dem Tale hinaus. Die Stirn des Ungenannten glättete sich nach und nach. Selbst Don Abbondios Mienen wurden natürlicher, er ließ den Kopf ein wenig aus den Schultern hervorducken, er reckte Arme und Beine, er fing an, ein wenig gerader im Sattel zu sitzen, so daß es mit ihm ein ganz anderes Ansehen gewann; er holte tiefere Atemzüge und wendete mit beruhigterem Gemüte seine Aufmerksamkeit anderen entfernteren Gefahren zu. – »Was wird der Unhold, der Don Rodrigo dazu sagen? Mit einer solchen Nase auf diese Art abziehen zu müssen und noch dazu den Schaden und den Spott davon zu haben, es läßt sich denken, daß ihm das bitter schmecken muß. Jetzt wird er erst einmal recht den Teufel austreiben. Ganz gewiß wird er nun auch mit mir anbinden, weil ich mit bei der Geschichte gewesen bin. Hat er vorher schon das Herz gehabt, die beiden Teufel loszulassen, daß sie mir auf offener Straße einen solchen Streich spielten, so weiß der Himmel, was er nun erst tut! Se. Gnaden kann er es nicht wohl entgelten lassen, das ist ein gar zu großer Bissen für ihn, gegen den muß er also seine Bosheit in sich hineinfressen. Doch hat er das Gift nun einmal im Leibe, und an irgend jemand wird er es auslassen wollen. Und wie laufen hernach derlei Händel ab? Die Hiebe fallen immer nieder, und die Fetzen stieben in die Höhe. Lucia wird Se. Gnaden natürlich in Sicherheit zu bringen bedacht sein. Der arme übelberatene Schlucker ist außerm Schuß und hat auch schon sein Teil weggekriegt; ei sieh! da wäre ja also nun der Fetzen ich. Es würde aber doch eine Unmenschlichkeit sein, wenn ich nach so vielen Drangsalen, nach solchen Gemütsbewegungen, und ohne daß man mir ein Verdienst daraus machte, die Strafe dafür leiden sollte. Was wird denn jetzt nun wohl Se. Gnaden zu meiner Verteidigung tun, nachdem er mich so in die Tinte gebracht hat? Kann er mir dafür stehen, daß mir der verwünschte Mensch nicht einen Streich spielt, schlimmer als den ersten? Und dann, er hat so viele Dinge im Kopfe! Läßt sich auf so viele Händel ein! Wie kann man da auf alles achten? Die Sachen bleiben dann zuweilen verworrener liegen, als sie anfangs waren. Wer Gutes zu tun pflegt, der tut's in Bausch und Bogen ab; hat er das Vergnügen daran einmal geschmeckt, so ist er zufrieden und mag sich nicht weiter die Mühe geben, alle Folgen davon auszubaden. Wer hingegen eben seine Lust daran hat, Böses zu tun, der verwendet doch mehr Sorgfalt darauf, ist bis zu allerletzt dahinter her, gönnt sich keine Ruhe, weil der Wurm einmal an ihm nagt. Darf ich nun aber wohl etwa aussagen, daß ich auf ausdrücklichen Befehl Sr. Gnaden und nicht aus freiem Antriebe hierhergekommen bin? Es hätte ja den Anschein, als wollte ich auf die Seite der Gottlosigkeit treten! O heiliger Himmel! Ich auf die Seite der Gottlosigkeit! Um des Vergnügens willen, das sie mir macht! Genug, das beste wird sein, ich erzähle Perpetua die Sache wie sie ist, und lasse dann Perpetua schaffen, daß sie sie ins Geschick bringt. Wenn nur dem hochwürdigen Herrn nicht etwa die Grille beikommt, die Sache besonders ruchbar, irgend ohne Not ein öffentliches Schauspiel daraus zu machen, und auch mich mit hineinzubringen. Indessen, kaum daß wir angelangt sind, so ist er auch schon aus der Kirche wieder da, und so gehe ich hin und mache ihm meinen Bückling über Hals und Kopf, oder, wenn das nicht, lasse ich meine Entschuldigungen zurück und packe mich nach Hause. Lucia ist in guten Händen, meiner bedarf es nicht, und nach so vielem Ungemach kann ich mich auch für berechtigt halten, zur Ruhe zu gelangen. Und dann ... könnte ja den Hochwürdigen vielleicht gar noch die Neugier plagen, die ganze Geschichte zu erfahren, und wäre es dann an mir, von der Heiratsangelegenheit Rechenschaft abzulegen! Weiter fehlte nichts! Und wenn er nun in meinem Kirchspiele auch einen Besuch macht? ... Ach, es wird gehen, wie es geht! ich will mich nicht vor der Zeit ängstigen, ich habe so schon Leiden genug. Für jetzt will ich mich in mein Haus einschließen. So lange der Hochwürdige in dieser Gegend verweilt, wird Don Rodrigo nicht so dreist sein, Dummheiten zu machen. Und dann ... Und dann? Ach, ich sehe, ich werde meine letzten Lebensjahre übel verbringen!«
Der Zug kam an, als der Gottesdienst noch nicht zu Ende war; er ging mitten durch die nicht weniger als das erstemal bewegte Menge und trennte sich sodann. Die beiden Reiter wendeten sich seitwärts nach einem kleinen Platze, in dessen Hintergrunde die Pfarrwohnung gelegen war; die Sänfte nahm ihre Richtung nach dem Hause der guten Frau.
Don Abbondio blieb bei seinem Vorsatz; kaum abgestiegen, bezeigte er dem Ungenannten die allerangelegentlichsten Höflichkeiten und ersuchte ihn, ihn bei dem hochwürdigen Herrn zu entschuldigen; er müsse wegen dringender Geschäfte ungesäumt nach seiner Pfarrei zurück. Er ging und holte das, was er seinen Gaul nannte, das heißt seinen Stock, den er in einem Winkel des Vorsaals hatte stehen lassen, und machte sich auf den Weg. Der Ungenannte wartete, bis der Kardinal wieder aus der Kirche käme.
Die gute Frau ließ Lucia es sich auf der besten Bank am Ehrenplatze in ihrer Küche bequem machen und war geschäftig, ihr eine kleine Stärkung zuzubereiten, indem sie mit einer gewissen herzlichen Derbheit deren wiederholte Danksagungen und Entschuldigungen ablehnte.
Geschwind legte sie trockenes Reisig unter einen Kessel an, den sie zum Feuer gestellt hatte und in dem ein fetter Kapaun schwamm, ließ ihn in der Brühe abkochen, die sie in einen Napf goß, worin sie schon Brotscheibchen geschnitten, und konnte sie dann endlich Lucia vorsetzen. Ja, und indem sie das arme Mädchen mit jedem Löffel voll zu neuen Kräften kommen sah, wünschte sie sich mit lauter Stimme selber Glück, daß die Sache gerade an einem Tage vorgefallen, an dem, wie sie sagte, die Katze nicht auf dem Herde sei. Alle lassen es sich heute angelegen sein, ein Tischtuch aufzudecken, fügte sie hinzu, außer etwa die armen Leute, die Not haben, sich Wickenbrot und Polenta aus Moorhirse zu verschaffen, wiewohl sie heute von einem so mildtätigen Herrn alle etwas zu erhaschen meinen. Wir, dem Himmel sei Dank, befinden uns noch gerade nicht in der Lage: das Gewerbe meines Mannes und das Wenige, das wir an Grundstücken besitzen, hilft uns durch. Darum laßt Ihr es Euch einstweilen immer schmecken, der Kapaun wird bald gar sein, und dann könnt Ihr Euch ein wenig gütlicher tun. Und nachdem sie das Näpfchen fortgetragen hatte, war sie wieder geschäftig, das Mittagessen zuzubereiten, und deckte den Tisch für die Familie.
Die einigermaßen wieder zu Kräften und auch zur Besinnung gekommene Lucia schickte sich inzwischen an, sich sauber zu machen, was ihr aus Gewohnheit zur anderen Natur geworden war und ein ihr angeborener Hang zur Nettigkeit und Verschämtheit auch also haben wollte; sie ordnete und befestigte wieder auf dem Kopfe die aufgegangenen und verworrenen Flechten und zog ihr Tuch auf der Brust und um den Hals zurecht. Bei dieser Beschäftigung verwickelten sich ihre Finger in dem Rosenkranze, der daran hing, der Blick traf auf ihn; ein augenblicklicher Aufruhr entstand in ihrem Gemüte; die Erinnerung an das Gelübde, bisher von so vielen augenblicklichen Eindrücken unterdrückt und erstickt, wurde darin plötzlich wieder wach und trat klar und bestimmt hervor. Da wurden alle kaum erfrischten Kräfte ihrer Seele neuerdings mit einmal überwältigt, und wenn diese Seele nicht durch ein Leben in Unschuld, Ergebung und gläubigem Vertrauen derart gerüstet gewesen wäre, so würde aus der Bestürzung, die sie in diesem Augenblick empfand, Verzweiflung geworden sein.
Nach einem Wirrsal von Gedanken, die keinen Ausdruck in Worten finden, waren die ersten, die sich in ihrem Geiste bildeten: »Ach, ich Arme, was habe ich getan!«
Aber nicht sobald hatte sie sie gedacht, so schrak sie darob auch ordentlich zusammen. Es fielen ihr alle Umstände des Gelübdes wieder ein, die unerträgliche Todesangst, die Verzweiflung an aller menschlichen Hilfe, die Inbrunst des Gebetes, das volle Gefühl, aus der ihre Zusage hervorgegangen war. Und das Gelübde zu bereuen, nachdem sie die Gnade gefunden, kam ihr wie eine ruchlose Undankbarkeit, wie ein Treubruch an Gott und der Jungfrau vor; es bedünkte sie, eine solche Treulosigkeit werde ihr neue und entsetzlichere Unfälle zuziehen, in die verstrickt sie dann auch sogar vom Gebete nichts mehr erhoffen könnte, und sie verleugnete schnell jene augenblickliche Reue wieder. Sie nahm sich den Rosenkranz ehrfurchtsvoll vom Halse und ihn in der zitternden Hand haltend, bestätigte und erneuerte sie das Gelübde, indem sie zugleich mit rührender Demut flehte, daß ihr die Kraft verliehen werden möge, es zu erfüllen, daß ihr die Gedanken und die Gelegenheiten erspart würden, die, wo nicht ihr Gemüt erschüttern, doch allzusehr hätten quälen können. Die Entfernung Renzos, ohne irgendeine Wahrscheinlichkeit der Rückkunft, jene Entfernung, die sie bisher so bitter empfunden hatte, schien ihr jetzt eine Fügung der Vorsehung zu sein, die beide Ereignisse zu einem einzigen Zweck hätte geschehen lassen, und sie strengte sich an, darin einen Grund zu finden, sich über das andere zu trösten. Und nächst diesem Gedanken bildete sie sich auch noch ein, daß die nämliche Vorsehung, um ihr Werk zu vollenden, wohl würde die Mittel zu finden wissen, zu bewirken, daß Renzo auch seinerseits sich darin ergäbe, nicht mehr daran dächte.
Aber kaum, daß eine solche Vorstellung in ihrer Seele Eingang gefunden, kehrte sie darin das Unterste zu oberst. Die Ärmste fühlte, wie das Herz von neuem bereuen wollte, und nahm ihre Zuflucht wieder zum Gebet, zu Bekräftigungen, zum Kampfe, aus dem sie hervorging, wenn man uns diesen Ausdruck gestattet, wie der wunde und ermattete Sieger über einen niedergeworfenen Feind.
Jetzt vernimmt man ein nahendes Getrampel und fröhliche Stimmen. Es war die gute kleine Familie, die aus der Kirche zurückkehrte. Zwei junge Mädchen und ein Knabe springen herein, sie bleiben einen Augenblick stehen, um auf Lucia einen neugierigen Blick zu werfen, sodann laufen sie zu der Mutter und stellen sich um sie herum: dies fragt nach dem Namen des unbekannten Gastes, und nach dem Wie und Warum, jenes will von den geschauten Wundern erzählen; die gute Frau antwortet auf alles und allen mit einem: »Stille, stille!« Worauf mit gemäßigterem Schritte, aber mit freudiger, auf dem Gesicht ausgedrückter Eilfertigkeit der Hausherr eintritt. Er war, wenn wir es noch nicht gesagt haben, der Schneider des Dorfes und eines Teiles der Umgegend; ein Mann, der lesen konnte, der in der Tat mehr als einmal die Legenden der Heiligen und Li Reali di Francia gelesen hatte, und bei seinen Landsleuten für einen begabten und gelehrten Mann galt, ein Lob jedoch, das er bescheiden von sich ablehnte, indem er nur meinte, er habe seinen Beruf verfehlt; ja, wenn er anstatt so vieler anderen sich auf das Studium gelegt hätte! ... dabei war er jedoch die ehrlichste Haut von der Welt. Gegenwärtig, als seine Frau vom Pfarrer aufgefordert worden war, den mildtätigen Gang zu unternehmen, hatte er nicht nur seine Einwilligung dazu gegeben, sondern würde auch noch seine Überredungskräfte dafür aufgeboten haben, wenn es notgetan hätte. Und jetzt, nachdem der Gottesdienst, das festliche Gepränge, der Zusammenfluß von Menschen und vor allen Dingen die Predigt des Kardinals alle seine guten Regungen gewissermaßen erhöht hatten, kehrte er voller Erwartung mit einem ängstlichen Verlangen nach Hause zurück, um zu erfahren, wie die Sache abgelaufen wäre und die arme Unschuldige gerettet vorzufinden.
»Sieh einmal da,« sagte die gute Frau bei seinem Eintreten zu ihm und deutete auf Lucia, die errötend aufstand und anfing, einige Entschuldigungen zu stammeln. Er aber trat auf sie zu, fiel ihr ins Wort und begrüßte sie auf das freundlichste, indem er ausrief: »Willkommen! willkommen! Ihr seid der Segen des Himmels in diesem Hause. Wie freue ich mich, Euch hier zu sehen! Es war nun wohl sicher genug, daß Ihr glücklich in den Hafen eingelaufen sein würdet, denn ich habe niemals gefunden, daß der Herr ein Wunder angefangen hätte, ohne es gut zu Ende zu führen, aber ich bin froh, Euch hier zu sehen. Armes Mädchen! Es ist doch eine große Sache, ein Wunder an sich erfahren zu haben!«
Man glaube nicht, daß er der einzige war, dies Ereignis dafür zu halten, weil er die Legendensammlung gelesen; im ganzen Dorfe und in der ganzen Gegend war davon in keiner anderen Art die Rede, solange sich das Andenken daran erhielt. Und die Wahrheit zu sagen, konnte dem Ereignis mit den Nebenumständen, die der Erfolg daran knüpfte, eben kein anderer Name beigelegt werden.
Er näherte sich dann bedächtig der Frau, die den Kessel von der Feuerkette losmachte, und sagte heimlich zu ihr: »Ist alles gut abgelaufen?«
»Vortrefflich; ich will es dir hernach erzählen.«
»Ja, ja, mit Weile.«
Sobald die Hausfrau nun aufgetischt hatte, holte sie Lucia, ließ sie niedersitzen und, einen Flügel von dem Kapaun ablösend, legte sie ihn ihr vor, worauf sie und der Mann gleichfalls Platz nahmen und beide ihren niedergeschlagenen und verschämten Gast nötigten, Mut zu fassen und zu essen. Der Schneider fing schon bei dem ersten Bissen an, mit großem Nachdruck das Wort zu führen, unter den Unterbrechungen der Kinder, die um den Tisch herumstehend aßen und in Wahrheit zu viel ungewöhnliche Dinge gesehen hatten, um auf die Dauer die alleinige Rolle der Zuhörer zu spielen. Er beschrieb den feierlichen Gottesdienst und sprang darauf zu der wunderbaren Bekehrung über. Was aber noch mehr Eindruck auf ihn gemacht hatte, und worauf er am häufigsten zurückkam, war die Predigt des Kardinals.
»Wenn man ihn da so vor dem Altar sah,« sprach er, »einen solchen Herrn, gleich wie einen Pfarrer ...«
»Und das goldene Ding, das er auf dem Kopfe hatte ...« sagte eines der kleinen Mädchen.
»Schweig still. Wenn man sich dachte, sage ich, daß ein solcher Herr und so gelehrter Mann, der, nach dem, was sie sagen, alle Bücher gelesen hat, die es gibt, wozu es noch kein anderer, sogar in Mailand nicht, je gebracht hat, wenn man sich dachte, daß der sich darin zu finden wußte, alles vorzutragen, daß ihn alle verstanden ...«
»Ja, ich habe es auch recht gut verstanden,« sagte die andere Plaudertasche.
»Schweig still; na, was willst denn du verstanden haben?«
»Ich habe verstanden, daß er das Evangelium anstatt des Herrn Pfarrers erklärte.«
»Schweig still; ich spreche nicht von dem, der etwas weiß, denn so einer muß es wohl verstehen; aber auch die beschränktesten Köpfe, die Unwissendsten konnten dem Sinne folgen. Geh jetzt einmal hin und frage sie, ob sie von den Worten noch etwas wissen, die er gebrauchte, ei ja, nicht ein einziges würden sie mehr herausbringen; aber den Sinn davon, den haben sie sich gemerkt. Und ohne, daß er jenen Herrn auch nur einmal genannt hätte, wie verstand man doch so wohl, daß er von ihm reden wollte! Und dann, um zu verstehen, hätte man nur darauf zu achten gebraucht, wie ihm die Tränen in den Augen standen. Und da war die ganze Kirche gleich ein Weinen ...«
»Ja, das ist wahr,« brach der Knabe los; »aber was weinten sie denn auch nur alle so wie die Kinder?«
»Schweig still. Und das trotzdem, daß es harte Herzen hier im Dorfe gibt. Und er hat recht dargetan, wie man bei aller Teuerung doch dem Herrn danken und genügsam sein und tun müsse, was man könne, fleißig sein, einander beistehen und sich zufrieden geben. Denn darin besteht das Unglück wahrlich nicht, daß man arm ist und zu leiden hat, das Unglück ist, daß man Böses tut. Und das sind alles nicht etwa bloß glatte Worte, denn man weiß ja, daß er wie ein armer Mann lebt und sich den Bissen vom Munde abspart, um ihn den Hungrigen zu geben, obwohl er mehr als sonst jemand der guten Zeit genießen könnte. Ach ja, so erbaut einer wahrhaft durch seine Reden, nicht etwa, wie so viele andere: richtet euch nach meinen Worten und nicht nach meinen Werken. Und dann hat er recht eigens gezeigt, wie auch diejenigen, die nicht gerade das sind, was man Herren nennt, sobald sie etwas mehr haben, als die Notdurft erfordert, verpflichtet seien, davon den Dürftigen mitzuteilen.«
Hier unterbrach er seine Rede selbst, wie von einem Gedanken überrascht. Er dachte einen Augenblick nach, dann füllte er von den Speisen, die auf dem Tische standen, einen Teller an, tat ein Brot hinzu, schlug das Gericht in ein Tellertuch und faßte dieses darauf bei den vier Zipfeln an, indem er zu seinem ältesten Mädchen sagte: »Nimm du das.« Er gab ihr in die andere Hand ein Fläschchen Wein und fügte hinzu: »Geh zu der Witwe Maria hin, und laß ihr das da, und sag ihr, sie möge es sich und ihren Kinderchen wohl bekommen lassen. Aber mit guter Art, verstehst du, daß es nicht aussieht, als reichtest du ihr ein Almosen. Und sprich nicht davon, wenn dir jemand begegnet, und nimm dich in acht, daß du nichts zerbrichst.«
Luciens Augen wurden rot, und sie empfand im Herzen eine wohltuende Rührung, wie sie auch schon durch die vorhergehenden Reden eine solche Erleichterung gewonnen hatte, als selbst ein ausdrücklicher Trostzuspruch nicht imstande gewesen sein würde, ihr zu gewähren. Von jenen Schilderungen, von jenen Vorstellungen des Gespräches, von jenen Regungen der Andacht und Bewunderung gereizt, von der Begeisterung des Erzählers selbst mit fortgerissen, machte sich ihre Seele von den schmerzlichen Gedanken an sich selber los und fühlte sich, wenn sie dennoch zu ihnen zurückkehrte, stärker gegen sie. Sogar der Gedanke an das große Opfer hatte zwar eben nichts von seiner Bitterkeit verloren, enthielt aber zugleich mit dieser eine gewisse hohe, ernste Freude.
Kurz darauf trat der Pfarrer des Dorfes ein und sagte, er sei vom Kardinal abgeschickt, um sich nach Lucia zu erkundigen und sie wissen zu lassen, daß Se. Hochwürden sie an diesem Tage noch sehen wolle; worauf er in dessen Namen den Ehegatten vielen Dank sagte. Alle drei, ergriffen und gerührt, fanden keine Worte, auf eine solche Herablassung eines solchen Mannes etwas zu erwidern.
»Und Eure Mutter ist noch nicht angelangt?« sagte der Pfarrer zu Lucia.
»Meine Mutter!« rief diese aus. Und wie sie darauf von ihm hörte, daß er, dem Veranstalten und der Fürsorge des Erzbischofs gemäß, nach ihr geschickt habe, so zog sie die Schürze über die Augen und brach in ein langes Weinen aus, das noch eine Weile anhielt, nachdem der Pfarrer sich schon wieder entfernt hatte. Als dann die stürmischen Gefühle, die bei dieser Nachricht in ihr rege geworden waren, anfingen, ruhigen Gedanken zu weichen, erinnerte sich das arme Kind, daß dieser ihr jetzt nahe bevorstehende Trost, ihre Mutter wiederzusehen, ein noch vor wenigen Stunden so unverhoffter Trost, doch auch in eben jenen Stunden von ihr ausdrücklich erfleht und gewissermaßen als eine Bedingung des Gelübdes aufgestellt worden war. »Führe mich sicher zu meiner Mutter zurück,« hatte sie gesagt, und diese Worte kamen ihr jetzt deutlich wieder ins Gedächtnis. Sie bestärkte sich jetzt mehr als je in dem Vorsatze, ihr Versprechen zu halten, und machte sich von neuem und noch schmerzlicher ein Gewissen aus dem Leidwesen und der Reue, die sie auf einen Augenblick darob empfunden hatte.
Agnes war, als man von ihr sprach, in der Tat nur eine kurze Strecke Weges entfernt. Man kann sich leicht denken, was aus der armen Frau bei der so unerwarteten Aufforderung, und bei der notwendigerweise unvollständige und verworrenen Kunde von einer gehobenen, aber schrecklichen Gefahr, von einem düsteren Vorfalle werden mußte, den der Bote weder auseinandersetzen noch erklären konnte, und zu dessen Verständnis sie in ihren Gedanken keinen Haltepunkt fand. Nachdem sie sich mit den Händen in die Haare gefahren war, nachdem sie mehrmals ausgerufen hatte: »Ach, Herr Gott! Ach, heilige Jungfrau!« nachdem sie an den Boten mannigfache Fragen getan, worauf dieser nichts zu erwidern wußte, war sie über Hals und Kopf in die Barutsche gestiegen und hatte auch unterwegs fortgefahren, sich in vergeblichen Klagen und Fragen zu ergehen. Aber an einer gewissen Stelle war sie Don Abbondio begegnet, der Schritt vor Schritt einherwanderte und vor die Schritte seinen Wanderstab setzte. Nach einem Ach! von beiden Seiten war er stehengeblieben, hatte sie halten lassen und war ausgestiegen; dann waren sie abseits in ein Kastanienwäldchen gegangen, das hier am Wege lag. Don Abbondio hatte ihr ausführlichen Bericht von dem erstattet, was er hatte erfahren können und sehen müssen. Die Sache war nicht klar; aber Agnes war doch nun wenigstens gewiß, daß Lucia in Sicherheit sei und schöpfte Atem. Danach war er auf einen anderen Gegenstand zu sprechen gekommen und hatte sie des langen und breiten unterweisen wollen, wie sie sich gegen den Erzbischof zu verhalten habe, wenn dieser, wie es wahrscheinlich war, sie und ihre Tochter hätte sehen wollen, und daß sie vor allen Dingen kein Wort von der Trauung fallen lassen dürfe ... Da aber Agnes gemerkt, daß er nur zu seinem eigenen Vorteil sprach, so hatte sie ihn stehenlassen, ohne ihm etwas zu versprechen, sowie auch ohne sich etwas vorzunehmen; denn sie hatte an andere Dinge zu denken, und hatte ihre Reise weiter fortgesetzt.
Am Ende langt die Barutsche an und hält vor dem Hause des Schneiders still. Lucia springt hastig auf, Agnes steigt ab und stürzt hinein; die eine liegt in den Armen der anderen. Die gute Frau, die sich allein gegenwärtig befand, spricht beiden Mut zu, beruhigt sie, freut sich mit ihnen und läßt sie alsdann, immer bescheiden, allein, indem sie vorgibt, daß sie ein Bett für sie zurechtmachen ginge, das sie wohl zusammenbrächte, daß aber, sie sowohl als ihr Mann, jedenfalls lieber würden auf der Erde schlafen, als sie fortgehen lassen wollen, sich anderswo ein Unterkommen für diese Nacht zu suchen.
Sobald der erste Andrang von Umarmungen und von Schluchzen sich Luft gemacht hatte, wollte Agnes Luciens Geschichte wissen, und schickte sich diese schmerzhaft erregt an, sie zu erzählen. Aber, wie der Leser weiß, es war eine Geschichte, die niemand ganz und gar kannte, und für Lucia selbst gab es darin dunkle, durchaus verworrene Stellen, und hauptsächlich den verhängnisvollen Umstand, daß die furchtbare Kutsche sich auf jener Straße befunden, gerade als Lucia in einem ungewöhnlichen Auftrage dort gegangen; weshalb Mutter und Tochter sich in Vermutungen erschöpften, ohne jemals den Nagel auf den Kopf, ja ohne auch nur etwa nahebei zu treffen.
Was den Hauptanstifter des Anschlags betraf, so konnte die eine wie die andere nicht umhin zu glauben, daß es Don Rodrigo sei.
»Ach, die schwarze Seele! Ach, der Höllenbrand!« rief Agnes aus. »Aber seine Stunde wird schon kommen. Der Herrgott wird ihm nach seinen Werken lohnen, und alsdann wird auch er erfahren ...«
»Nein, nein, Mütterchen; nein!« fiel ihr Lucia ein, »wünscht ihm keine Leiden an, wünscht sie niemand! Wenn Ihr wüßtet, was es heißt zu leiden! Wenn Ihr es erfahren hättet! Nein, nein, wir wollen lieber zu Gott und der Madonna für ihn beten, daß Gott ihm das Herz rühre, sowie er dem anderen armen Herrn getan, der schlimmer als er war, und jetzt ein Heiliger ist.«
Der Schauder, den Lucia empfand, zu so frischen und grausamen Erinnerungen sich zurückzuwenden, zwang sie mehr als einmal, mitten innezuhalten; mehr als einmal gestand sie, sie habe nicht den Mut fortzufahren, und nahm dann erst nach vielen Tränen wider Willen das Wort auf. Aber eine ganz andere Empfindung ließ sie an einer gewissen Stelle ihrer Erzählung, an der Stelle, wo es sich um das Gelübde handelte, Anstand nehmen. Die Angst, von der Mutter unbesonnen und übereilt gescholten zu werden, oder daß diese, wie sie in der Trauungsangelegenheit getan, irgend etwas aufbrächte, das ein weites Gewissen erforderte, und es durchsetzen wollte; oder daß die arme Frau jedermann im Vertrauen die Sache erzählte, wenn auch eben nur, um Licht und Rat zu haben, und sie so veröffentlichte, was auch nur zu denken Lucia eine unerträgliche Scham verursachte; dazu noch eine augenblickliche Scham, eine unerklärliche Abneigung, so etwas zu besprechen; alle diese Dinge zusammen bewirkten, daß sie den wichtigen Umstand völlig verschwieg, indem sie sich in ihrem Herzen vornahm, sich erst dem Pater Cristoforo zu eröffnen. Aber wie ward ihr, als sie, auf die Frage nach ihm, zur Antwort erhielt, daß er nicht mehr da sei, daß man ihn an einen fernen, fernen Ort geschickt habe, an einen Ort, der wer weiß wie heiße!
»Und Renzo?« sagte Agnes.
»Ist gerettet, nicht wahr?« sagte Lucia hastig.
»Das ist gewiß, denn alle sagen es. Man hält dafür, daß er nach dem Bergamaskischen gegangen sei, aber den eigentlichen Ort weiß niemand anzugeben, und er hat bis jetzt noch gar nichts von sich hören lassen. Er mag wohl noch keine Gelegenheit dazu gefunden haben.«
»Ach, wenn er gerettet ist, so sei der Herr gelobt!« sagte Lucia und suchte das Gespräch auf etwas anderes zu lenken, als dasselbe von einem unerwarteten Ereignis unterbrochen ward: von der Erscheinung des Kardinal Erzbischofs.
Aus der Kirche zurückgekehrt, wo wir ihn verlassen haben, und von dem Ungenannten unterrichtet, daß Lucia von ihm glücklich dorthin geleitet worden, hatte sich jener zu Tisch gesetzt und diesen zu seiner Rechten, mitten in einem Kreise von Priestern Platz nehmen lassen, die nicht satt werden konnte», das so ohne Schwäche gezähmte, ohne Erniedrigung gedemütigte Antlitz anzuschauen und mit der Vorstellung zu vergleichen, die sie seit langer Zeit sich von der Persönlichkeit gemacht.
Nach aufgehobener Tafel hatten die beiden sich neuerdings miteinander zurückgezogen. Nach einer Unterredung, die weit länger als die erste währte, war der Ungenannte abermals und auf dem nämlichen Maultiere, das ihn am Morgen dorthin getragen, nach seiner Feste aufgebrochen, und hatte der Kardinal den Pfarrer rufen lassen und ihm gesagt, er wünsche nach dem Hause geführt zu werden, wo Lucia untergebracht worden sei.
»Ach, hochwürdiger Herr!« hatte der Pfarrer erwidert, »lassen Sie, lassen Sie das; ich werde gleich hinschicken, und das Mädchen, die Mutter, wenn sie schon da ist, und auch die Wirtsleute holen lassen, wenn es Hochwürden recht ist, so viele Ihre Gnaden wünschen.«
»Ich wünsche selber zu ihnen hinzugehen,« hatte Federigo erwidert.
»Es ist nicht nötig, daß Ihre Gnaden sich bemühen; ich schicke auf der Stelle nach ihnen aus; es ist gleich geschehen,« hatte der verpfuschende Seelsorger – übrigens ein braver Mann – beharrlich versichert, indem er nicht einsah, daß der Kardinal mit diesem Besuche dem Unglück, der Unschuld, der Gastfreundschaft und zugleich seiner eigenen Würde eine Ehre antun wollte. Da der Obere aber den nämlichen Wunsch nochmals zu erkennen gab, so verneigte sich der Untergebene und brach auf.
Sobald man die beiden Personen auf die Straße heraustreten sah, lief alles, was dastand, nach ihnen hin und strömten in wenigen Augenblicken von allenthalben Leute zu, die zwei Flügel auf beiden Seiten und einen Schweif bildeten, der ihnen nachfolgte. Der Pfarrer ließ es sich angelegen sein zu sagen: »Fort da, zurück, entfernt euch;« Federigo aber sprach zum Pfarrer: »Laßt, laßt,« und schritt weiter, bald die Hand aufhebend, um die Leute zu segnen, bald sie niedersenkend, um die kleinen Knaben zu liebkosen, die ihm zwischen die Füße kamen. So langten sie bei dem Hause an und traten ein; die Menge blieb draußen abgesperrt. Aber in der Menge befand sich auch der Schneider, der mit den anderen mit unverwandten Augen und offenem Munde hinterher gewesen war, ohne zu wissen, wo es hinginge. Sowie er dies unvermutete Wo ersah, machte er sich Platz, man denke mit welchem Lärm, indem er einmal über das andere schrie: »Laßt durch, was durch muß,« und trat ein.
Agnes und Lucia vernahmen ein anwachsendes Gesumme auf der Straße, sie dachten noch darüber nach, was es sein könnte, als sie die Tür weit aufmachen und den Kardinal mit dem Pfarrer erscheinen sahen.
»Ist es die?« fragte der erste den zweiten, und auf ein bejahendes Zeichen ging er auf Lucia zu, die mit der Mutter dastand, beide regungslos und stumm vor Überraschung und Scham. Aber der Ton der Stimme, das Antlitz, der Anstand und vor allen Dingen die Worte Federigos hatten sie bald wieder ermutigt. »Armes Mädchen,« hob er an, »Gott hat geschehen lassen, daß Ihr schwer geprüft worden seid; aber er hat Euch auch gezeigt, daß er sein Auge nicht von Euch abgewendet, Euch nicht vergessen hatte. Er hat Euch errettet und sich Eurer zu einem großen Werke bedient, um einem eine große Gnade angedeihen zu lassen und zu gleicher Zeit viele aufzurichten.«
Hier erschien die Hausfrau in der Stube, die auch über das Geräusch oben an das Fenster getreten, und da sie gesehen, wer zu ihr ins Haus kam, über Hals und Kopf, nachdem sie sich ein wenig geputzt, heruntergekommen war, und fast in demselben Moment trat der Schneider zu einer anderen Tür ein. Da sie sahen, daß das Gespräch im Gange war, traten sie zusammen in einen Winkel, wo sie in großer Ehrfurcht verharrten. Der Kardinal begrüßte sie höflich, fuhr fort, mit den Frauen zu sprechen, und ließ mit unter die Tröstungen einige Fragen einfließen, ob er aus den Antworten nicht vielleicht eine Gelegenheit ersähe, der, die so viel gelitten hatte, eine Wohltat zu erweisen.
»Es sollten nur alle Priester so wie Ihre Gnaden sein, daß sie es ein wenig mit den armen Leuten hielten und nicht mithülfen, sie in die Klemme zu bringen, um sich selbst herauszuziehen,« sagte Agnes, von dem so leutseligen, liebreichen Wesen Federigos ermutigt, und noch in Gedanken böse, daß der Herr Don Abbondio, nachdem er andere immer preisgegeben, ihr nicht einmal eine kleine Herzensergießung in einer Klage gegen einen, der über ihm stehe, gönnen wolle, nun ein seltener Zufall ihr die Gelegenheit dazu gab.
»Sagt nur alles heraus, was Ihr denkt,« sprach der Kardinal; »sprecht unumwunden.«
»Ich will sagen, daß, wenn unser Herr Pfarrer seine Schuldigkeit getan hätte, die Sache nicht so gekommen wäre.«
Da aber der Kardinal von neuem in sie drang, sich deutlicher zu erklären, so geriet sie nach und nach in Verlegenheit, wie sie eine Geschichte vortragen solle, in der auch sie eine Rolle gespielt, die sie, besonders einem solchen Manne, nicht gern bekannt gemacht hätte. Es gelang ihr indessen mit Hilfe eines kleinen Kniffes damit zurechtzukommen; sie erzählte von der bestellten Trauung, von Don Abbondios Weigerungen, verhehlte den Vorwand von dem Vorgesetzten nicht, dessen er sich bedient hatte und sprang dann zu dem Anschlage Don Rodrigos über, und wie sie, davor gewarnt, hätten entkommen können. »Ei ja doch!« fügte sie zum Schlusse hinzu, »entkommen können, um von neuem in die Falle zu geraten. Wenn anstatt dessen der Herr Pfarrer aufrichtig mit uns umgegangen wäre, und mein armes junges Paar flugs getraut hätte, so gingen wir flugs alle miteinander in der Stille weit hinweg an einen Ort, von dem auch die Lust nicht einmal etwas gewußt hätte. So ist nun die Zeit verloren und daraus entstanden, was eben daraus entstanden ist.«
»Der Herr Pfarrer wird mir von diesem Vorfalle Rechenschaft ablegen,« sagte der Kardinal.
»Ach nein, gnädiger Herr, nein,« versetzte Agnes; »deshalb habe ich nicht gesprochen; schelten Sie ihn nicht aus, denn was geschehen ist, ist geschehen, und so hilft es weiter nichts; es ist nun einmal seine Natur so; wenn der Fall wieder einträte, würde er es eben nicht anders machen.«
Aber, unzufrieden mit dieser Art, die Geschichte zu erzählen, fügte Lucia hinzu: »Auch wir haben nicht recht gehandelt; man sieht, es war nicht der Wille des Herrn, daß die Sache gelingen sollte.«
»Welch Unrecht habt Ihr denn begehen können, armes Mädchen?« fragte Federigo.
Der finsteren Blicke ungeachtet, die die Mutter ihr verstohlen zuzuwerfen suchte, trug nun Lucia ihrerseits die Geschichte von dem Versuche vor, den sie in Don Abbondios Wohnung gemacht hatten, und schloß mit den Motten: »Wir haben unrecht getan und Gott hat uns gestraft.«
»Nehmt aus seiner Hand die Leiden an, die Ihr ausgestanden habt, und seid getrost,« sagte Federigo; »denn wer sonst hat Ursache sich zu freuen und zu hoffen, als wer gelitten hat und daran denkt, sich selber anzuklagen?«
Er fragte nunmehr nach dem Bräutigam, und da er von Agnes hörte – Lucia stand ganz still, mit gesenktem Kopfe und niedergeschlagenen Augen da –, daß er vertrieben sei, so empfand und bezeigte er darob Erstaunen und Mißvergnügen, und fragte nach dem Warum. Agnes stammelte das Wenige hervor, was sie von Renzos Geschichte wußte.
»Ich habe von diesem Menschen reden hören,« sagte der Kardinal. »Aber wie konnte einer, der sich in solche Händel einließ, mit diesem Mädchen verlobt sein?«
»Er war ein rechtschaffener Jüngling,« sagte Lucia errötend, aber mit fester Stimme.
»Er war ein nur zu friedfertiger junger Bursche,« fügte Agnes hinzu. »Und danach können Sie fragen, wer es sei, auch den Herrn Pfarrer. Wer weiß was für einen Mischmasch, was für eine Kabale sie ihm da drunten angezettelt haben? Man kann leicht machen, daß arme Leute wie Schelme aussehen.«
»Das ist nur allzuwahr,« sagte der Kardinal, »ich werde mich ganz gewiß nach ihm erkundigen,« und indem er sich Vor- und Zunamen des Jünglings sagen ließ, zeichnete er sie auf. Er fügte hinzu, er gedächte binnen wenigen Tagen sich nach ihrem Dorfe zu begeben, dann könnte Lucia ohne Scheu hinkommen, und unterdessen werde er darauf bedacht sein, bis daß alles wieder in beste Ordnung gebracht, eine sichere Zufluchtsstätte für sie auszufinden.
Er wendete sich hiernächst zu den Leuten vom Hause, die sogleich vortraten, wiederholte den Dank, den er ihnen schon durch den Pfarrer hatte sagen lassen und fragte sie, ob sie es wohl zufrieden sein würden, die Gäste, die ihnen Gott gesandt hätte, für diese wenigen Tage zu beherbergen.
»O ja, Herr!« entgegnete die Frau mit einem Ausdruck der Stimme und mit einer Miene, die viel mehr besagten, als diese trockene von der Scham erstickte Antwort. Aber der von der Gegenwart eines solchen Fragers, von dem Verlangen, sich bei einer Gelegenheit von solcher Wichtigkeit Ehre zu machen, ganz aufgeregte Ehemann studierte ängstlich auf irgendeine schöne Antwort. Er runzelte die Stirn, verdrehte die Augen, kniff den Mund zusammen, strengte seinen Verstandskasten übermäßig an, durchforschte ihn, fühlte darin einen Wulst von unvollständigen Gedanken und halben Worten; aber der Augenblick drängte; der Kardinal machte schon Miene, sich das Stillschweigen anders auszulegen; der arme Mann tat den Mund auf und sagte: »Versteht sich!« Etwas anderes wollte ihm für jetzt nicht einfallen. Und darüber fühlte er sich nicht allein in jenem Augenblicke entmutigt, sondern auch hinterdrein vergällte ihm diese lästige Erinnerung die Freude an der ihm widerfahrenen hohen Ehre. Und wie vielmal, wenn er darauf zurückkam und sich in Gedanken wieder in diese Lage versetzte, fielen ihm wie zum Hohn Worte ein, die alle besser gewesen sein würden als dieses alberne: »Versteht sich!« Aber allemal nach der Tat, ist wohlfeil guter Rat!
Der Kardinal schied mit den Worten: »Der Segen des Herrn sei über diesem Hause.«
Am Abend fragte er dann den Pfarrer, wie man wohl auf schickliche Weise diesem Manne, der doch gewiß nicht reich sei, seine besonders in diesen Zeiten kostspielige Gastfreundschaft vergelten könnte. Der Pfarrer antwortete, daß in Wahrheit weder der Verdienst mit seinem Handwerke, noch der Ertrag einiger kleiner Äcker, die der brave Schneider zu eigen habe, heuer zureichen würden, ihn in den Stand zu setzen, gegen andere freigebig zu sein; daß er aber eben, weil er in den letztvergangenen Jahren zurückgelegt, zu den wohlhabendsten Leuten in der Gegend gehöre und wohl auch ohne Unbequemlichkeit, sowie er es gewiß herzlich gern tue, einen kleinen Dienst erweisen könne; im übrigen würde er es für eine Kränkung ansehen, wenn man ihm etwa eine Entschädigung an Geld anböte.
»Er wird vermutlich,« sagte der Kardinal, »bei armen zahlungsunfähigen Leuten Schulden außenstehen haben?«
»Keine Frage, Hochwürdige Gnaden, solche armen Leute zahlen vom Überschuß der Ernte; vergangenes Jahr gab es keinen Überschuß, in diesem lösen alle nicht einmal ihre Notdurft heraus.«
»Nun denn,« erwiderte Federigo, »so übernehme ich die Schulden alle, und es wird mir lieb sein, wenn Sie sich von ihm ein Verzeichnis der Posten geben lassen und sie bezahlen.«
»Es wird eine ansehnliche Zahl sein.«
»Desto besser; und Sie werden nur zu viele noch Elendere, noch Entblößtere haben, die nichts schuldig sind, weil man ihnen nichts leiht.«
»Ach, nur allzu viele! Man tut, was man kann; aber wie sollte man in so beschaffenen Zeiten genug tun?«
»Lassen Sie ihn diese auf meine Rechnung kleiden und bezahlen Sie ihn gut. In diesem Jahre kommt mir zwar wahrlich alles wie ein Raub vor, was man nicht zu Brot macht; aber dies ist ein besonderer Fall.«
Wir wollen jedoch die Geschichte dieses Tages nicht beendigen, ohne kurz zu erzählen, wie ihn der Ungenannte beschloß.
Diesmal war ihm der Ruf von seiner Bekehrung in das Tal vorausgedrungen, hatte sich darin alsbald verbreitet, und allenthalben eine Bestürzung, eine Angst, einen Grimm, ein Gemurmel erregt. Den ersten Bravi oder Dienern – es war ganz dasselbe – denen er begegnete, gab er einen Wink, ihm zu folgen, und so fort und fort.
Alle kamen mit noch nie gekannten Zweifeln, aber mit gewohnter Unterwürfigkeit hinter ihm drein, bis er mit einem immer zunehmenden Gefolge zu der Feste gelangte. Er bedeutete diejenigen, die am Tore standen, ihm ebenfalls mit den anderen nachzukommen, ritt in den ersten Hof ein, nach der Mitte zu, und ließ daselbst, noch immer im Sattel sitzend, einen donnernden Ruf erschallen; es war das gewohnte Zeichen, auf das alle die Seinen, die es gehört hatten, herbeiliefen. In einem Augenblick eilten alle, die in der gewaltigen Burg verstreut waren, dem Rufe nach und gesellten sich zu den schon Versammelten, indem sich aller Augen auf den Gebieter richteten.
»Geht und erwartet mich in dem großen Saale«, sprach er, und sah auf seinem Tiere zu, wie sie sich entfernten. Er stieg gleich darauf ab, zog es selbst in den Stall und begab sich dahin, wo er erwartet wurde. Bei seinem Erscheinen hörte flugs ein lautes Geflüster auf, das sich erhoben hatte; sie zogen sich alle nach einer Seite hin zurück und ließen einen weiten Raum im Saale für ihn frei; es mochten ihrer etwa dreißig sein.
Der Ungenannte erhob die Hand, wie um die Stille zu erhalten, die seine Gegenwart schon geboten hatte, richtete das Haupt empor, das über die aller Anwesenden aufragte, und sagte: »Hört alle zu, und rede keiner, wenn ich nicht frage. Kinder! Der Weg, den wir bisher gegangen sind, führt in den Abgrund der Hölle. Es ist kein Vorwurf, den ich euch machen will, ich, der ich allen vorangegangen, der Schlimmste von allen bin; aber hört, was ich euch zu sagen habe. Der barmherzige Gott hat mich gerufen, daß ich mein Leben ändere, und ich will es ändern; ich habe es schon geändert; also möge er mit euch allen tun! Und so wißt und haltet euch versichert, daß ich entschlossen bin, eher zu sterben, als mich noch irgendwie gegen sein heiliges Gebot zu vergehen. Ich nehme einem jeden von euch die ruchlosen Befehle ab, die ihr von mir habt; ihr versteht mich; ja, ich befehle euch sogar, nichts von dem zu tun, was euch befohlen war. Und haltet euch gleicherweise für versichert, daß fortan keiner unter meinem Schutze, in meinem Dienste Böses tun darf. Wer unter diesen Bedingungen bleiben will, soll mir als Sohn gelten, und ich werde am Ende des Tages zufrieden sein, an dem ich nichts gegessen habe, um den Letzten von euch mit dem letzten Brote, das mir im Hause verblieben, zu sättigen. Wer nicht will, dem wird gegeben werden, was ihm an Lohn zukommt, und noch ein Geschenk obenein; er kann seines Weges gehen; aber der setze den Fuß nicht wieder hierher, wofern es nicht geschähe, um sein Leben zu ändern; denn um dessentwillen wird er immer mit offenen Armen empfangen werden. Bedenkt das diese Nacht; morgen werde ich euch, einen nach dem anderen, auffordern, mich seine Antwort wissen zu lassen und alsdann weitere Befehle erteilen. Für jetzt begebt euch hinweg, ein jeder an seinen Posten. Und Gott, der solch Erbarmen an mir geübt hat, berate euch wohl.«
Hier schwieg er, und alles schwieg. Wie mannigfach und stürmisch auch die Gedanken waren, die in diesen Querköpfen kochten, sie verrieten sich durch kein einziges Anzeichen. Sie waren gewohnt, die Stimme ihres Herrn für die Offenbarung eines Willen zu nehmen, mit dem nicht zu rechten war, und indem diese Stimme verkündigte, daß der Wille umgewandelt sei, deutete sie nicht im geringsten an, daß er etwa schwächer geworden. Kein Einziger von ihnen ließ sich irgend beikommen zu meinen, weil er bekehrt sei, dürfe man wohl gar ein Herz gegen ihn fassen und ihm antworten wie einem anderen Menschen. Sie erblickten in ihm einen Heiligen, aber einen von den Heiligen, die man mit erhobenem Haupte mit dem Schwerte in der Faust abbildet. Außer der Furcht, waren sie ihm auch, und besonders die unter seiner Herrschaft geborenen, deren eine große Anzahl, mit einer Anhänglichkeit wie Vasallen zugetan; sie hegten zunächst alle für ihn das Wohlwollen der Bewunderung, und in seiner Gegenwart empfanden sie eine gewisse Art von, ich mag wohl sagen, Scham, wie sich ihrer auch die rohesten und frevelhaftesten Gemüter nicht vor einer Überlegenheit erwehren, die sie schon anerkannt haben. So waren denn auch die Dinge, die sie eben aus diesem Munde vernommen hatten, zwar ihren Ohren verdrießlich, aber weder falsch noch ihren Einsichten gänzlich fremd, und wenn sie tausendmal damit ihren Spott getrieben, so war dies nicht geschehen, weil sie etwa gar kein Gewicht für sie gehabt hätten, sondern wohl, um mit dem Gespötte der Furcht zuvorzukommen, die sie darob bei ernstlichem Nachdenken beschlichen haben würde. Und jetzt, da sie die Wirkung der Furcht auf ein Gemüt, wie das ihres Gebieters sahen, war nicht einer unter ihnen, der nicht mindestens auf eine Zeitlang davon ergriffen worden wäre. Man füge zu allem dem, daß diejenigen unter ihnen, die zuerst außerhalb des Tales die große Neuigkeit erfahren, zugleich auch die Freude, den Jubel der Bevölkerung, die neue gute Stimmung für den Ungenannten, die Verehrung mit angesehen und auch weitererzählt hatten, die unversehens auf den alten Haß, auf den alten Schrecken gefolgt war. Also sahen sie denn in dem Manne, zu dem sie gewissermaßen immer nur scheu emporgeblickt, obgleich zum großen Teil seine Macht aus ihnen selbst bestand, jetzt das Wunder, den Abgott einer großen Menge; sie sahen ihn in ganz anderer Art als sonst, aber nicht minder andere überragen; immer abgesondert von dem gemeinen Haufen, immer das Oberhaupt.
Sie standen darum verblüfft da, ungewiß einer des anderen und jeder seiner selbst. Der ärgerte sich heimlich ab, jener machte Pläne, wo er sich nun hinwenden wolle, um Schutz und Unterkommen nachzusuchen; einer prüfte sich, ob er sich wohl würde darin finden können, ein ehrlicher Mann zu werden; wieder einer fühlte, von jenen Worten gerührt, eine gewisse Neigung dazu in sich; ein anderer nahm sich vor, ohne etwas zu beschließen, vorderhand nur alles zu besprechen, unterdessen sich das ihm mit so gutem Willen angebotene, damals so karge Brot nur immerfort schmecken zu lassen und Zeit zu gewinnen; kein einziger murrte. Und als der Ungenannte am Schlusse seiner Rede von neuem die gebietende Hand erhob, und ihnen winkte abzutreten, brachen sie in aller Stille, wie eine Herde Schafe, nach dem Ausgange auf. Er ging nach ihnen hinaus und sah, indem er sich zuvörderst mitten in den Hof hinpflanzte, in dem Zwielicht zu, wie sie sich verliefen und ein jeder sich an seinen Posten begab. Nachdem er dann hinaufgegangen und eine Laterne geholt, schritt er nochmals durch die Höfe, Flure, Säle hin, untersuchte alle Zugänge und ging, da er alles ruhig fand, endlich schlafen. Ja schlafen, denn er fand Schlaf.
Nie hatten so viele verwickelte und zugleich höchst dringende Geschäfte auf ihm gelastet als jetzt, und dennoch fand er Schlaf. Die Gewissensbisse, die ihm jetzt die vorgängige Nacht geraubt, weit entfernt, beschwichtigt zu sein, klagten ihn vielmehr noch lauter, strenger, unbeschränkter an, und dennoch fand er Schlaf. Die Ordnung, die Art von Herrschaft, die hier in so vielen Jahren, mit solcher Sorgfalt, mit einer so seltsamen Vereinigung von Unbedacht und Beharrlichkeit von ihm eingeführt worden war, hatte er jetzt selbst mit wenigen Worten in Zweifel gestellt; die grenzenlose Ergebenheit der Seinigen wie ihre Bereitwilligkeit zu allem, die schurkische Treue, auf die er seit so langer Zeit gewohnt war, sich zu verlassen, hatte er jetzt selbst erschüttert; seine Mittel hatte er zur Linderung der Not aufgewendet, er hatte sich Verwirrung und Unsicherheit ins Haus gebracht, und dennoch fand er Schlaf.
Er begab sich also in sein Gemach, trat zu dem Bette, worin er vergangene Nacht so viele Dornen gefunden hatte, und kniete am Rande desselben mit dem Vorsatze zu beten nieder. Er fand in der Tat in einem tiefen verborgenen Winkel seines Innern die Gebete wieder, die er als Kind gelehrt worden war herzusagen. Er fing an sie abzubeten, und die Worte, die so lange Zeit dort zusammengeknäult gelegen hatten, fielen ihm gleich, als ob sich eines nach dem anderen daraus abwickelte, wieder ein.
Ihn überkam dabei ein unerklärliches Gemisch von Empfindungen, eine gewisse Lust an dieser einfachen Rückkehr zu den Gewohnheiten der Unschuld, ein schärferer Schmerz bei dem Gedanken an die Kluft, die er zwischen damals und jetzt hatte entstehen lassen, eine Sehnsucht, durch Werke der Sühne zu einem neuen Bewußtsein, in einen Zustand zu gelangen, der der Unschuld, zu der er nicht zurückkehren konnte, am nächsten wäre, eine Dankbarkeit, eine Zuversicht auf die Barmherzigkeit, die ihn dahin geleiten konnte und ihm schon so viele Beweise gegeben, es zu wollen. Er stand sodann auf, legte sich nieder und schlief unverzüglich ein.
So endigte dieser Tag, der noch damals, als unser Anonymus schrieb, so berühmt war, und von dem man jetzt, wenn wir ihn nicht hätten, wenigstens nichts Näheres mehr wissen würde, denn Ripamonti und Rivola, die wir oben angeführt haben, sagen nur, daß der so berüchtigte Wüterich nach einer Unterredung mit Federigo wunderbarerweise und für immer sein Leben geändert habe. Und wie viele haben die Bücher der beiden gelesen? Noch weniger als das unsere lesen werden. Und wer weiß, ob in dem Tale selbst, auch für den, der Lust sie zu suchen und das Geschick sie zu finden hätte, noch irgendeine alte, dunkle Sage von dem Ereignis übriggeblieben sein dürfte? Es sind seit jener Zeit so viele Dinge geschehen!