Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

25.
Die bedenkliche Szene

Stephanie mußte nicht mehr antworten, sie waren unten. Anstatt sich von ihm halten zu lassen, führte sie ihn. Ihr Arm drückte, ohne daß sie es wußte, dem seinen die Richtung auf; aber nicht auch seiner dem ihren? Des rechten Weges ohne Überlegung kundig, zwei kluge Kinder, überquerten sie den leeren Raum vor den Fässern. Nichts konnte übersichtlicher sein als ihre erste Reihe. Gleiche Höhe, gleicher Abstand, ein beruhigender Anblick, eine fraglose Bestimmung.

Der Aufbau dahinter erweckte weniger Vertrauen, gerade darum zog er an. Übrigens erschien er einfach lückenhaft, so gestellt, wie die großen Stücke sein mußten, damit ein Küfer sich zwischen ihnen bewegte. Inmitten des doppelten Walles blieb Raum für ganze Tafelrunden von Zechern, die sich niedergelassen hätten. Soweit gut: nur daß André sich entsann, sein Großvater habe ihn keineswegs dort hineingebeten, als er ihm Wein bewilligte. Vielmehr, den Wein hatte Balthasar hervorgeholt; aus dem Faß war er nicht gelaufen, sondern aus einer Kanne am Boden; und der Alte wollte hierbei nicht gesehen werden.

Die Szene kehrte in aller Deutlichkeit zurück. Die kurze Weile genügte, als das umschlungene Paar, verabredet mit seinem geheimen Sinn, die erste Reihe der Fässer zurückließ, um Zweifel kaum bemüht, wenn auch des Wissens bisher nicht habhaft. In der Viertelminute erblickte der junge André noch einmal den alten Zwerg – ein Zwerg durch Verkürzung, von der Treppe gesehen.

Seither will er ihn vergessen haben, könnte ihn aber jetzt zeichnen. Die rauhe Jacke, hinten weggerutscht, wie er tastete an den sicheren Spangen, die seinen Schatz faßten, ihn bändigten: seine edlen Gewächse, tätig in ihren Tonnen bis zur vollendeten Reife. Vorgebeugt, bedrohlich lauernd, spähte der Zwerg nach dem Zuschauer. Seine Schultern bedeckte ein Spinngeweb und Staub. Alles konnte man zeichnen.

Halt! Was liegt da? Das Paar hielt an, vor jeder Verabredung, hier geschah etwas außerhalb des Ermessens. Halt! Da liegt ein unbekannter Mensch. Jenseits der vorderen Fässer war er nicht sichtbar gewesen. Ein Zufälliger, den niemand erwartet, liegt nicht wie dieser eingeordnet; auch kein Verbotener. Wenn er in einem geheimen Keller betroffen wird, kommt immer doch viel auf sein Benehmen an. Wahrhaft friedlich schläft er den wohlerworbenen Schlaf.

Der schwache Schimmer von oben verliert sich in dem Schatten der gebauchten Wälle um den Ruhenden her. Bleich trifft er die gefalteten Hände. Der Kopf ist rückwärts gesenkt, die Brust wird vielmehr gehoben von einem Kissen, das den Rücken trägt. Ein Kissen, das unter der dunklen Kleidung des Mannes hier und dort glitzert. Es ist aber die Kleidung eines Bedienten von geringem Rang.

Das Paar beriet ganz ohne Worte, wo es anfange, sich zu vergewissern; bei den Händen, die beten oder sich ergeben, bei der armen Leibesgewandung, dem noch unentdeckten Gesicht. Nun geschah, daß sie infolge von Ratlosigkeit den Körper anstießen, daß seine Unterlage klirrte, erschüttert, aber nicht zu sehr, und ein einzelnes Goldstück bis vor ihre Füße schickte. Es sah sie an und funkelte.

»Wieder ein einzelnes Goldstück – hätte ich gesagt, wenn ich mich nicht schämte. Natürlich sind es viele. Natürlich sind alle Fässer von ihnen voll.«

Er sprach, weil man nicht länger schweigen durfte; auch nicht Ausflüchte suchen. Sondern der Tote verlangte nach Wahrheit.

Stephanie tat seinen Willen, wie André. »Wir wollen sein Gesicht betrachten. Wir haben beide sogleich gewußt, wer er ist.«

»Obwohl er sich wie sein eigener Diener gekleidet hatte, wie einst im Leben.«

»Auf ein Häufchen Gold und in Livree, so bettete sich dein höchst merkwürdiger Vorfahr, um zu sterben.«

»War es sein Vorsatz?« fragte der Nachfahr aus Schamgefühl. Der Alte sollte, trotz den Umständen, keine ausgestellte Figur machen. Sich zuletzt noch dramatisieren, das wäre! Inzwischen schaufelte er mit den Händen das Gold vom Rücken nach dem Kopf: jetzt liegt er gehoben, offen das Gesicht. Das Paar beugt sich.

Es ist der Friede. Es ist, wie immer, der Friede und sonst nichts. Suche auf den offen stehenden Lippen keine Spuren letzter Worte! Leg nichts in die verschlossenen Züge von stattgehabter Erlösung! Noch bist du über ihm, siehst nahe hin: er bleibt allein. Er bleibt so vollkommen für sich, als hätte er nie gelebt. Dies ist das Nichtsein, Abgrund des Gedankens.

Dem Paar ist sehr beklommen. Auch Rührung fühlt es, aber mehr Verlegenheit. Wie kann man sterben! Zugegeben, man stirbt. Aber hier? Aber in dieser Anordnung? Sie ist, mit Fleiß oder nicht, dramatisch auf den Moment gestellt, und dann? Das alles war. Vorhanden ist in dem Angesicht, das keines mehr ist, der Schein des Friedens, der endlichen Genugtuung, einer Beglückung ohne Widerruf. So sah der Mann nie aus. Das Niegewesene sieht dich an, es will dich mahnen, wenn es könnte, daß du vergebens lebst. Dies war es, warum der junge André in heftiges Weinen verfiel.

Seine Stephanie empfand Mitleid für den toten Balthasar, der viel geirrt haben mußte. Will andere mahnen, liegt aber selbst – worauf? Auf etwas Gold und in Livree. Sie nahm ihren André in den Arm, sie drückte seinen Mund an ihren Hals, bis seine Klagelaute schwiegen. Da sprach sie.

»Weise wie er war, Balthasar war auch lasterhaft.«

»Wie er hier liegt, willst du sagen?«

»Sag es selbst! Warum ich?« Sie kam nicht weiter, er wollte es sich erklären, sah sie an und fand sie verweint, auch sie. Da nun beiderseits viel eingestanden war, scheuten sie nicht länger, einander gegen die Brust zu sinken und ihre Tränen zu vermischen.

»Einmal hab ich ihn gesehen, keinmal gesprochen«, klagte Stephanie.

»Er liebte dich, ich weiß es.«

»Ich auch. Er wieder hat gewußt, wer er mir war: wie hätte er anders uns beide hier erwartet.«

»Es ist wahr, uns erwartete er.«

»Und wird uns anreden«, sagte sie zu seinem Schrecken. Er verstand erst, als sie unter den gefalteten Händen des Vergangenen ein Blatt Papier hervorzog. Mehrere große Blätter, in ein Knäuel zerdrückt. Entfaltet, zeigten sie Risse, von den Nägeln der Hand, ein Flecken, woher? Vom Todesschweiß. Er hat gekämpft, sahen sie, aber hat ausgehalten bei den Gebärden des Friedens. So viel wert war es ihm, uns den Abschied rein zu entbieten!

Die Hand des Mädchens zitterte, als sie den Brief nahm, als sie ihn glättete. Der Knabe dachte: Wie spannend ist meine reizende Freundin! Wenn Balthasar gewettet hatte, er werde hier die Hauptperson sein, hatte er verloren.

Stephanie sah in das Sendschreiben, das man versucht ist »von anderswo« zu nennen – las und errötete. Sie reichte es weiter. »Du kennst seine Schrift? So schlecht war sie wohl nicht immer.«

Er begriff: nicht der Schrift, die nur altertümlich aber sicher genug war, wich sie aus. Sie wollte nicht gelesen haben, womit Balthasar gleich anfing. Er sagte, und sein Enkel wiederholte es laut:

»Geliebte Stephanie! So hätte ich dich noch vor fünfzig Jahren zweifellos genannt, und du hättest deinem Liebhaber das greifbare Recht auf dieses Wort gegeben, vor dem gesprochenen Wort. Zuerst geliebt, und dann sich gerühmt. Dies wünschte ich deinem André, dem du natürlich das nämliche anraten würdest. Indessen müßt ihr beide schwierig tun. Mir ist es recht, denn ich bin eifersüchtig.«

Dies staunend zum besten gegeben, puffte André ein herzliches Lachen aus. Er kletterte auf das Faß zu Häupten des verstorbenen Autors, wobei er ihn würdigte: »Er war ein wirkliches Talent, ich fühlte es von jeher. Daß er nur seine Denkwürdigkeiten hinterließe!«

Einmal auf dem Faß mit schaukelnden Beinen, folgte von selbst die Zigarette. »Auch eine?« fragte der Junge und hob sein Girl an Arm und Bein zu sich herauf. Das Etui, das zerbeult, aber aus Gold wer, steckte sie, anstatt in seine Brusttasche zurück, unter sein Hemd Auf seiner Haut verweilte ihre warme Hand. Er wußte sich nichts Besseres als die seine auf ihren entblößten Schenkel zu legen, sie sollte sich nicht umsonst mit hochgezogenem Rock auf Fässer schwingen.

»Unser Balthasar war ein lüsterner Greis«, stellte er fest, um so entschiedener je offener die Frage. Sie erwiderte dann auch: »Man muß weiter sehen. Das letzte war, daß er eifersüchtig ist.«

Körperliche Hemmungen fehlen auf einmal, das verdanken wir ihm! Aber seine Art ist nicht geheuer. Und wir? Um ihre Unbefangenheit zu beweisen, brachten sie einander die Augen ganz nahe. Jedes Zucken der Lider wäre erkennbar, nur darf man nicht gerade den Rauch in die Gesichter blasen, noch überhaupt in einer Wolke sitzen.

Die Wahrheit ist, daß beide sich schämen, er, weil er hinter den lebensvollen Balthasar zurücktritt, sei es nur diesen zugespitzten Augenblick. Sie, nicht zu leugnen, empfängt Annäherungen eines toten Mannes, der jetzt ebensogut zwanzig sein könnte. Was da liegt, auf Gold und in Livree, gehört erloschenen Jahrzehnten. Aufgelebt ist er, wie er sich bei ihr anmeldet, als Bewerber um ihr Fleisch. Die Hand auf ihrem Schenkel! Sie nimmt sie weg. »Wirst du weiterlesen?« befiehlt, unter ungnädigen Stößen ihrer beiden Absätze gegen das Faß., worin es übrigens klirrt. Er gehorcht.

»Es ist eigentlich André, der zu dir spricht«, so liest er, hält schon an, wiederholt, argwöhnisch. »Es ist eigentlich André.«

»Das denkst du dir aus!« sie umschlingt ihn schon wieder und liest mit. Da steht wirklich, und der Betroffene selbst muß es aussprechen: »Ich nehme für ihn das Wort, das ihm kühner als die Handlung scheint. Mich kostet es nichts mehr. Ich habe hiermit die Probe abgelegt, daß ich ihn durchschaue wie mich. Nach Kenntnisnahme seines letzten Zustandes, als tot, und meiner ersten Sätze, als schamlos, wird er ein Faß ersteigen, du auch; ihr werdet rauchen, was zu meiner Zeit für unanständig galt in Gegenwart einer Leiche; er wird dich begehrlich berühren, was er bisher hinausschob. Andere, vor ihm, hatten es eiliger, und du auch.«

Das Letzte brachte den Vortragenden schlechthin zum Schweigen. Bis dahin hatte er nur gestockt, wenn seine Zunge sich nicht überstürzte.

Stephanie sagte:

»Du nanntest ihn, etwas zu einfach, einen lüsternen Greis.« Sie hatte den Ton des sanften Vorwurfs, anstatt sich zu verteidigen, insofern die Enthüllung sie selbst betraf. Nachträglich setzte sie doch hinzu: »Er hat uns gut gesehen.«

André, zufrieden, nicht die einzige Zielscheibe zu sein: »Erstaunlich gut, und warum nur uns? Zugegeben, uns beide hat er ziemlich erschreckt. Vielleicht weißt du es nicht, aber die Zigaretten haben wir fortgeworfen; unsere Hände waren schon vorher entfernt von den angenehmen Plätzen, wo sie lagen. Was der eifersüchtige Balthasar kann! Wenn er sagt: andere, vor ihm, hatten es bei dir eiliger, dann widerspreche ich ihm nicht, erstens aus Hochachtung: ferner, weil man sich nie dagegen verteidigen darf, man sei nicht der erste und einzige. Hochmut kommt vor dem Fall.«

Stephanie: »Do you really think so? Dies war deine längste Rede. Ihretwegen hast du dich unterbrochen. Nicht von dir wolltest du handeln, von ihm!«

André nimmt auf: »Erstaunlich gut hat er gesehen, und warum nur uns. Setze den Fall, er habe andere Gestalten und Gruppen entblößt wie uns, ob getroffen oder verfehlt, jedenfalls mit derselben zynischen Anschaulichkeit; habe auch von ihnen vorausbestimmt, wie sie bei starken Wendungen ihres Romanes sich geben werden! In seiner Bibliothek müßten wir eine lange Reihe beachtenswerter Handschriften finden, in Saffian gebunden, aufgeräumt und keiner Nachwelt zugedacht.«

Stephanie: »Nichts werden wir finden. Lies weiter!«

Balthasar: »Ich war zu stolz für die rechtschaffene Arbeit, für die andere auch. Mein Enkel André versteht mich, liebt er doch denselben Frauentyp, das entscheidet über den ganzen Rest. Auch er zieht vor, müßig zu gehen, nicht so sehr aus Trägheit; er findet es nur albern, sich hienieden verewigen zu wollen, und das einfache Geldverdienen scheint ihm häßlich. Nun ist das tägliche Brot nicht häßlich, meine Kinder.«

Stephanie: »Er wird lehrhaft.«

André: »Er wird sozial.«

Balthasar: »Was mich betrifft, wurde ich ohne mein Verdienst beständig der Sorgen überhoben. Die ganze Welt schien eine Wette eingegangen zu sein, wie reich sie mich machen könne, wenn sie es darauf anlegte. Wohl verstanden, waren hierfür die rechten Zeiten, und die kommen nicht wieder. Das Jahrhundert hatte reizende Laster, auch mich forderte es auf, dergleichen zu erfinden.«

Stephanie, wiederholt ihre nunmehr bestätigte Meinung: »Lasterhaft und weise.«

André: »Verdächtig war mir längst, was hinter der Haltung des Weisen stecken möge. Gerade das hat mich in seiner Nähe eingeschüchtert. Ich glaubte, es sei seine Feierlichkeit.«

Stephanie: »Hören wir ihm zu, von seinem dunklen Punkt!«

Balthasar: »Meines Lebens wurde ich erst recht froh, als ich den Armen spielen und mein Gold verstecken konnte. Niemand ahnte den wirklichen Verhalt. Daß ich es nicht vergesse, geliebte Stephanie, du solltest Irene entschädigen. Nicht übertrieben; immerhin hat sie mich undankbaren Bettler ernährt.«

André: »Nicht übertrieben, ist gut. Wovon willst du sie bezahlen?«

Balthasar, durch Stephanie, die in den Brief sieht: »Seit langen Jahren trägt die brave Haut die Kosten meiner –« Das Blatt ist ironischerweise gerade hier umzuwenden. »Meiner Orgien.«

André: »Was die Leute vom Friedhof verzehrt haben? Genehmigt.«

Stephanie: »Die Leute vom Friedhof? Ah! Sie gehören zu den Unwahrscheinlichkeiten, die du gestern erlebtest und mit vorenthältst. Gib her! Ich will selbst lesen.«

Spricht Balthasar: »Das sind weniger beträchtliche Begleiterscheinungen, mein Umgang mit Toten und so. Ich mußte selbst tot sein, damit ich mein Gold, von Ewigkeit zu Ewigkeit, ganz für mich hatte, und jede Unzucht mit ihm treiben konnte.«

André, in Bewunderung: »Wie du über das peinliche Wort hinweggekommen bist! Offen gestanden, hört nachgerade alles auf, wir nehmen es, wie's trifft. Besieh dir nur den Diener Nepomuk, so hieß er. Demütige Hände, Angesicht des Friedens, zählt nicht bis drei. Weiter in der Unzucht!«

Balthasar, durch den keuschen Mund Stephanies: »Ihr sollt wissen, daß mein Müßiggang aufhörte, sobald ich ein Laster besaß. Es beschäftigt furchtbar. Man trennt sich von ihm schwerer als von dem nüchternen Tugendwandel: darum erreichte ich die Neunzig. Sooft es mich überkam, besuchte ich meinen Weinkeller wie den Venusberg, was aber zu wenig sagt. Du kannst es nicht wissen, dein armer André schon gar nicht, somit erfahre: alle Fässer sind bis zum Rande voll Gold.«

André: »Drei Ausrufungszeichen.«

Stephanie: »Wegen der unerwarteten Neuigkeit. Armer Balthasar.«

Balthasar: »Auslaufen ließ ich meinen begrabenen Schatz, streckte mich darauf hin, und von dannen trug, auf ihren schwellenden, fließenden Gliedern, Dame Ewigkeit ihren unsterblichen Liebhaber.«

André: »Baudelaire hätte es schöner gesagt. Aber wählt man als das Bett, um unsterblich zu lieben, einen Haufen Goldstücke? Schließlich ist seine Dame nur die Habgier.«

Balthasar, pünktlich: »Der Geiz soll ein niedriges Laster sein, einst täuschte er auch mich. Wirklich niedrig ist kein Laster, schon weil jedes erotisch bestimmt ist. Da ich für zwei Liebende rede, werdet ihr mich nicht verstehen.«

André: »Nur entfernt, wie einen Eingeborenen dunkler Erdteile, wenn es sie noch gäbe.«

Stephanie, respektvoll: »Laß ihn irren! Der da liegt, verantwortet es.«

Balthasar: »Glücklich? War ich es? Der Geiz, bleiben wir bei dem Titel, hob mich über mich selbst; zum Schein will ich glauben, machte er mich weise. Ich wurde immer achtbarer und vereinsamte ganz. Glücklich? Dafür war mein Genuß bei weitem zu anstrengend nicht nur er selbst, auch die Anstalten, die er benötigte. André hatte mich in meinem Arbeitsdreß gesehen. Er konnte ihn sich nicht erklären, besonders da er betrunken war und ich noch soeben der verstorbene Geheimrat.«

André, hat ein ernstes Gesicht und behält es: »Jetzt aber würde ich ihn auswendig zeichnen mit seinem traurigen Sträflingskleid, in zwergenhafter Verkürzung. Edel ist noch der arme Nepomuk. Balthasar war kläglich, obwohl gefährlich.«

Balthasar: »Ich schaufelte mein Geld in seine Fässer zurück, damit der Keller ein Weinkeller bleibe: aus keinem anderen Grunde. Die Entdeckung fürchtete ich wenig; ich mußte schaufeln gerade nach dem Genuß, der mich nicht nur physisch erschöpfte. Sondern jeder meiner Séancen folgte der dégoût. Das Laster erhebt seinen Anhänger und erniedrigt ihn. Es ist allein das Leben wert. Diese Wahrheit beherzigte ich, während meine widerwärtige Bekleidung mir am nassen Leib klebte, und ich mich riechen mußte. Mein Trost blieb, daß ich schon in der Ewigkeit, mit meinem Gold in der Ewigkeit war.«

Stephanie: »Jetzt denke ich ihn mir als grand cordon. Er hätte es leichter haben können.«

André: »Er hatte den Trost, daß er nicht lebte. Alles ist ein Traum.«

Balthasar: »Stunde um Stunde schaufelte ich. Jedes Gewicht Goldes von elf und einem halben Pfund – achtundneunzig Schaufeln voll kamen auf ein Faß, hob ich bis zu dem versteckten Spundloch zwei Meter hoch, genau gemessen, waren es zwei Meter zweiundzwanzig. Ich maß meine Ausgaben an Kraft und Zeit. Die körperliche Arbeit wurde mir bekannt. Ich hätte geschworen wie ein Steinklopfer oder Kanalräumer, daß jeder, dem sie fremd ist, müßig geht. Wie viele Mühe, mir die feinen Hände zu erhalten, damit sie, pauvres mains déchues et avilies, mich nicht entlarvten! Zuletzt schleppte ich mich aus dem Keller, vermochte es aber nur, weil in die Zeitlosigkeit schon eingegangen und ohne Alter. Ein Mann meines irdischen Alters und Zustandes hätte es nicht gekonnt.«

André, mit Anstrengung: »Wenn ich bedenke, daß ich ihn nicht kannte – oh, in keinem Stück; hätte den Hauptschlüssel in Händen gehabt und übersah ihn. So geht es mir gewiß mit jedem einzelnen Menschen, den ich beurteile. Immer urteilen, niemals wirklich wissen, es ist, um sich auch gleich auszustrecken, wo der Diener Nepomuk liegt.«

Stephanie hatte seine Verzweiflung beobachtet, aber auch den nächsten Absatz des Briefes überflogen, beides mit verfinsterten Brauen. Sie drückt seinen Arm, um ihn an ihre Seite zurückzurufen: er soll mitlesen. In diesem Augenblick wird beiden bewußt, daß sie auf ihrem Faß nicht mehr sitzen. Sie stehen, den Rücken gegen ein anderes, sich gegenüber. Hier sehen sie den Toten ziemlich in gleicher Höhe mit ihnen, er wird ganz nahe und vollends unbegreiflich. Niemand spricht, sie lesen mit den Augen, ihm lassen sie das Wort.

Balthasar: »Daß ich wieder aufleben mußte für eine Nacht! Vielleicht, weil ich die Neunzig erreicht hatte, ein unklarer Grund, mir noch nicht unklar genug. Ich halte mich an das Dunkelste, das ihr selbst seid. Ihr, nur ihr habt mich veranlaßt, am Empfang bei der Welt teilzunehmen und danach zu sterben. Macht euch kein Gewissen daraus, so hätte ich schwächlichen Jungen anempfohlen. Ihr seid stärker als ihr denkt.«

Stephanie, die nicht gesprochen hat: »Atem holen!«

André, küßt sie: »Das Schwerste will kommen.«

Balthasar: »Auf dem Empfang bei der Welt fand ich meinen Notar, nahm ihn mit und machte mein Testament, einfache zwei Sätze. Er hat es und hält es zu deiner Verfügung, Stephanie. Was ich besitze, mein Haus und den Weinkeller, vererbe ich dir allein, letzte Geliebte. Du darfst es nehmen, du bist geliebter als das Gold, das mich verlassen hat, wie schiede ich sonst von ihm. Gottlob, ich muß nicht mehr schaufeln!«

André: »Du sublime –«

Stephanie: »– au ridicule –«

Aber beide Gesichter sind ratlos.

Balthasar: »Mit gutem Bedacht schreibe ich dies alles meiner Erbin, nicht dem enterbten Enkel. Das wäre, als ob ich mir selbst, dem Zwanzigjährigen schriebe, und auch das Gold hinterließe in meinem vergangenen Ebenbild. Es würde nicht wissen, was damit anfangen, unfehlbar macht es meine unentschlossenen Torheiten. Du, die er an meiner Stelle liebt, weißt genau, wie Gold behandelt sein will.«

Sie sehen einander an. Was meint er?

André: »Noch etwas?«

Stephanie: »Ja. Er läßt sich dir empfehlen.«

André: »Rührend.« Er räumt den Platz. Drei Schritte, er kehrt zurück.

Stephanie: »Höre gut zu, was er dir auf den Weg gibt!«

Sie spricht dem Autor nach, in schönem Mezzosopran.

Balthasar: »Dein André möge von deiner Stimme hören, daß er durchaus mein Verehrer bleiben und die Distanz wahren darf. Auch Bekenntnisse wie diese hier heben nicht die Fremdheit eines anderen Daseins auf und machen keine trennenden siebzig Jahre ungeschehen.«

André: »Wie denn, Geheimrat! J'abonde dans votre sens. Großvater? Wenn nicht der Abstand wäre, ich küßte Ihre Hand, die geschaufelt hat.«

Balthasar: »Dein André, gut geartet wie er ist, fühlt schon jetzt, daß ich ihm kein Unrecht tue, im Gegenteil. Aus meiner Hand empfängt er das Beste, dich, Stephanie. Dein Gold wird seinem Gewissen neue Vorwände geben, eure Sache in die Länge zu ziehen. Die realisierte Liebe ist gemeint. Ich verlasse mich auf dich. Du wirst, zu deinem, seinem Glück, niemals weise sein und immer vernünftig.«

André: »Das wäre alles. Wie unterzeichnet er?«

Stephanie: »Spaß, er unterzeichnet Nepomuk.«

André: »Warum, bleibt unklar, wie alles. Aber da steht, quer geschrieben, ein Nachwort – mehrere Nachworte, kein gutes Zeichen hinsichtlich Selbstzufriedenheit und gelassenen Abtretens.«

Balthasar: »Inzwischen habe ich mich umgekleidet, diesmal als Diener. Zwischen dem Geheimrat mit dem grand cordon und dem rauhen Arbeitsmann wahrte mein Nepomuk immer die anständige Mitte. Er kannte den Stolz nicht, weder den Stolz des Müßiggängers, der eigentlich Verlegenheit war, noch den verzweifelten Stolz des schmutzigen Arbeiters. Dies beiseite gesprochen, vergeblich wie der Rest, denn für wen schreibe ich? Ihr habt zu lieben, ich zu sterben. In dies Haus verbannt, nie ein Dekorationswechsel, habe ich mich dennoch öfter umziehen müssen als mancher öffentliche Darsteller. Verstehe, wer kann!«

André: »Allerdings standen in seinen Zimmern alle Türen fortwährend offen. Der Eindruck auf Zuschauer ließ ihn nicht gleichgültig.«

Stephanie: »Es hatte ihm wohlgetan zu wissen, daß er eitel war wie ein gewöhnlicher Mensch.«

André: »C'est pourtant si simple, mais on n'y pense pas, wurde auch einmal gesungen.«

Balthasar: »Warum dramatisiere ich mich, eine so stille Existenz? Nicht allein, daß ich die Person tauschte. Seit weniger als vierundzwanzig Stunden zähle ich drei große Auftritte. Im ersten bin ich der Gastfreund von Gespenstern und auch ihr Autor. Im zweiten der Inhaber des grand cordon; die Welt hätte mich ausgelacht, wenn sie stärker wäre.«

André: »Du gehst gut ab, Geheimrat!«

Balthasar: »Meine dritte Szene soll er noch spielen, gleich schickt der Inspizient mich hinaus. Verzeiht beide! Ihr werdet mitwirken in dieser meiner bedenklichen Szene.«

André, nach einigem Schweigen: »Konnte er seine bedenkliche Szene nicht streichen – deinetwegen?«

Stephanie: »Wo denkst du hin. Sie mag bedenklich sein, dafür ist sie die letzte und enthüllt ihn.«

André: »Hier auf der Bühne. Ein Menschenkind bleibt doch verschlossen.«

Stephanie: »Aber die Hand möchte ich ihm küssen, wenn es noch seine wäre und er noch da.«

André: »Ich ebenso.«

Balthasar: »Haltet mir zugut, daß ich die bedenkliche Szene mild und erträglich mache wie ich kann. Schon bin ich der Diener, mein Diener, Stephanie. Sooft ich mich in Nepomuk verwandelte, fühlte ich einen Augenblick des redlichen Friedens. Er soll es sein, der in Demut sich niederlegt auf ein Häufchen Goldes, nur so viel, daß er eingeweiht erscheint. Vielleicht aber, ruhevoll und von Neugier frei, hält er dies für das einzige Gold und vermeint alle Fässer leer?«

André: »Wenn er recht hätte? Auch das wäre möglich.«

Stephanie: »Gehen wir.«

André: »Das letzte willst du mit vorenthalten.«

Stephanie: »Oh, nichts. Er sagt, daß er nur weiterschreibt bis zu seinem schweren Viertelstündchen. Er messe den noch übrigen Raum so genau wie einst die zwei Meter zweiundzwanzig bis zum Spundloch. Er wisse, wie lange er den wohlbekannten Weg noch leisten könne von seiner Bibliothek hinunter in sein Grab.«

André sieht, einen Satz unterschlägt sie. Falscher Verdacht, sie will, daß er sich mit eigenen Augen überzeugt. Sie ist errötet, hat das Gesicht fortgewendet. Der Körper folgt, es eilt ihr. Er hat gelesen: da eilt es auch ihm.

Er fühlt die Kraft, die ein anderer von seinem Gold erhält, so daß es über seine Kraft, höher als seinen Kopf hebt, es birgt und besitzt. Er legt unter sie seine beiden Arme als eine Sänfte, im Lauf entführt er sie aus dem ersten Keller. Auf der glatten Treppe, ein angedeuteter Aufenthalt, aber es ist keiner. Es ist nur die Frage: tun wir einen Blick zurück? Niemand hat sie gestellt, niemand antwortet. Sans retourner la téte, haben sie stumm beschlossen.

Die Sänfte, auf der sie ruht, Stephanie findet sie sicher und zuverlässig. Durch den finsteren Schacht des zweiten Kellers gelangen beide ohne anzustoßen; straucheln keineswegs wie er weitläufig, ungleich und trügerisch wird. Gar manche stürzenden Schatten laden zu Irrgängen ein, anstatt des allein gebotenen Ausweges. Da schimmert das schwache Licht des Lämpchens auf einem Vorsprung der Wand.

André spricht ein Wort, das erste: »Du hast uns geführt.«

Sie wäre bereit, aus seinen Armen aufzustehen; er leidet es nicht. Sie sind draußen, die langsame Treppe steigt ganz leicht mit ihnen hinan in das Haus. »Hier führe ich!« ist sein zweites Wort. Sie hat die Augen geschlossen. Er erinnert sich. Balthasar– sie saßen geheim beisammen, Stephanie kam außen vorbei, da hat Balthasar gesagt: »Die Treppe, die du als Kind liefest, sie ging sie nie.« Sie geht sie auch jetzt nicht, André trägt sie. »Du wirst sie richtig führen«, sprach Balthasar. Sie weiß wohin, obwohl nie hier gewesen. Ihr Kopf ist fester in seine Brust gedrückt. Er sucht ihr Gesicht: sie hat die Augen geschlossen. Da gehen sie auf. Er wankt, so hoch schlägt sein Herz.


 << zurück weiter >>