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Längst hatte Melusine ihre schönen, nunmehr nutzlosen Arme fallen gelassen. Böse vorgebeugt zischte sie ihn an:
»Auf Sie Canaille mußte ich gefaßt sein. Da Sie spioniert haben wieviel?«
Nach einiger Ratlosigkeit begriff Poulailler die Frage: »Wieviel? Ah! Man sagt, ich sei käuflich.« Er lachte freimütig, dabei verschwiegen. »Nichts ist beständig wie der Ruf, den man hat. Einer begehrenswerten Frau kann es nicht entgangen sein.«
»Sie haben es auf eine Ohrfeige abgesehen«, Melusine war weiß vor Wut, aber die Hände spannte sie um ihre beiden Schenkel. Der elegante Herr widersprach höflich:
»Auch darauf rechne ich nicht. Jedweder Lohn ist verbeten. Mein Anliegen wird Sie enttäuschen durch seine vorbehaltlose Uneigennützigkeit. Dafür wird es an Ihr Bestes rühren: ich meine Ihre Menschlichkeit.«
Er ist betrunken, dachte sie. Nur keinen Anfall und Skandal! Daher nötigte sie ihn niederzusitzen. »Sie interessieren mich«, sagte sie, noch immer auf den Füßen und bereit zur Flucht, bei der ersten falschen Bewegung des Menschen.
»Mit Recht ist Madame begierig, mich anzuhören.« Er sprach traurig, ach traurig. »Seit einer Stunde wandle ich zwischen Zypressen und weiß wohl, wo sie einmünden.«
»Gewöhnlich bei Friedhöfen«, vermutete sie. Er nickte schwer:
»Auch Sie werden der Unglücklichen außer einem gnädigen Aufschub nichts gewähren können.«
»Welcher Unglücklichen? Aufschub, wieso?« forschte sie, und er schätzte ihre Wissenslust ab. Es war ihm gelungen, sie zu spannen. Fortlaufen kam nicht mehr in Frage. Statt dessen machte er selber Miene, aufzubrechen. Er murmelte:
»Dergleichen spricht man ins Ohr. Aber ich bin von Natur bescheiden, und dieses enge Möbel ist für die wohlerzogene Haltung zweier Personen nicht gedacht. Klassische Formen, deren Madame sich erfreut, wollen reichlich umrahmt sein.«
»Lassen Sie Ihr Kauderwelsch!« befahl Melusine und sank auf das Kanapee, Knie an Knie mit Poulailler, wenn das genügte. Ihr war es gleich, mit Strenge befahl sie: »Nun?« Er sprach ihr nicht in das Ohr, sondern an ihm vorbei, gebeugt von Kummer und Demut. Der Durchschnitt der Sterblichen, dies flüsterte er, dürfe an das Leben keine nennenswerten Ansprüche mehr stellen, wenn heutzutage ein Liebling des Publikums, der es zu lang geblieben war, keine andere Wahl mehr habe, als zu verhungern oder sich aufzuhängen.
»Wer hängt sich auf?« fragte die einstige Sängerin, der es an Stimme fehlte. Sie antwortete selbst: »Alice. Es war vorauszusehen.«
»Sie sind die Siegerin!« Poulailler faßte sie ins Auge, bevor sie es vermuten konnte, ein Mitwisser, vor dem sie errötete. Es war richtig, seine Nachricht hatte sie beglückt, obwohl erschreckt. Sie wünschte sich mehr von der Labsal, bei der es ihr kalt über den Rücken lief.
»Sagen Sie mir alles! Als Mann von Ehre!«
Erst dieses unerwartete Wort bezeugte ihre ganze Ergriffenheit. Ihr Zustand verhinderte, daß sie Poulailler lächeln sah; der Rest des Gespräches hätte sonst nicht stattgefunden.
»Sie hat mit Selbstmord gedroht?«
Er antwortete ein schlichtes Ja.
»Zu Ende«, murmelte Melusine, hineinversetzt in ein Schicksal, das ihr eigenes gewesen wäre. Bewahrt hatte sie der Verlust ihrer Stimme – und hatte sie dennoch zur Unterlegenen gemacht durch viele Jahre: sie kannte nur zu gut die Zahl. Jetzt aber, gerettet bin ich, verspielt hat Alice! Mein ist die gepflegte Linie, sie dagegen, ihre Arbeit macht sie kantig und gedrungen, eine Athletin, und kann nichts mehr. Zu spät für sie zu lieben, zu verführen, auch das will geübt sein. Zu spät!
Immer das lästige Abschweifen, von den Bedrängnissen einer anderen zu den eigenen! Ohne Not, aber es scheint unvermeidlich, vergleicht man und stößt auf Entdeckungen, die keine mehr sind: die Kunst wäre schon längst gewesen, sich ihnen zu verschließen. Nicht für ihre Altersgenossin allein ist es zu spät geworden, auch für Melusine in all ihrer Wohlerhaltenheit, die zuletzt zur Übereinkunft und Legende wird, wie die üppige Stimme ihrer Freundin. Ausgesungen, fertig geliebt: man sehe nüchtern hin, dann ergänzen sich die beiden trostlosen Tatsachen. Und die Kameradinnen haben von jeher alles gemein gehabt, jetzt auch den Schiffbruch. André ist vor meiner heiseren Stimme zurückgezuckt! Gerade er!
Ach! Daß ich ihr vor einer halben Stunde nicht begegnet wäre, dachte Melusine und versuchte sich einzureden, sonst stände es nunmehr besser um sie. Den jungen André am Arm, gerät sie rein zufällig, wie man lieber annimmt, an die alte Konkurrentin, die ihn auch nicht haben wird. Auch! dachte die Unglückliche, so kurz nach einer Liebesszene, an die sie nicht mehr glaubte, seit die Alte mit Aufhängen drohte: »Die Alte, sag ich, und sie ist drei Monate jünger als ich. Schrecklich!«
Dies ließ sie laut werden, oder gestand es nahezu hörbar, wenn gar ein Poulailler da ist, ihr das Gestammel von den Lippen zu fangen. Er versäumte nichts, er lehnte seinen Katzenkopf an die Schläfe der Frau, damit ihr in der schwersten Stunde das gewohnte Begehrtwerden nicht fehle. Natürlich schonte er den Aufbau ihrer Haare, weshalb sie denn stillhielt.
Ihr kamen Tränen: oh! nur eine einsame Träne rann, und Melusine erlaubte es ihr, über den Schoß geneigt, damit der Tropfen das Gesicht nicht streife. Da sie rückwärts einen Halt suchte, bot der Schenkel ihres Trösters von selbst die Stütze. Poulailler liebkoste den Arm von oben angefangen, bis er, immer bei der Sache, die Schließe des Armbandes fühlte. Melusine leistete keinen Widerstand, es ist klar, seine uneigennützige Zumutung ist ihm gewährt, er darf es nehmen.
Dieser Art standen die Dinge in dem gefürchteten Kabinett, als Stephanie, gedeckt von dem Rücken Arthurs, einen Blick hinein wagte. Was sie sah, waren rätselhafte Vorgänge, mit ihrer Mutter, man weiß nicht wieso, als Mittelpunkt. Der andere Mitwirkende kam durchaus unerwartet, sowohl seine Identität als seine Haltung. Was immer er vorhaben mochte, Stephanie wünschte ihm Erfolg, wenigstens das Mindestmaß, das er bei ihr selbst verfehlt hatte. So sehr war sie erleichtert. Sie drückte ihren Mund an die Schulter Arthurs, um nur nicht aufzuseufzen oder aufzulachen. Er verstand sie. Als er Poulailler in der Ausübung seiner Talente beobachtet hatte und sich abwendete, verwunderte es ihn wenig, daß er allein stand.
Stephanie meinte über den Teppichen zu schweben. Den großen, der den Boden der Halle bedeckte, hatte sie hinter sich und war um die Ecke. An dem Festsaal außen vorbei erreichte sie die verkehrsarme Gegend, wohin vor einer Ewigkeit der brave Hochstapler sie gern verschleppt hätte. Alles gut verlaufen, alles wohl gefügt. Wie hübsch, diese weit offenen Zimmer, eher kahl, jedenfalls ohne lauschige Winkel; aber sachlich aufgestellt und aus Versehen nicht fortgeräumt, bemerkt sie einen Zeichentisch, seinen Tisch, darauf ein Bildnis, ihr Bildnis.
Es ist nicht besonders gut, obwohl geschmeichelt, soviel erkennt ihr vernünftiger Geschmack. Ihre unbedachte Regung gebietet, das Blatt zu falten, mehrfach, bis es in ihre Handtasche paßt. Eine Stimme die seine, überrascht sie:
»So geht man mit den Werken meines Fleißes um!«
Sie drückt in aller Ruhe die Bügel zu:
»Man könnte Mißbrauch treiben.«
Er bleibt unter der Tür stehen:
»Sie haben sich ähnlich gefunden? Sie sind die erste. Mein Vater erkennt niemanden darin, oder gibt es nicht zu, wegen der Schlüsse, die sich aufdrängen würden.«
»Die ein kluger Betrachter wie Arthur vermeidet«, sagt sie statt dessen. »Warum treten Sie nicht näher?«
»Weil dies mein Schlafzimmer ist.« Hierbei lächelt er bescheiden. Sie verläßt die Stätte alsbald.
Er macht ihr Platz, sie blickt umher, wohin sich wenden. In diesem Himmelsstrich will sie bleiben. Schnell, bevor sie die Meinung wechselt, führt er sie nach dem Eingang gegenüber. Dort sieht es aus wie in einem Klub für ernste Mitglieder.
»Hier gefällt es mir«, spricht Stephanie.
»Mir auch«, erklärt André. »Es ist im normalen Zustand das Frühstückszimmer, wo ich faulenze.«
»Das einzig Richtige.« Schon läßt sie sich nieder.
Er taucht nebenan in einem Sessel unter. Er redet obenhin: »Lange nicht gesehen.«
»Wer?« fragt sie. »Ich – Sie? Allerdings. Manches fällt heute abend vor. Hinter uns sitzen drei Präsidenten auf einmal.«
»Betrifft nur das Opernhaus«, murmelt er.
Sie scheint zu erwidern: »Nur? Das lassen Sie unsere Eltern nicht hören!« Aber sie ist schwer zu verstehen. Er muß sich nach ihrer Seite überneigen, als hätten sie Geheimnisse. Sie haben doch keine?
Eher sollten die drei Herren ihre Stimmen beherrschen, sie äußern sich mit einiger Schärfe über das Kunstinstitut, das sie dennoch gründen helfen. In Wirklichkeit prüft jeder die beiden anderen, wieviel sie zeichnen werden. Sein eigenes Opfer darf keiner strafbaren Hinterziehung ähnlich sehen.
»Arme Leute«, raunt der junge Mann. Auch das Mädchen bleibt leise:
»Die Reichen geben sich Mühe zu verarmen. Wir dagegen –«
Er beendet: »Lassen es uns wenig kosten, reich zu werden.« Darüber lacht sie hell auf, und er mit.
Zuerst bezogen die drei Geschäftsleute es auf sich. Über die hohen Lehnen, alles was sie sahen, hingen, vermischt sozusagen, zwei blonde Schöpfe. Das ist die leichtere Seite des Lebens, die Herren verständigten sich darüber mit Achselzucken und einem flüchtigen Mienenspiel von zärtlicher Geringschätzung.
Für den Augenblick verstummten sie, und hinter den beiden Lehnen zirpte keine Grille. Um so vernehmlicher entstanden ferne Geräusche, in der Halle, im Festsaal, wo noch. »Der Intendant!«
Die Herren fingen die Nachricht auf oder fanden sie selbst. »Der Intendant ist eingetroffen«, wiederholten sie. »Auch etwas. Der Zauber kann losgehen.«
Hiermit setzten sie sich in Bewegung. André wartete ab, bis er entschlossen hochkam und Stephanie auf das Haar küßte.
»Das gilt nicht mehr«, sagte sie gelassen. »Du hast es zu lange verschoben.«
»Ich habe die Vorfreude verlängert«, erinnerte er sie.
»Ja. Die Vorfreude.« Sie erhob zu ihm das Gesicht. Darüber ausgebreitet lag das reine Glück; er dachte: Womit habe ich es verdient – und sah, daß auch sie bei seinem Anblick zweifelte, ob wirklich ihr Dasein ihn beseligte. So wenig Erfahrung besaßen beide Kinder mit ihren schönen Gefühlen und mit der Vertrauenswürdigkeit zweier Herzen, das eine ihr eigenes.
»Es war schön«, seufzte Stephanie, als wäre ein Erlebnis schon beendet. »Wir sind einander absichtlich ausgewichen.«
»Absichtlich, so war es.«
André sprach nur die Wahrheit, und doch erschrak er. Wird sie mich fragen, womit ich meine Zeit verbracht habe? Ob ich in dem Kabinett der Pompadour war, und mit wem?
Wirklich sprach sie es aus: »Wo bist du gewesen? In wessen Gesellschaft?« Aber es war kein Verhör. Lieber hätte sie selbst ihm eingestanden, daß sie in das Kabinett gespäht, was sie gefunden hatte und, gottlob, was nicht.
Von der Hauptsache mußte sie still sein. Ihrem Gewissen zuliebe näherte sie sich der Wahrheit auf Umwegen:
»Hast du es gehört? Melusine soll auffallend lange mit Poulailler verhandelt haben?«
»Mit Poulailler?« wiederholte er scheinbar unbeteiligt. Ach, hätte er nicht fürchten müssen, daß eine Verwechslung stattfand!
»Sie ist nicht die Frau, sich mit einem Gangster aufzuhalten«, behauptete er. »Wenn die Umstände es verlangen, bricht er ein.«
»Genau das«, bestätigte sie, Angst im Innern; aber wenigstens das Kabinett kam außer Sicht. »Tatsächlich wußte man in unserer Direktion, daß er einen Einbruch verübt hat.«
Man wisse viel, meinte André leichthin. Sie teilte sogleich seine Zweifel. Aus vornehmen Häusern gelangt über die Dienerschaftstreppen ein Gerücht bis in zuverlässige Geschäftsleitungen. Wo denn hatte Poulailler eingebrochen? Das war unbekannt. Erwiesen blieb nur, daß er über Häuser sprang: darunter leidet ein Ruf.
Ohne Überzeugung verteidigten die schuldlosen Kinder einen Fremden, damit keiner sich belogen fühle vom anderen. Reinen Herzens, nahmen sie des Trugs nicht wahr. Jeder verschwieg das Seine; die Aufrichtigkeit hat ihre Grenzen; um so fester ihr Vorsatz, einander nie zu belügen.
Stephanie bat: »Sei aufrichtig! Du hast mich beobachtet, wenn ich dich nicht sah.«
Wie ihre Hand ihn anwies, setzte er sich zu ihr, in denselben Sessel. Einer genügte, kaum, daß die jungen Schultern zusammenstießen.
Er beschirmte seine Augen: was er suchte, kam langsam näher. Wann doch hatte er sie ohne ihr Wissen erblickt? »Das letztemal sah ich dich –« Er suchte, und sie lauschte. »Als ich auf einer glatten Treppe stand«, beendete er.
»Warum glatt?«
Das konnte er ihr schwer erklären: »Vielleicht war sie aus Eisen. ja, aus Eisen. Unter mir – nichts, glaube ich. Rückwärts die tiefe Dunkelheit, aber darin, wie ich mich umsah, erschienst du mir.«
»Ich erscheine niemandem«, behauptete sie. »Du warst auf keiner Treppe. Vermutlich hattest du dir ein Sofa ausgesucht und schliefst, bei allem Lärm, den hier das Umräumen des Hauses machte.«
»Geschlafen habe ich später.« Sein Gedächtnis fand sich allmählich zurecht. »Vorher entwarf ich noch dein Bild, ungenau, wie du weißt; aber es erinnert mich an deine Erscheinung vor einem durchaus unbeleuchteten Prospekt. Woher du dein Licht bekamst?«
Stephanie fing an zu begreifen. »Woher kam dir selbst die Erleuchtung? Mitten unter dem Zeichnen bist du eingeschlafen. Das Bild in meiner Handtasche wurde nicht fertig. Dir muß etwas ganz, ganz Ungewöhnliches zugestoßen sein.«
»Wenn du willst. Ich war betrunken.«
Hierzu nickte sie. »Niemand hätte es erraten«, meinte sie, vorgeblich ernst. »Nehme ich mir schon die Mühe, dir zu erscheinen, dann hast du dich gerade um den Verstand gebracht und stehst auf einer Treppe, die nirgends hinführt.«
Er widersprach, sehr angeregt. »Jetzt weiß ich es wieder!« Pause der Gespanntheit. Die Wahrheit ist, daß der Keller des alten Balthasar ihm niemals völlig entfallen war. Nur an Glaubwürdigkeit kann dieser Keller und was dort vorgeht, inzwischen wohl eingebüßt haben; und da André sich selber nicht schlechthin traute, bedarf es natürlich vieler Umsicht, bis er Stephanie einweiht. Jetzt soll es geschehen.
»Höre die Geschichte!« begann er. »Du wirst mir glauben?«
»Jedes Wort«, versicherte sie. Er verstand das Gegenteil: kein einziges.
»Bereite dich auf Unwahrscheinlichkeiten vor«, bat er, »und versuche mir zu folgen! Ich muß weit ausholen.«
Indessen, hierzu kam es nicht. Er schloß die Lippen, ein Druck ihrer Schulter hatte ihn gewarnt.
Beide gleichzeitig schnellten sie von ihrem gemeinsamen Sitz auf. Sie glitten über den Teppich leicht dahin, obwohl er auch feste Schritte lautlos aufgenommen hätte. Einen Bogen machten sie um die äußere Tür, die unter anderem nach einem Schlaf- und Arbeitszimmer führte. Sie hatten es eilig, die breite Mitte des Innern zu erreichen. Je belebter die Räumlichkeiten, um so näher der Intendant.
Zwei Personen betraten das Zimmer des Sohnes vom Hause, ohne übrigens zu wissen, wo sie waren. Die jungen Leute hatten schon bei ihrem Näherkommen die Stimmen erkannt; jede von ihnen gab es nur einmal.
Melusine sagte: »Hier sind wir ganz verlassen.«
»Ich möchte es hoffen«, sagte Tamburini.
»Haben Sie auch keine Vorliebe für die Gaffer?« fragte sie beiläufig. Ihr fiel aber ein: »Ah! Sie selbst machen mehr Aufsehen als ein Intendant.«
»Les badauds sont des innocents«, sprach er barmherzig. Sie schloß sogleich an, es kam dringlicher, als sie gewollt hätte:
»Vous même en savez long, sur la condition humaine, et sur la nôtre.«
Als sie es ausgesprochen hatte, sah sie weg. Sie war überrascht. Wie hatte es ihr geschehen können, daß sie von dem allgemeinen Menschengeschick gerade seines und gerade ihres abzweigte? Die beiden Geschicke waren ungleich, soviel stand fest. Was man niemals wirklich weiß: bin ich die große Ausnahme? Unterscheide ich mich so sehr wie ich dachte, von den anderen Frauen, denen ihr jüngster Liebling davonläuft? Einmal muß es sein. Ich vermutete es nur nicht heute, ach, von ihm nicht.
Melusine verlor ihre Fassung. Zu verwundern ist, daß sie sich bis dahin beherrscht hatte. Nach dem Verschwinden des Spezialisten, denn kaum im Besitz des Armbandes machte Poulailler sich unsichtbar, sie hat nie erfahren wie – war sie dem verhängnisvollen Kabinett, einer wahren Schreckenskammer, entronnen – trotz allem mit sorgfältig wiederhergestellter Schönheit. Der bucklige Sänger begegnete ihr zufällig. Durch Zufall, woher sonst, stand er allein im Musikzimmer und betrachtete die leere Bühne. Beim Anblick ihrer Prachtgestalt legte er die Hand auf sein Frackhemd: eine unverbindliche Huldigung, man übergeht sie an der Lebenswende, die jetzt ihre war. Dennoch hielt sie an, um zu erfahren, was er wollte, ob er sie kannte. Ihr Name bei der Bühne war längst verwelkt. Abgeblüht an Seele und Leib wußte sie sich seit dieser Stunde.
Sein Gedächtnis war vorzüglich. Er begrüßte sie als Kollegin und versicherte, zu Hause verwahre er ihr Bild, einst ihm zugeeignet von ihrer Hand. Das seine, erwiderte sie, behaupte unter ihren Andenken die erste Stelle – worauf er sprach: »Mich hört man, und sieht mich nicht an.«
Nach diesem Wort bat sie ihn, weiterzukommen. Während sie nun den Festsaal umgingen in Richtung stillerer Gefilde, betrachtete Melusine ihren neuen Begleiter. Es war ihr leicht gemacht, da er den Kopf hätte in den Nacken legen müssen, um sie dabei zu ertappen. Dies scharfe Profil gehörte mehr einem Kenner als einem Künstler. Die Stirn war breiter als hoch, untadelig der Ansatz des Haarbodens, das Ohr ein Meisterwerk. Dünne Einschnitte der Haut umrahmten die mageren Wangen, überall lag das Gewebe straff, wenngleich braun gefärbt unter den Augen.
Ein altes, viel erprobtes Gesicht, das neutral erscheinen möchte, aber das verbietet ihm der Mund. Für den Augenblick entschied die Verlassene, nicht der Mund ihres verlorenen Knaben habe diesen Zauber. Gut denn, nicht diesen, dafür aber macht der andere Mund jugendliche Versprechungen, die er hält oder bricht nach Lust und Belieben. Der Sänger verwirklicht alles, er muß. Ein Leben lang hat er geübt, das Vollkommene zu spenden. Das Vollkommene sind Töne, es sind Ausbrüche einer Seele, die kenntnisreich und noch immer voll des unschuldigen Genusses ihrer selbst ist. Es sind nur Töne.
Die unglückliche Frau vermeinte die rechte Gesellschaft gefunden zu haben. Dieser liebenswürdige Mann, beides mit dem nötigen Witz zu verstehen: liebenswürdig und Mann, er genoß. Die Tatsache ist als historisch anerkannt und abgefertigt von der achtungsvoll belustigten Welt. Eine Prinzessin war um seinetwillen verstoßen worden, eine Milliardärin hatte von der Kasse weg die Flucht ergriffen. Sein eigenes Herz aber schwelgt durchaus nicht. Wo es höher schlagen möchte, da hat ein einfaches Kind seinen Namen nie gehört, seine Stimme konnte den Zauber nicht üben, kurz, sein jüngster Liebling läuft ihm davon. Dergleichen kennt man.
An dieser Stelle verlor Melusine die Fassung und sank auf den Diwan: ein Schlafdiwan, aber durchaus keine Ahnung sagte ihr, wem er gewöhnlich diene. Sie war verzweifelt, daher behielt sie diesmal trockene Augen. Sie überlegte, wie unsinnig es wäre, ihr frisch hergerichtetes Gesicht gleich wieder durch Tränen zu beschädigen. Tamburini wohnte geduldig bei, wie sie seitwärts zu Boden starrte. Nach seiner Erfahrung mußte sie nunmehr fragen, ob es ein Glück gebe; oder ob sie es verdienen; oder drittens, ob er selbst es besitze.
Sie wendete sich ihm zu: »Ich möchte wissen, ob Sie glücklich sind.«
»Meine Verehrung, schönste Frau«, sprach er wunderbar. Ihr armes Gemüt vernahm auch die Harfenbegleitung, die nicht fehlen konnte.
»Gleichwohl«, bat sie, schwach von all dem Wohllaut, »ist das keine Antwort. Maestro, sind Sie glücklich?«
»Sie erwarten von mir ein Nein«, erklärte der Kenntnisreiche. »Ich schulde Ihnen die richtige Auskunft. Ja, ich bin glücklich, solange ich Sie betrachten darf.«
Melusine wendete ein, daß er sich auf die Betrachtung der Frauen nicht immer beschränke. »Die Welt weiß es.«
Er erwiderte: »Mein Agent weiß mehr. Der kluge Arthur erhält mir Achtundfünfzigjährigem den Ruf eines Verführers. Gerechtfertigt hatte ich ihn in der Jugend kaum.«
»So ist das?« bemerkte sie und bekam seit ihrem Zusammenbruch die erste Spur eines Lächelns. Gerade deshalb hatte Tamburini ihr das Geständnis gemacht. Wenn sie reden wollte – historische Legenden stößt sie nicht um. Aber sie hat ihre Gründe, für sich zu behalten, was hier vorgeht.
Er lächelte wie sie. Zum Schein waltete gegenseitiges Verständnis; immer schon ein Trost.
Die erniedrigte Schönheit richtete sich auf, bis ihr Gesicht die Höhe des seinen erreichte, und er stand doch. »Teuerster!« gurrte sie wie ein Täubchen ohne Singstimme. »Wirklich, Sie litten Mangel an Gelegenheiten?«
»Seien Sie vom Gegenteil überzeugt«, erwiderte er.
Sie bewunderte, wie traurig er sich gab. Jeder Verdacht der Eitelkeit fiel weg: der ganze Künstler!
»Ich will es glauben. Eine Stimme, keine andere gleicht ihr!« Jetzt sprach er nicht mehr betrübt, nur sachlich:
»Die Stimme allein würde mich nicht begehrenswert machen. Aber ich besitze auch einen Buckel.«
Zuerst verging ihr der Atem. Dann versuchte sie: »Ich verstehe.«
»Noch nicht«, bemerkte er. »Aber wollen Sie bedenken, oder könnten Sie sogar –« kurzer Absatz – »vergleichen.« Sie schwieg. Dann wiederholte sie, ihm in das Gesicht: »Ich verstehe.«
Wenn sie meinte, hiermit sei es getan, nein, seine Miene verlangte, daß sie den Gegenstand ohne Schonung anfasse. Gut denn:
»Ihre Stimme und Ihr Gebrechen. Das ist der Reiz, um den man nicht weiß, dem man erliegt: der Widerspruch von Herrlichkeit und Schande.«
»Genau das.« Er nickte ihr zu, nicht nur, um anzuerkennen. Ermutigen wollte er sie. Wirklich kam ihr der Mut, den er verlangte.
»Ich bin Ihresgleichen, Tamburini«, sprach die schöne Melusine. »Kehren wir's um: eine ungewöhnliche Erscheinung, eine Stimme, die abstößt. Es bleiben Herrlichkeit und Schande.«
Er stand vor ihr:
»Melusine, ich habe Sie gehört, als Sie noch etwas waren. Es tut mir leid um Sie.«
»Mir tut es leid um Sie.« Die Ärmste wagte ironisch zu werden. Bis zur Bosheit ging sie: »So viel wie Sie, der Sie keine Frau haben, bin ich auch noch.«
Er blieb gütig und ernst: »Ich hoffe, daß Sie sich Eroberungen versagen.«
»Durchaus nicht. Warum verzichten denn Sie?«
Hierauf folgten von ihm zwei Worte:
»Aus Stolz.«
»Oh!« Sie knickte ein, ihre Stirn hing über den Knien.
Nicht dem mißgestalteten Sänger, nur ihren wohlgebildeten Knien beichtete sie:
»Zu spät. Daß ich lieben mußte, bis das Unglück geschah! Der Knabe fühlte nicht meine Umarmung, er hörte meine Heiserkeit. Er war der erste, den sie vertrieb, ihn aber hätte ich mehr als alle geliebt.«
Ihr Zuhörer erlauschte gleichzeitig ihr Bekenntnis und den Vorwurf seines Gewissens. Wieder einmal stand er vor einer Törin, die er aufgeklärt hatte. Anastasia oder Melusine macht keinen Unterschied. Höchstens fehlen die Kartenspieler, die beim Vorübergehen seinen Buckel bestreichen. Er hat in jedem Fall das gute Werk getan, auch künftig wird er es sich selten versagen. Man ist Moralist oder ist keiner.
Seine Wahrheiten halfen den gequälten Damen nicht weiter, sie verschärften ihre Pein, wie ihm nachgerade bekannt sein mußte. Schon bereute er und war auf das gewohnte Ende ähnlicher Unterredungen vorbereitet. Von Zorn und Verachtung verfolgt, ganz unbedankt pflegt er tändelnd abzugehen.
Nun kam es anders. Melusine nahm seine Hand. »Schöne Hand«, flüsterte sie. »Die Hand eines reinen Menschen. Ich danke Ihnen.«
Schnell kam sie auf, war schon von dannen. Noch hurtiger, während sein Erstaunen anhielt, erreichte Tamburini die Tür und blickte hinterdrein. Welch ein Charakter! dachte er. Diese wäre die Frau gewesen für mein Haus im Grünen! Viele Kinder! Lachen! Lärmen!
Er seufzte und ließ es gut sein.