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20.
Ausklang des Festes

André und Stephanie hatten einen Tisch für sich allein, den ersten besten, die meisten anderen standen leer. Im Hintergrunde, um das Podium, das von der Musik seit einigem verlassen war, betätigte sich etwas schwach, etwas krampfig, ein mäßiges Gedränge.

Jemand konnte die letzten Gäste in Zahlung gegeben haben, daß sie sie nicht wegfanden. Indessen wußte man mehr oder weniger, daß dieses scharfgeschnittene Profil keine Bleibe hatte, daß die Figur mit Feldwebelallüren in ihrem Palast an Zwangsvorstellungen litt, weshalb sie sich die Nacht um die Ohren schlug. Was die Dame rechts betrifft –

Mit dem blauen Toupet?

Eben diese würde beide Gestalten nach Hause nehmen, in der einzigen Hoffnung, eine Geschichte möchte herauskommen und ihr Bild in der Zeitung. »Die ausgestreuten Sternchen habe ich schon beseitigt«, sagte André. »Wenn ich die ganze Beleuchtung abstellte?«

Das stille junge Paar hatte sich ohne Berechnung günstig gesetzt, aus seinem Winkel überblickte es beide Seiten: auch den Ausschnitt des Saales, mit ihrem lieben Vater. Arthur, über jeden Begriff hinaus erschöpft, was er niemals zugegeben hätte, lag mit Brust und gestützten Armen auf einer Ecke des abgeräumten Büfetts. Die Speisen, die er blind vor Gier verschlang, waren Reste, er hatte sie den Lohndienern aus der Tasche gezogen, allen vieren: sonst wären sie Nahrung für vier Familien gewesen.

»Schmeckt es?« fragte jemand hinter seiner Schulter den fressenden Arthur.

»Sieben Stunden keinen Bissen«, knurrte er, die Hand über der Schüssel, um sie gegen Beraubung zu schützen. »Der Existenzkampf verlangt den ganzen Mann. Ich mache ihn mir nicht bequem, wie Sie.«

»Schon gut«, sagte Nolus, auf dem Sprung anderswohin. Arthur knurrte ihm nach. »Die ganze Nacht setz ich unseren Geldgebern zu; eine Stimmbänderlähmung kostet es mich.«

»Es kostet Sie viel, viel mehr«, sagte der Bankier, die Haare besonders tief angesetzt, wie es schien, der ganze Gorilla, aber in seinen Lauten raunte ein unerforschlicher Unterton. Mitleid? Hohn? Die Freuden des Betrügers? Der übermüdete Arthur muß dergleichen gefühlt haben, nur in sein Bewußtsein gelangte es nicht. Er blieb bei seiner überholten Idee; kein Wunder, wenn sein Freund ihn bedauerte und verlachte.

»Nur die Maschine aufpumpen!« Der Speisende war schwer verständlich, er kaute die Worte mit dem Inhalt seiner Backen. »Dann gehe ich Schecks einsammeln: die Frucht meiner Anstrengungen! Die Krone meines Empfanges! Ça colle, mon President. Her damit! Crachez la forte somme! Rattrappez-vous sur le beau sexe!«

Hauptsächlich des anschaulichen Aufpumpens wegen goß er einen sehr großen Kognak in seinen Champagner und beides hinter die Binde. Die Flaschen verdankte er der Leibesvisitation der vier Lohndiener. Hier bemerkte der gewitzte Börsianer, wie schlimm es stand. Der Patient hat sich seelisch noch mehr übernommen als physisch. Wir kennen das von schwarzen Freitagen her. Wenn irrtümlich nahebei ein Strick hängt –.

Behende, wie niemand es dem schweren Mann geglaubt hätte, untersuchte er die Umgegend, oder gab sich den Anschein. Kein Strick zu finden. »Tragen Sie Gift bei sich?« fragte er streng.

»Ich frühstücke«, war die bestimmte Antwort.

»Dann liegt der Fall anders. Sie sind plötzlich kindisch geworden infolge Ihres konsequenten Mißbrauchs der Sensationen. Die Gefahr lauerte ständig in Ihrer beruflichen Intensität.«

»Ich bin allerdings Philosoph«, lallte Arthur. »Nolus der Dunkle schlägt mich aus dem Felde.«

»Schon geschehen«, sagte Nolus beruhigt.

Der Unselige über seinem Teller, noch immer durch Gier erblindet: »Aber die Schecks einzusammeln versuchen mal Sie!«

Nochmals schon geschehen, wäre ein zu billiger Schlag gewesen; der Kunstkenner vermied ihn aus gutem Geschmack. Beiläufig ließ er einen wichtigen Rat fallen.

»Von den laissés pour compte, die dort hinten nach Schlaf ringen, versuchen Sie Kapitalien einzutreiben!«

»Und Sie? Meine Präsidenten haben, jeder einzeln aus Ihrem Munde gehört, daß Sie abreisen nach Panama.«

»San Domingo«, berichtigte Nolus; weiteres verschwendete er an keinen Verlorenen. Der hätte nichts geglaubt, sah nichts, hatte alles vergessen: die greifbaren Tatsachen selbst. Nehmen wir nur eine! Daß alle Präsidenten längst nach Hause sind. Der ärmste Existenzkämpfer aber frühstückt Illusionen.

Der andere, mit dem gesicherten Kopf, überließ ihn seinen Viktualien. Das kommt vor, bedachte er sachlich, ohne Furcht noch Mitgefühl. So einer scheint den meisten richtig gebaut! dachte er. Aber irgendwo fehlt es. Ein Bruch war ihm von jeher anzumerken, man wußte nicht, welcher. Übereifer allein erklärt noch nichts. Man habe zum Beispiel einen hundertjährigen Vater, der Komödie spielt! Auf diesem Wege ist der Wahnsinn des Sohnes geboren.

Sich selbst in acht zu nehmen, hielt Nolus nunmehr für unnütz. Überwundene Zeiten, man reist ab. Der Rüstungspräsident hatte vor dem zweiten Bananentouristen kein Hehl aus seiner Südsee gemacht, wofür jeder den anderen einen Idealisten nannte. Verhängnisvoll wurde dem mittleren Bankier das Beispiel eines Gipfels der Weltwirtschaft, der seine Nutte mitnahm. Es ihm hierin gleichzutun, erfüllte seinen ganzen Sinn, schon stundenlang.

Gut, Nolus hatte sich die Brust ausgestopft mit den Schecks der steuerflüchtigen Gönner, Musikgläubigen, Kennern schöner Beine. Sie konnten Gelder, die sie zu hinterziehen wünschten, geradenwegs an die Beine wenden. Aber nein, das Bedürfnis nach kultureller Geltung beherrscht noch Sterbende: mit ihrem letzten Atemzug gründen sie ein Opernhaus.

Der Intendant, bevor er diesem Empfang bei der Welt den Rücken kehrte, hatte unvergeßlich gesprochen. Er sprach es in die Luft hinein, ihm gleich, wer hörte. Wenige sind auserwählt, auch Nolus höchstens für einen Augenblick, als sein Begriffsvermögen ungewöhnlich aufgeschlossen wird.

»Lehrreich, bei Ihnen heute abend«, sagte der Intendant – vorgeblich zu dem Hausherrn, den er gegenüber hatte, wirklich aber in die Luft. »Der letzte Empfang bei der Welt, man darf das nicht versäumt haben. Alle persönlichen Ansprüche einmal abgelegt, erfaßt man erst den Vorgang und ist ästhetisch befriedigt.«

»Sie – Ansprüche ablegen?« meinte Arthur, dem dies fern lag. Der Intendant ließ seine weißlichen Wimpern zwinkern. Vorsichtig wie sich selbst behandelte er diese Worte.

»Es wäre weise, das Unausbleibliche beizeiten ins Auge zu fassen. Unser Opernhaus wird nie gebaut werden. Die einen werden es vergebens bezahlen, die anderen ihm ihre Kraft nicht leihen, die dritten und vierten können weder Reklame noch Skandale besorgen. Ich werde es nicht ruinieren.«

Das war die Hinterlassenschaft des Intendanten. Arthur verdiente sie nicht; während er ihm nachblickte, richtete er seinen Zeigefinger gegen die Schläfe: nicht die richtige Antwort, wie Nolus fühlte. Aber wenn einer, nach angehörter Prophezeiung des Kundigsten aller Weltfreunde, nichts Besseres zu tun weiß wie Reste essen!

Nolus, der seinen einstigen Mitkämpfer Arthur nunmehr hinter sich gelassen, ihn als ungleichen Wertes von sich gewiesen hatte, hing dessenungeachtet seinem eigenen Wahne nach. Das exotische Leben mit seiner angeborenen Gefährtin teilen! Diese war unbedingt eine gewisse Nina, die er bis diesen Abend nicht gekannt, oder immer übersehen hatte. Auf einmal verkörperte sie eine mehr als menschliche Bestimmung; der Zusammenhang des Geschehens fordert sie. Fraglich, ob der Weltreisende unangefochten über die nächste Landstraße käme, außer er hätte sie bei sich. (Den armen Arthur hält er für beschädigt in seinem Sinn für die Wirklichkeit.)

Der entschlossene Mann ging mit dem Schritt und Tritt, der ihm gebührte, das Haus ab, alle die Räume, die keinen Anspruch auf Festlichkeit mehr erhoben. Verödet wie sie waren, sahen sie auch schon verstaubt aus. Der Empfang hätte vor Jahr und Tag gewesen sein können; nur die Putzfrauen wären ausgeblieben. Allerdings würde bei längerer Verzögerung das Elektrizitätswerk den Strom gesperrt haben, aber die gesamte Beleuchtung arbeitete – ins Leere.

Von unbekannter Hand war sogar die indirekte, die rieselnde, kreisende Beleuchtung wieder angestellt worden. Nolus fühlte sich entschieden belästigt; wieso, als dem einzigen Vernünftigen mußten ihm immerfort Sternchen über den Frack laufen? Arthur zählte nicht; auf Anruf drückte er seinen schwachen Kopf nur schwerer in den Arm. Holte er seine Bestandteile nochmals zusammen, dann, um weiter zu essen. Traurig, traurig, aber nicht für uns, meinte Nolus. Es bedeutet eine überwundene Gefahr.

»Hinter dem ersten Sofa, am Boden!« wies jemand den Ungeduldigen an. Nolus fand noch immer nicht. André kam hervor und sagte: »Sind eher ein Intellektueller? Daher technisch unbeholfen?«

Das peinliche Licht hörte auf; erhaben sprach Nolus: »Mein Junge, stundenlang hocken Sie mit Ihrer Freundin und sind technisch unbeholfen. Ich mache das anders.«

Er wollte seiner Wege gehen, indessen hielt André ihn, kräftiger als zu vermuten war, bei der Schulter fest.

»Lieber Herr«, sagte er im Ton des freundlichen Bedauerns. »Ich sehe Sie immer suchen, zufällig weiß ich, wen. Ihre Geliebte ist nicht diskret. Überdies betrügt unsere gute Nina Sie im voraus. Diesen Augenblick liegt sie in ihrem Zimmer mit dem berühmten Poulailler. Überraschende Begegnungen möchte ich vermieden wissen«, sagte er, und schien mit seiner Rolle wirklich unzufrieden.

»Im Gegenteil danke ich Ihnen«, erwiderte der Entführer einer Verbrecherdirne, wie die gute Nina in seinem geschwellten Herzen nunmehr hieß. Einen Poulailler und sämtliche Abweichungen wollte er ihr von vornherein angesehen haben. Das war, was der entfesselte Bankier sich selbst als angemessen, vielmehr ihm mitgeboren zuerkannte. Jugendliche Gefühle bäumten auf. Seine Augen leuchteten.

Der Gorilla verfällt seiner ursprünglichen Wildheit, sah André, grüßte mit zwei Fingern und beeilte sich, Abstand zu nehmen von soviel Natur.

»Ist er betrunken?« fragte Stephanie, als André zurückkehrte.

»Wen meinst du?« fragte er selbst. »Der arme Arthur ist allerdings betrunken, sogar schlimmer als das. Nolus zieht nur die Konsequenzen.«

»Woraus?«

Er zuckte die Achseln. Es war ein weites Feld, Raum die Menge, um nachzusinnen.

»Du fühlst wie ich«, bemerkte Stephanie; und auf seinen Blick: »Dies Haus ist unheimlich, wie es nun ist.«

André schwieg, er war ganz Bewunderung – für sie und sich, daß die gleichfühlten. Stephanie sprach.

»Wenn du mir das Haus deines Großvaters beschriebst, seine Gespensterhaftigkeit schien mir eher heiter. Hier könnte man depressiv werden.«

»Wir doch nicht«, sagte er, ohne viel zu betonen. Sie lächelte leicht wie er. »Wir nicht.«

»Wünschest du, daß ich die späten Gäste hinauswerfe?« erkundigte er sich aus bloßer Galanterie. Er hatte schon einmal nicht dunkel gemacht: ihr schneller Seitenblick erinnerte ihn daran. Seinen Scherz belachte sie dankbar. »Es wäre grausam«, sagte sie.

»Es wäre grausam«, wiederholte er. »Zum erstenmal seit gestern abend ist den paar Lärmmachern leidlich wohl, bis auf den Umstand, daß sie noch lieber einschlafen würden, wo sie gehen und stehen. Kann sogar sein, daß nichts sie drängt, noch wieder aufzuwachen. Aber darin irre ich.«

»Darin irrst du. Das Leben ist für jeden schön.«

Die einfachste Wahrheit, einfach ausgesprochen, und sie sahen einander in die Augen. Von neuem fühlten sie es zwischen ihnen ernst werden, ganz ernst: sie bebten davon.

»Ich habe meinen Großvater nicht mehr gesehen«, begann sie. Er begriff, wen sie so nannte.

»Niemand sieht Balthasar, wenn er verschwinden will. Dennoch weiß ich: er sah dich. Du gingst ahnungslos vorbei.«

Ein Ausruf, der beinahe Schrecken war; aber sie besann sich sogleich. »Immer soll der liebe alte Balthasar ein Wunder sein. Er ist harmlos wie wir, die nach seinem Beispiel ablehnen, um Geld zu kämpfen. Er hält sich deshalb für tot. Aber«, behauptete Stephanie mutig, »das macht ihn nur sympathischer. Das unheimliche Haus ist vielmehr dieses«, wiederholte sie.

»Zugegeben, daß Balthasar hier abscheulich mißbraucht worden ist. Dermaßen, daß er wieder lebt!« André war zornig erregt, dafür zum Dank nahm Stephanie seine Hand. Im Affekt wagte er zu fragen: »Haben nicht auch wir uns aufgeführt, wie wir nicht wollten? Warum wichen wir einander aus?«

»Wenn du es nicht weißt, André.«

»Ich weiß es – von Balthasar. Daß du geweint hast, Stephanie.«

»Der alte Mann hat zu mir nicht gesprochen.«

»Als Arthur ihn öffentlich ausrief, war deine Zeit nicht, ihm zu begegnen. Warte, es wird geschehen.«

»Ich fühle, er ist mein Freund.«

»Unser Freund, Stephanie. Aber deiner mehr als meiner. Du sollst seinen Weinkeller erben.«

»Den du im Traum gesehen hast. Mit mir auf einer glatten Treppe. Du bist in sein Haus verliebt wie ein Dichter. Einen Empfang wie diesen hat sein Haus in hundert Jahren nicht erlebt.«

Er ergänzte, was sie sagte. »Ein Ausbruch nach dem anderen befiel die mythische Gesellschaft. Zuerst schlugen sie sich, wie gewöhnlich, um Vorrechte, Vorteile, um die vordersten Plätze und das vorlauteste Mundwerk. Ihre Selbstbehauptung war gegenstandslos und unbändig. Bis eine schöne Stimme sie zum Schweigen brachte, und ein edler Mensch ihnen Tränen der Erlösung entlockte. Da hatten sie endlich, den sie immer ohne Überzeugung anrufen, den hochherzigen Frieden.«

»Hélas«, warf Stephanie nur ein. André meinte dasselbe. »Sie sind wohl eher zu bedauern für ihre guten, ach wie kurzen Regungen. Nachher kommt es mit ihnen um so schlimmer. Wir sind zu bedauern.«

»Vielleicht gibt es Ausnahmen.« Hiermit schlang sie einen Arm um seine Schulter, ihre Wange lehnte nun für eine Weile an seiner.

In dieser Haltung, der ersten ihrer Art, die sie versuchten, hatten die zu klugen jungen Leute es leichter, ihre Verschwiegenheit aufzugeben. Frage Stephanies:

»Wo warst du mit Balthasar, als ihr mich gehen sahet?«

»Im Dunkeln«, erwiderte er. »Aber wohin gingest du?«

Stephanie: »Weiß nicht. Weiß es nicht.«

André: »Mais encore?«

Sie: »Dich suchen.«

Er: »Hättest du mich nicht hier angetroffen, wie ich wartete und bereute, du wärst dennoch geblieben?«

»Immer«, sagte sie, noch bevor sein Satz aus war. Das habe ich leidenschaftlich ausgestoßen, bemerkte sie voller Freude. Holen wir jetzt die Zurückhaltung nach! »Übrigens, konnte ich den Wagen nehmen und Melusine dalassen?«

»Sie ist lange fort. Begleitet von Tamburini.«

»Das Paar, lieber André, verweilt noch immer – soll ich sagen, wo?«

»Es gibt nur den einen Platz. Viele waren schon dort. Nicht wir, Stephanie!«

Sie küßte nicht. Sie atmete ihm auf die Wange. Er flüsterte, Worte, die seine gewöhnliche Tonstärke durchaus vertragen hätten.

»Wir sind schüchtern. Das wohlerzogene Paar von eh und je, in der Gartenlaube.«

»Es kann so scheinen«, sagte sie.

»Ich werde dir niemals beichten, was Balthasar mir geraten hat zu tun.«

»Aber du wirst es tun?«

»Dieses Haus bestimmte er dafür nicht«, erklärte André, und sie trennten ihre Wangen, um einander anzusehen – belustigt hätten sie sein sollen. Über der Sache zu stehen, war ihr törichter Ehrgeiz. Sind wir dumm! dachten beide. Aber die eingeschlagene Wendung des Gesprächs war sans issue, wie jeder sich eingestand und wechselte hierfür die Sprache; ihre Lage nannten sie unhaltbar. André fragte ohne Zusammenhang:

»Was hatten deine Mutter und der Sänger einander zu sagen?«

Sie wußte, daß er die Frage so wenig nötig hatte wie sie selbst. Sie gab Antwort, aber nicht gleich die ganze. Oh! Keineswegs kam die junge Stephanie alsbald heraus mit dem Kummer der reifen Melusine. Das wäre für Zeiten, wenn sie mit ihrem André nicht fest die Hände verschlungen hat; wenn nicht beide ihre schnelleren Pulse fühlen, den eigenen, den anderen; wenn sie nicht lieben, stumm und unsäglich.

Welch ein Unrecht, Stephanie hat diesen Augenblick verlernt, ihrer armen, bewunderten Mutter nachzufühlen wie sonst: mit zärtlicher Ironie vielleicht, im Innern ernst und echt. Jetzt muß sie besinnen, wie es um ihre Mutter eigentlich steht: ihr Gedächtnis macht ihr Sorge. »Je suis tout chagrin«, spricht sie auf die Tischplatte.

Er begreift, weshalb. Ihr Gewissen beunruhigt sie. Aber seines? Was in dem Kabinett zu dieser Stunde immer Vorgehen mag, er selbst ist hinein verwickelt, sie können ihn dort verantwortlich machen. Sollen sie! Ich gebe mir Schuld, mehr als mir zukommt. Ich übertreibe aus Eitelkeit. Die große, schöne Frau, ihr überfülltes Leben, aber ich, mit gar nichts weiter als nur meinen zwanzig Jahren, brächte sie zur Verzweiflung? So kann es nicht stimmen. Gott sei Dank, ich ziehe mich aus der Affäre!

Da sagt Stephanie:

»Schon einmal habe ich ihr ein Glas voll aufgelöster Schlafpillen entrissen.«

»Schrecklich!« stöhnt André und will vom Stuhl hoch. Sie drückt ihn nieder.

»Laß! Damals gab es geschäftliche Anlässe – die durchschlagenden, wie es scheint.«

»Wir sitzen hier und sind glücklich, Stephanie! Wieviel Schuld in jedem Glück!«

»Still, Lieber! Fangen wir beim Anfang an, das ist die Tür, an der ich nicht horchen mußte. Sie ist mehr oder weniger historisch, jedenfalls brüchig. Ohne zu fragen erfuhr ich, daß Melusine in dieser währenden Minute verschmäht wurde. Ich würde das Wort nicht anwenden, ich tue es im Sinn ihrer Generation, als die Liebe um jeden Preis feierlich genommen wurde; nur die Geschäfte durften nicht leiden.«

»Die Geschäfte beiseite, ist es damit nicht anders geworden«, sprach er, nachdem er so beschlossen hatte.

»Womit?« wollte sie wissen. »Was ist sich gleich geblieben? Sage, mein lieber André!«

»Daß wir sehr unglücklich werden können. Dich verlieren – eine Weile heute abend, habe ich es vor Augen gehabt –, wäre die unbedingte Sicherheit, daß mein Leben verfehlt ist.«

Das hatte sie hören wollen. Stephanie leugnete es nicht, heuchelte nicht, sie sagte: »Endlich.«

Endlich waren sie in Ordnung. Seiner Erklärung hatte es bedurft, damit beide ihre Bedrängnisse ablegten, ihre selbst geschaffenen in Verbindung mit dem Fall Melusine, dem Fall Balthasar. Auch der Fall Arthur war zu vergessen, und im ganzen genommen, der gehabte Empfang bei der Welt. Alles vorbei; eine einfache Liebeserklärung ist das Geständnis der Wahrheit und macht Ordnung. Sie durften hiernach diesen Tisch verlassen.

»Wohin aber?« wollte Stephanie wieder wissen. »Nachgerade muß Melusine wirklich fort sein. Mich hat sie sitzen gelassen, das Recht gibt ihr der große, große Kummer.«

André war, eh er es dachte, auf den Füßen. »Wenn die entsetzlichen Leute nicht freiwillig gehen, habe ich Pflichten gegen dieses Haus!« sagte er auswendig auf. Sie meinte:

»Dieses Haus. Wo ist der Hausherr geblieben?«

Tatsache war: Arthur aß nicht mehr, betrank sich weder noch schlief er öffentlich. Er mußte eine kurze Selbstbesinnung benutzt haben, um seinen Rücktritt zu vollziehen. Aber wie tritt man hier zurück? Alles ist drunter und drüber, sein Schlafzimmer findet er nicht wieder. »Er ist in meinem«, entschied André.

Hierbei bewegten sie sich nach den letzten Hintergründen, wohin die gelichtete Gesellschaft verschlagen war. Unverkennbar wollte sie groß in Form sein, nur die Kräfte versagten. »Nichts zu trinken? Wirtschaft!« wurde dem neuen Paar entgegengerufen – so sehr ohne Überzeugung, daß eine Antwort sich verbot.

»Noch diese letzten kämpfen um ihr schwächliches Dasein, man kann nicht verbissener angeklammert sein«, bemerkte Stephanie; und beide abwechselnd: »Ohne Whisky, ohne Musik ist es schwer. Dazu wachsen ihnen schon Bärte, und das Hemd läßt zu wünschen. Die Damen übergehen wir. Sie könnten in der Kriegswirtschaft tätig sein und wären besser erhalten.« Beide beobachteten, abwechselnd sprachen sie mit.

»Unheimlich munter, die Geschäftsfrau, die ein Chanson bringen wird. Ihre Rückseite in hilfreiche Hände gelegt, hißt sie sich auf das Podium. Leicht zöge man sie hierbei aus oder gäbe ihr einen Stoß. Indessen, das Künstlervölkchen enthält sich der Unanständigkeiten, die besorgt sie selbst. Nein doch, man hat vor, sie auszulachen. Mädchen, die schon mal hinter der Szene den ganzen Tag nicht darankamen bis sie gehen durften ihr tägliches Geld wegtragen, triumphierten schonungslos über die reiche Dilettantin. Jetzt ist sie halbnackt, und sie kräht.«

»Schluß!« verlangte André. Ein reifer Herr sah entrüstet herüber. Einmal im Leben darf seine begabte Frau sich vor Kennern ausstellen, mit Klavierbegleitung von einem richtigen Kapellmeister. Er zückt die Brieftasche, womit die Schau gerettet ist. »Gleich bekommst du Geld«, sagte Stephanie.

»Ohne Arbeit?« wendete er ein. Sie mahnte: »Sei nicht streng, wie lange werden wir dergleichen Roheiten noch zu sehen bekommen.« Er meinte: »Immer.«

Die Sängerin war von sich hingerissen, obwohl bei jeder anstößigen Stelle ihres Vortrages von Zweifeln befallen. Ihre Augen machten die Runde, ob auch dies hingehen würde. Wirklich fanden sich Personen, die Gesichter schnitten, eigens um ihr den Mut zu nehmen. Nach überwundener Verlegenheit kam sie mit dem verbotenen Wort heraus, als spuckte sie Juwelen und wäre es gewohnt.

Sie war fertig. Dieselben boshaften Personen von vorhin verlangten nach mehr Nummern derselben Art, was leicht gesagt ist, aber die Dame wußte sonst nichts. In ihrer Laufbahn als Weltdame war ihr das eine unzüchtige Muster begegnet, für die frühen Morgenstunden genügte es immer wieder, dem Gatten besonders schien es ewig neu: Wie anders kannte er seine Frau!

Er nahm den reichen Beifall für verdient entgegen: schließlich hatte er sich auch prostituiert! Wenn sie ihn und seine Gefährtin offen verhöhnten, ist nicht glaubhaft, daß er dagegen taub blieb. Nein, aber er fühlte: Ein freies Leben ist dies, eine zweite Existenz! Denk ich an mein Büro, an unser langweiliges Eßzimmer. Dort sollte ich mir herausnehmen, was ich jetzt sogleich fertigbringen werde, und ohne Mehrkosten.

Er kniete, seinen gewölbten Körperteil erhoben, den Kopf nach unten, auf den Stufen zum Podium hin, damit seine eigene Ehefrau – kein Schritt vom Wege festgestellt, Verkehr zwischen ihnen geschäftlich außer sonnabends – ihm auf den Buckel steige! Sie ließ ihn warten, sie schüttelte sich selbst die Hände, wie sie es bei Künstlern gesehen hatte, wenn eine Ovation sie überwältigte. Nun denn, die Dame betrat das Hinterteil ihres Mannes. Das erste war, daß sie ausrutschte.

Mit weit ausgebreiteten Schenkeln, Bedeckung längst abhanden, kam sie wuchtig auf sein Kreuz zu sitzen; aber nicht, daß er wankte. Der Mann hier hat sich im voraus angespannt, seinen normalen Rekord wird er hinter sich lassen, wird in Erstaunen setzen, die Welt und sich. So fährt er seine Last – mittlerweile ist sie eine Schöpfung seiner sehnsüchtigen Seele, ist metaphysisch –, so fährt er sie auf allen vieren dahin. Sie winkt und kräht.

Der Weg war lang, und es war zu viel, in jedem Sinn zu viel. Als der bürgerliche Held versagte, ja, nahe der nicht mehr erreichten Treppe, platt und bewußtlos den Boden deckte, lachte plötzlich niemand; auf einmal bemerkten sie, daß sie schon vorher gegen Widerstände gelacht hatten. Alle außer dem Ehepaar flüchteten, abwärts, womit sie ihr Bestes taten.

Ausklang des Festes. Nur noch die Kompresse für den Mann: Stephanie schob sie ihm unter das Frackhemd. Die Dame, nichts weniger kopflos, ließ André ihre Bekleidung vervollständigen, während sie ihn prüfte. Als sich erwies, daß er nicht in Betracht kam, war sie auch das zufrieden. Das Paar wird hinausbefördert. Wir atmen auf.


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