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Er war verschwunden. Ob tot, ist die Frage: wird zum Problem für ihn selbst erst hier.
Unbeachtet war Balthasar aus dem Saal entwichen. Wenn dennoch der oder jener aufpaßte, behielt er es für sich, um der bewunderten Erscheinung von ihrem Geheimnis nichts zu nehmen. Andere sind um dieses Prestige mehr besorgt als sein Inhaber. Eine einzelne Person indessen konnte nicht an sich halten, sie vertrat dem schon Abgegangenen den Weg.
»Ich bin Pauline Lucca«, sprach sie mit ungedeckter Stimme, klang unverschämt um jeden Preis.
Dem Alten ahnten Peinlichkeiten. Er reckte sich, er hoffte auf erprobte Einschüchterung vermittels seiner Dekoration. Als die Wirkung ausblieb, bemerkte er das dunkle Zimmer, vor dem er stand. Sein Orden blitzte hier nicht; auch sonst wäre dieser Abart schwer beizukommen gewesen, er sah es ihr an
»Nun?« fragte sie, hochfahrend und empfindlich, weil er versäumte, ihr die Hand zu küssen. »Zu unserer Zeit war man ritterlich.«
»Zu unserer Zeit«, wiederholte er, während er nachrechnete, wie lange es her wäre. Richtig, sie trägt drei Etagen von Locken, die Ohren entlang fällt je eine. An ihrem Rock sind sechs Absätze von Volants wenigstens angedeutet, ja, der Überwurf wagt es, sich hinten zu bauschen, eine Erinnerung an die Turnüre. Sie ist auffallend dekolletiert, mißachtet aber die Sitte noch nicht, da sie ihren Rücken bekleidet.
Das sind Faxen, dachte Balthasar; ihm verlangte fortzukommen. Da legte sie die Hand auf seinen Arm: die Leute hatten es sämtlich unterlassen. Ungern sah er in ihr rundes erregtes Gesicht, das nur auf Anerkennung brannte – kindlich, zu kindlich für ihre Jahre. Genug, er mochte es nicht.
»Was wünschen Sie?« erkundigte er sich, d'une politesse exquise, so unzugänglich, daß jede erschrocken wäre. Diese war im Zuge, sie ließ sich nichts anmerken.
»Mit Ihnen unserer jüngeren Tage gedenken«, sagte sie.
»Die wir selbst nicht kennen. Je vois que ma franchise est inexcusable, chere Madame.«
»Mich werden Sie nicht glauben machen, daß Sie Pauline Lucca vergessen haben!« Ein kleiner Fächerschlag – wahrhaftig handhabte sie einen bemalten Fächer aus Elfenbein –, jetzt erst kam sie in Schwung.
»Sie machten mir den Hof, wenn ich nicht zu wenig sage. Sie sind mir nachgereist von einer der Hauptstädte zur anderen, um auf der Opernbühne eine meiner Nuancen nochmals zu sehen. Es war eine leichte Neigung des Knies, wenn ich es denn aussprechen soll.« Fächerschlag.
Phantasie, dachte er, indes ihm nicht geheuer wurde. Daher erfand er selbst; oder, waren seine Angaben nicht grundlos, dann schuf er frei nach den Tatsachen.
»Ich sehe den Badeort« – er streift mit zwei Fingern seine Brauen. »Einer der berühmten jener Zeit. Die Kapelle vor dem Kurhaus. Hohe Lauben der verschlungenen Baumkronen; darunter die Damen in langen Handschuhen, ganz von Sonnenflecken gesprenkelt. Die wolkigen Schleppen ihrer Kleider lagen wohlgeordnet am Boden. Ihre Füße, die sie ausstreckten, erschienen winzig in den hohen Stiefeletten. Sie lehnten mit einer Anmut, die über ihre Person hinausging, in den gemieteten Sesseln aus Eisen. Ihr seidenes Jackett, um die Taille seine schaukelnden Falten! Das Kissen holte ein Verehrer bei der chaisière.«
Die anwesende Vertreterin der verbliebenen Gesellschaft rühmte sie. Die Anmut, die er nur erwähnt hatte, beschwor sie wirklich zurück. »Wir trugen echten Teint. Lippenpomade, die nicht färbte, vielleicht ein wenig Augentusche, mehr war nicht bekannt, außer den Dirnen. Gewiß, Unkeuschheit war keine Ausnahme. Man kann sagen, daß unser häufigster Zustand die Lüsternheit war. Wir verziehen uns, solange wir in der Konvention blieben. Wir glaubten an unsere Reinigung durch den Anstand.«
»Zierliche Haltung. Zweites Rokoko, achtziger Jahre«, dies besann er, den Blick auf dem dunklen Zimmer: Bilder erschienen ihm; seinem gelösten Ausdruck war es anzusehen, wie heiter sie sein mußten.
»Wir Herren gaben uns nicht weniger geziert«, so erinnerte er sich. »Hüfte heraus, Daumen unter der Achsel, beugten wir uns in Anbetung über euch. Unsere Bartcôtelettes kitzelten euren entblößten Busen.« Atemzug. »Aber einen entmenschten Akt wie er mir heute nacht zugemutet wurde, kannte ich nicht«, sprach er mit einer Stimme, die zurück in der Gegenwart war.
Sie verkannte dies. Als es das falscheste war, forderte sie ihn auf, ihr wie einst, den Sessel und das Kissen zu holen. »Au revoir, Madame. Vous manquez d'esprit d'à-propos.« Aber er ging nicht; nur steif und trocken war er, wie vorher. Demgemäß veränderte auch sie sich.
»C'est plutôt votre memoire qui a baisse d'une façon deplorable. Obwohl Sie in derselben Saison der vierte waren, erinnere ich mich, daß auch Sie mich heiraten wollten.« Sie gebrauchte wieder ihre andere Stimme, die ungedeckte.
»Ich war ein Leben lang verheiratet«, sagte er beiläufig. Gewichtiger sprach er: »Was alles Sie da reden, haben Sie nie erlebt. Oder Sie sind tot.« Zynisch, nicht im geringsten verschleiert.
Sie erbleichte davon. Seinen Blick, den ersten, der sie voll traf, ertrug sie nicht. Sie stammelte:
»Tot, so weit gehe ich nicht.«
»Ich dachte es mir« – er war nur noch Geringschätzung. »Wie weit gehen Sie?« erkundigte er sich.
»Bis zur Wiederkehr.« Sie redete schnell und wirr. »Ich hatte eine Tante, das werden Sie mir glauben. Meine Tante war die Lucca: nur den einen Schritt weiter, bitte!«
»Nein«, entschied er.
»Aber dann hat alles keinen Sinn«, jammerte sie. »Mein Herr! Sie wollen nicht glauben, daß die Verstorbene nochmals in mir verkörpert ist. Vernünftigerweise müßten Sie. Aber Sie weigern sich – warum? Wenn nicht aus Eifersucht?«
Jetzt wählte er den offenen Hohn. »Wir konkurrieren nicht. Sie wollen wiedergeboren sein, ich bin nur tot. Nun betrachten Sie gefälligst meine Kleidung! Mein Gesellschaftsanzug hat nicht den neuesten, aber immerhin keinen veralteten Schnitt.«
»Das heißt?« fragte sie, herausfordernd, obwohl geschlagen.
»Sie haben begriffen, was das heißt.« Er blieb ungerührt. »Wären Sie die Dame der siebziger Jahre, die Sie zu Ihrer Tante ernannten, Sie trügen die heutige Mode! In Wirklichkeit tragen Sie von ihr etwas. Ihrer Tante fremd waren seidene Strümpfe.«
Da ergriff sie die Flucht. Es war ein hilfloses Geschöpf, das diesen Wandelgang durcheilte, um nur dem Hause zu entrinnen. Ihre einzige Waffe im Leben – Pauline Lucca noch einmal zu sein – sollte ihr hier geraubt werden. Unerträglich bös und indezent war dieser Griff in ihr Innerstes, niemand hatte das Recht gehabt!
Sie hastete, wie in einem Traum, wo man nicht vom Fleck kommt. Mit ihren kleinen Stiefelchen trat sie, öfter als gut, in ihre Bänder und Rüschen; stolperte, schwankte, stieß einen winzigen Schrei aus, versuchte das Ganze von vorn.
Als die Halle und der Ausgang näher rückten, hatte sie die Hände vor das Gesicht geschlagen und schämte sich, als wäre sie auf offener Promenade bei einem Bedürfnis überrascht worden. Zu viel, es krümmt sich auch der Wurm. Über die Schulter wendete sie das Gesicht nach ihrem unerbittlichen Feind.
»Sie sind gar nicht tot!« rief sie. Oder hatte sie es nur geflüstert, er verstand genau.
Sie war herum, war fort, da betrat er das dunkle Zimmer. Er wußte, daß er nicht tot war.
Die Erkenntnis hatte sich ihm aufgedrängt während dieser nächtlichen Stunde. Von mehreren Seiten hatte sie ihn überfallen und niedergekämpft, gesetzt, er wäre dennoch nicht auf halbem Wege zu ihr und insgeheim auf sie bedacht gewesen. Das Folgende gab er mehr oder weniger zu:
Erstens: ein Revenant, der in gutem Glauben zurückkehrt, verschwindet auf den Schlag ein Uhr. Es hat aber zwei geschlagen. Allerdings gebe ich meinen Gespenstern sogar Mittagsgesellschaften. Nun, ich kenne die Hintergründe. Sie enthalten schonungsbedürftige Stellen. Zuletzt bleibt es dabei, daß Geister mich heimsuchen und ich einer der ihren bin. In meinem Hause bin ich es. Ich hätte hierher nicht kommen dürfen! Ein Gespenst, auf dem Empfang bei der Welt! Schlimm genug, wenn man es glaubt. Aber ein Aufsehen davon machen, ohne es zu glauben, auf diesem Wege wird ein Toter klein. (Er nannte sich, wie er es gewohnt war, tot.)
Hier fand er es geraten, vor die Türöffnung den Vorhang zu legen. Warum mußten so viele überbelichtete Räume hier herein ihren Widerschein werfen. Das Zimmer war nach Minuten kein dunkles mehr. Plump wie niemals, setzte er sich auf einen harten Stuhl, der plötzlich stand, wo keiner gewesen war. Er sprach laut, aus bloßem Interesse für die Akustik des fremden Raumes: »Ich bin verzweifelt.« Als er aber den Klang vernahm, bemerkte er erst, daß er nicht eigentlich verzweifelt war, nur abgeschweift, in beirrende Umstände versetzt. Es ist beschwerlich für einen Toten, nicht mehr tot zu sein.
Glücklicher Zustand, in dem man nichts, was stören würde, zur Kenntnis nimmt! Das Leben, sonst alle seine Nachteile beiseite, die Vorteile auch, hat eine entschiedene Neigung, gegen unsere Würde zu verstoßen. Auftritte wie mit Pauline Lucca laufen einem echten Toten nicht unter, er mag Gift darauf nehmen. Eine Person, die sich weismacht, sie wäre wiedergeboren, und die beschämende Fehler gleich im Anzug begeht – wäre untauglich für geisterhafte Sphären; ihr Beispiel muß warnen, sei man selbst ein langjährig Verblichener. Dabei hatte diese Lucca nur den Ausschlag gegeben.
Als sie sich produzierte, war Balthasar seit einigem als Toter erschüttert, immer angenommen, er habe jederzeit ganz sicher gestanden, überall wenigstens auf so festen Füßen wie in seinem Weinkeller. Sein Empfang bei der Welt hatte ihn als erstes gelehrt, daß ein grand cordon, als das Abzeichen einer vordringlichen Lebendigkeit, jedes Ansehen der Geister bei weitem übermacht mit leerem Gefunkel.
Seine große Dekoration, aus den besten Gründen hatte er sie nie mehr getragen, seit er die Welt verließ: heute verriet sie ihn alsbald an alle, die sie gern gehabt hätten. Unversehens wurde er ihresgleichen; aber das war noch nichts. Den erklärten Bankerott nötigte eine junge Betrügerin ihm ab, als sie ihn bewog, mit ihr zu halten.
Keine andere hatte ihn als Toten so bereitwillig begrüßt. Diese benutzte ihn. Unterstütze meinen Trick, ich helf dir bei deinem! Eine wortlose Verständigung, ich meinesteils habe sie befolgt. Nichts zu erwidern, seitdem bin ich verdächtig, wenn sonst keinem, dann mir. Das ist kein Toter auf dem Empfang der Welt, der eingeht auf ihre Geschicklichkeit, ja, sie übertölpelt, wie sein Orden die anderen schlägt. Obendrein gelang es mir, geisterhaft zu verschwinden!
Der Ewige ist mein Zeuge, daß dies keine Kunstfertigkeit mehr war! Ich hatte aufgegeben, der Sinn stand mir nicht danach, die Welt zu verblüffen, nur, sie alsbald wieder zu verlassen, endgültig diesmal, gleichviel ob lebend oder tot. Der Ewige war durchaus nicht sein Zeuge, was der alte Balthasar sogleich bemerkte. Am Fuße der Treppe, schon weither, meinte er nochmals ein schwaches Kreischen zu hören. Im Dunkeln, für sich allein, schnitt er ein Gesicht. Das doch nicht! Auf keinen Fall wäre er selbst, wie die Ertappte, die übrigens schon morgen wieder ihre eigene Tante sein wird, von dannen gehastet unter Lauten des Entsetzens. Das wußte er bestimmt und hatte den Beweis.
Er wäre nicht geflüchtet, weil noch mehr ihn hier zurückhielt, ihn anzog und verpflichtete, außer seinem eigenen Erfolg als Toter. Schließlich hatte er Erfolg gehabt, wobei jeder sich zuletzt beruhigen wird. Zwischenfälle mit gut geschliffenen Diamanten, mit Glasscherben, denen ein goldener Regen entfallen soll, oder mit vorsichtig imitierten Kostümen von 1870 – werden vergessen. Ohne die genannten Requisiten hätten sie gar nicht stattgefunden.
Geliebt wird unabhängig von umherliegenden Gegenständen, ja, einer Masse störender Fremdlinge zum Trotz wird geliebt. Merkwürdig, auf dem Empfang bei der Welt bleibt ein Toter nicht leicht, was er war; dagegen heimlich Liebende finden das Mittel, sich unerkannt und keusch vor allen Augen zu behaupten. Das habe ich bemerkt, von da an wurde mir, als ob ich lebte. Die übrigen Angelegenheiten laufen nebenher.
Als einziger den sterblich Verliebten hinter ihre Schliche zu kommen, darauf könnte ein nicht mehr Sterblicher sich etwas einbilden. Ich vielmehr habe mich hieran für sterblich erkannt. Wer noch die Liebe ansieht und versteht sie, lebt. Den Tod besiegt die Liebe allein. Wenigstens tut sie es vorläufig, und mit einer, allerdings gründlichen Unterbrechung, die ihm bevorsteht, lebt der gute Tote wieder.
Die Meditation fand statt – wo, hätte der Interessierte nicht sagen können: nahezu schlief er. Die Gedanken, an denen sich spinnen läßt, kommen im Traum, meinte er leichtsinnig, da sein herabgesetztes Bewußtsein ihn der Verantwortung überhob. Er fühlte sich wohl, wäre gern bei dieser Gelegenheit vollends und endgültig eingeschlafen – wurde aber zurückgerufen. Man klopfte an.
Es war sein Enkel André. Gerade er, der wie keiner die Umrisse der Gestalt dort hinten zu unterscheiden vermochte. Ganz so wenig angepaßt wie andere Augen fanden die seinen sich hier nicht. Er selbst hatte das Zimmer verdunkelt, es war sein eigenes. Nachdem Melusine und Tamburini es für ihre lauteren Zwecke verwendet hatten, fand der junge Mann sich veranlaßt, anderen Paaren, die möglichenfalls keines zurückhaltenden Verkehrs gepflogen hätten, die Gelegenheit zu unterbinden. Er tat es mit Ironie und Strenge.
Er ließ die Tür weit offen. Personen mit unreinen Absichten, eine Dame, die, er drückte es so aus, einen Knaben mißbrauchte, oder ein sittenloser Greis, wären genötigt gewesen, sich einzuschließen in tiefer Nacht – der Lichtschalter war unauffindbar. So viel fürchtete André nicht für sein armes Zimmer, wo er noch am Nachmittag das Bildnis Stephanies entworfen und verfehlt hatte. Kam es dennoch vor, dann blieb abzuwarten, wen man überraschte. Der Konservengreis zum Beispiel wäre immun gewesen. Läuft deine Sittenstrenge auf Erpressung hinaus? Dabei hört die Ironie auf.
»Si pùo?« fragte André, wie der »Prolog« in den Pagliacci, auch streckte er nur den Kopf aus dem Vorhang. Balthasar gab Antwort, was ein artiges Publikum vermeidet. Er sagte her, alle Redensarten, die ihm einfielen: »Come mai. Avanti. Niente paura. Stia al buio, e se la goda.« Er war geradezu froh, daß jemand ihn störte. Er verglich damit, daß Störungen ihm sonst, dem Vorsatz nach, immer unerwünscht kamen. Wie lange schon? Wahrscheinlich, seit er tot gewesen.
Sein Enkel empfand die Auffindung des Ahnen geradezu als Glücksfall. Wem anders hätte er sich eröffnen können? Am wenigsten der Interessierten. Aber seine Erlebnisse um ihretwillen sprengten ihm die Brust, sie ängstigten ihn. Er war erfüllt, in einer Art, die ihm bange machte. Zweifel meldeten sich, ob dies sein dürfe. Verlobt man sich, um alsbald einander zu scheuen und zu meiden? Das hatten sie getan, es inständig fortgesetzt, beide, im gegenseitigen Einverständnis. Dies seit dem einzigen Augenblick, als sie das Vertrauen gehabt hatten, sich zu verloben. Gegen die Richtigkeit ihrer Handlung sprach mehreres.
Der Sessel, in dem es geschehen, hatte nachher zu dem gleichen Zweck – bilden wir uns nichts ein, der Zweck ist wesentlich gleich – das Entlein mit dem Jüngling aufgenommen. Schon belastend genug, wenn einer abergläubisch ist. Aber mehr, über ihr Schicksal waren sie einig geworden im Beisein einer Gruppe von Geschäftsleuten, die nicht umhin konnten, sie zu bemerken, und das mit Recht. Die Herren waren von dem jungen Paar nicht nur abgelenkt, auch angeregt, sogar gerührt. Ihre Steuerflucht und jeder Schwindel ihrer Existenz räumten bereitwillig das Feld – vor so viel Echtheit, wie der ironische André nachher erläuterte.
Gut so, die Herren wurden durch uns nicht ordinärer. Wir ließen uns von ihnen nicht abhalten, entrückt zu sein, im Fleisch und in der Seele. Brauchten wir denn die Zeugen? Kaum allein, der Intendant war eingetroffen, wurde uns auf dem Wege besonders befangen. Die Liebe funktionierte nicht mehr! Wir trennten uns, und fürchteten alle die Zeit unsere Nähe.
Geräusch dort hinten im Vorzimmer unterbrach ihn. Gerade der Intendant war es, der ohne Aufsehen das Fest verlassen hätte. Da er nicht zu halten war, gingen andere mit. Der Aufbruch hatte begonnen.
»Wie befinden Sie sich, Großvater?« fragte André.
»Du sagtest sonst Geheimrat und du.«
»Hier ist es so dunkel. Se la goda, meinen Sie. Genießen, was? Ich weiß nicht, wohin ich trete.«
»Auch falsch. Du kennst dein Zimmer. Ich sitze auf einem Schemel, der sich schon mehrmals mit mir rundum gedreht hat.«
»Deine Unruhe muß von innen kommen, Geheimrat Balthasar.«
»Deine eigene Unruhe und daß du mich in diesem Augenblick mit meinem Schemel rundum drehst, zeugt einzig und allein für eine Person namens Stephanie.«
»Falsch, Geheimrat. Erstens, von mir hast du den Namen nicht gehört.«
»Dein Vater Arthur fand Zeit, ihn in den Wind zu rufen.«
»Arthur hat nur eins gerufen: hier ist zu sehen der illustre grand cordon! Er nannte keinen anderen Namen.«
»Melusine, Alice und Nina«, sprach Balthasar gelassen aus. Seinem Enkel verschlug es endlich den Atem.
»Alles soll dein tüchtiger Sohn dir beigebracht haben? Verzeih mir, Geheimrat! Ein Toter kann sich natürlich immer informieren.«
»Ich mußte nicht tot sein«, sagte Balthasar, als käme darauf das wenigste an. André wiederholte ungläubig:
»Du mußtest nicht tot sein?«
»Nicht unbedingt, damit ich, neben anderen Phänomenen, einen mauvais garçon belauschen konnte, wie er seine Genossin illustrierte.«
»Da haben wir's«, meinte André.
»Es handelt sich um ein gestohlenes Armband, das an besonderer Stelle versteckt sein und nur warten soll, bis man es abholt.«
»Wirklich? Das hat Poulailler der armen Nina aufgebunden?«
»Nenne sie nicht arm! Auf das bracelet hofft sie. Ihren Liebhaber hat sie schon im Zimmer.«
»Je n'ai pas un theâtre: j'ai un bordel« – Arthur kann dasselbe sagen wie der Direktor der blonden Nina. »Ich danke dir, Großvater. Deine Geschichte ist interessant. Sie würde mich ganz und gar fesseln, wenn Poulailler mehr wäre als ein harmloser Aufschneider.«
»Für wen sagst du das?« Eindringlich fragte der Alte. Auch ergänzte er seine Gedanken. »Hört Stephanie uns? Soll sie glauben, von dem gestiefelten und gespornten Kater, den ich mir ansah, habest du nichts zu fürchten?«
Hier war zu hören, daß Gäste sich verabschiedeten und aufbrachen. »Stephanie wird, fürchte ich selbst, mit ihrer Mutter das schöne Fest verlassen haben.« Je leiser der Junge wurde, um so fühlbarer empörte er sich. »Nach mir selbst zu urteilen, hatte sie genug!«
»Nein«, belehrte ihn sein Großvater. »Sie ist geblieben.«
»Du weißt auch das?«
»Sie hat zu lange unter dir gelitten. Da dies ein Grund wäre, nach Hause zu gehen, bleibt sie.«
»Großvater, du verstehst heute alles. Sage mir, warum ich annähernd Haß fühle. Vorher war es ganz gewiß, was man Liebe nennt.«
»Das soll es erst werden, mein Lieber. Ich habe euch manövrieren gesehen. Ihr versuchtet beide, euch nie gekannt zu haben.«
»Was ist das, um des Himmels willen?«
»Ich könnte es mit meinem eigenen Abenteuer erklären.« Der Neunzigjährige sprach frisch und launig. »Mich zog ein anderes Paar in seine Angelegenheiten. Es wünschte sich nackt der Öffentlichkeit auszusetzen.«
»Da haben wir's«, wiederholte André. »Das hat uns abgeschreckt. Wortlos hoben wir unsere Verlobung auf.«
»Was du nicht sagst«, scherzte Balthasar. »Ihr verlobtet euch immer fester! Jeder von euch klagte um seine verlorene Freiheit, aber ihr waret wehrlos. Vor Zeiten kannte ich eine gewisse Melusine«, erinnerte er sich plötzlich.
»Wie! Ihre Mutter hat dich gekannt?« Als ob André gesagt hätte: Dann ist sie wirklich eine alte Frau.
»Siehst du? Eine Sorge weniger.« Balthasar brachte dies nicht ganz zu Ende; der Schemel drehte sich mit ihm rundum. »Und ich wollte dich nur auf die Schulter klopfen«, erklärte er, um zu entschuldigen, den Schemel oder einen, der ihn gedreht hatte.
»Du bist nachsichtig wie je, mein verehrter Geheimrat!« André äußerte ehrliche Freude. »Mein Zeichenschemel dreht sich auch mit mir, er kennt es nicht anders. Ich hätte dir höchstens den Schlafdiwan anzubieten.«
»Nicht liegen! Dafür ist die Ewigkeit lang genug.«
»Um so besser, wenn du noch einen Augenblick die irdischen Dinge, zum Beispiel meine, betrachtest. Denke dir, daß die Mutter mich schon längst betrauert. Was kann ich von ihr weiter gewollt haben, aber noch in später Nacht hielt ich mich mit ihr auf. Großvater, um des Himmels willen, was tat währenddessen die Tochter?«
»Sei glücklich, sie weinte.«
»Unmöglich! Ich verdiente, mich umzubringen.«
»Verstelle dich nicht, du mäßig großes Scheusal! Gleich nachher hast du ihren Tisch aufgesucht, dich an ihren geröteten Augen zu ergötzen.«
»Mehrere Personen trennten uns. Wir saßen abgewendet. Beide redeten wir über dich, Geheimrat. Um einer den anderen ins Unrecht zu setzen, sprach jeder seinen eigenen Unsinn.«
»Du hast mich verraten, nur um dir Haltung zu geben. Die Liebe lockert die Bedenken, wie man sieht, macht sie hochherzig.«
»Bis jetzt, alter Mann, hast du mich ausgelacht, und nichts erklärt.« André zeigte einen Ernst, der schon Strenge war. Der Schemel hätte sich, von wessen Hand diesmal, rundum gedreht, André hielt ihn fest. Mit einem Seufzer ergab sich der Neunzigjährige in das Stillhalten und die verlangte Würde.
»Ich erinnere mich, als ob es ein halbes Jahrhundert wäre«, begann er. »Meine Art zu lieben, war nur in der Hingabe reich, und alles in allem eine gloriose Verlegenheit.«
»Du, Geheimrat, hättest dich hingegeben? Niemand sähe es dir an.«
»Sogleich und ganz. Eines Tages warf jede Frau es mir vor. Das fürchtete ich vor Beginn und zögerte unter dem Mantel der Gleichgültigkeit.«
»Hallo!« machte der Junge.
»Du scheinst dich wiederzuerkennen. Allerdings habe ich meinen Nachfolger weder geschäftlich noch anders, in meinem Sohn Arthur gefunden. Vielleicht in dir?«
Neunzigjährige, dachte André, haben es nicht schwer, tief zu sein. Was sie berichten, ist versunken. Er horchte gespannt.
»Überlege ich es genau«, berichtete der Alte, »war ich bequem und das Gegenteil von Wagehals. Gerade darum geriet ich mehr als einmal an die Rechte, die mich das Beten lehrte. Weißt du, daß sie mich auch ruiniert hätten?« fragte er in einer beträchtlich höheren Stimmlage. »Sie konnten nur nicht, der Staat überschüttete mich mit zu viel Geld.«
»Arthur hätte sich von ihnen niemals ruinieren lassen«, erinnerte der Enkel.
»Der nicht, aber du.«
»Glücklicherweise entfällt die Frage. Ich habe nichts und soll nichts haben. Übrigens verzichten wir, darin sind wir einig.«
»Du und Stephanie? Bilde es dir meinetwegen ein. Eine Frau wird immer wissen, wohin mit dem Geld. Ich zu meiner Zeit erfuhr dies erst, als es weg war. Deine Verlobte will auch an Liebe nicht sparen, am Leben ganz und gar nicht. Die Furcht, dich einzulassen und hinzugeben, ist auf deiner Seite allein.«
»Jedenfalls waren wir dahin verabredet« – André veränderte den Ton, »wenig zu arbeiten und den Kampf um die Existenz entschieden nicht mehr mitzumachen.«
Es war das erste hart gesprochene Wort des Jungen. Der Alte hörte, wiegte den Kopf und sagte ja.
»Wenn ich meinen tüchtigen Sohn ansehe, muß ich ja sagen«, erklärte er. »Von seinem Vertrauen auf jeden Erfolg hast du wieder zu wenig. Ich möchte wetten, deine Braut kennst du noch gar nicht.«
»Allerdings haben wir einander nie besessen, wenn du dies meinst, freundlicher Greis.«
»Ich bin noch freundlicher.« Keine Ironie. Balthasar sprach still. Eine Feierlichkeit, nicht gestellt, geheim vielmehr, wird sonst wenig an ihm wahrgenommen. Er sagt aber:
»Der Tag ist nicht fern, da betretet ihr beiden mein Haus, die Treppe, die du als Kind liefest, sie aber erstieg sie nie. Führe sie recht!«
Nur die Treppe? Natürlich weiter. Aber warum der getragene Ton? Man erwartet einen Schauder im Rücken. Da ist er.
»Ihr erreicht die Säulenhalle, wo ich euch empfangen hätte. Nur bin ich abwesend.«
»Wenn du« – unsichere Stimme des Enkels – »abwesend bist, Großvater, kehren wir um.«
»Ihr werdet dableiben – und zu Hause sein. Nutzet den Tag! Vielleicht käme keiner mehr, an dem ihr einander in Besitz nähmet.« »Das ist eine verantwortungsvolle Handlung, Großvater.«
»So meine ich es auch. Versprochen?«
»Versprochen. Gehen wir jetzt schlafen, guter Balthasar?«
»Du nicht. Der gute Balthasar hat seine halbe Lebenszeit verschlafen. Sein Tod wird wenig ändern.«
»Du redest heute ungewöhnlich.« André denkt: nicht recht geheuer. Er fürchtet für den Alten, der sonst in seiner Weise gesichert schien, aber das ist er nicht mehr.
Sein Großvater erhebt gerade jetzt den Finger, erstens, damit der Enkel schweigen möge, sodann, um ihm hinter der Tür einen Umriß zu zeigen. Ein Schatten fließt geräuschlos über den seidenen Vorhang. Wird anhalten? Die Hand ausstrecken? Fließt vorbei.
André ist sinnlos erschrocken. »Großvater, sie geht vorbei«, stammelt er.
»Aber sie weiß, daß du hier bist. Mit ihrer Mutter nach Haus gegangen, hast du das geglaubt?«
»Nein«, antwortet der Junge, obwohl es vorher nicht unmöglich war. Erst seit seinem Gespräch mit dem Alten ist es die unfaßbare Katastrophe und darf nicht stattfinden. Sie hat gewußt, wo ich bin! Er findet mehreres gleichzeitig. Was hier gesprochen wurde, sie kennt jedes Wort! Abschied ist von ihr nicht gemeint, sondern ein Stelldichein. Diesmal sind wir verabredet. Für den Alten sprach er: »Ich hätte sie hereinrufen sollen. Verzeih mir, noch immer ist sie dir unbekannt.«
»Mir? Meine Erbin?« Balthasar verläßt seinen Sitz, die Szene ist beendet. »Ich habe mich entschlossen, meinen Weinkeller nicht dir, sondern ihr zu hinterlassen. Morgen, eigentlich heute, bestelle ich den Notar.«
Draußen erlaubt er dem Jungen nicht lange, ihn zu begleiten; winkt ihm zu und verschwindet, diesmal im Ernst.
Er wird nicht gesehen, weil niemand mehr da ist, um von ihm Kenntnis zu nehmen. Die gelichtete Gesellschaft versucht, in den inneren Räumen sich nochmals festzusetzen, ohne Hoffnung auf Dauer. André nimmt einen leeren Tisch und wartet.