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Der Kokila.

Unweit des heiligen Gangesstromes, auf einer niederen Anhöhe, stand eine kleine Hütte. Sie lag versteckt im Schatten hoher, mächtiger Palmen, die ihre Kronen zum wolkenlosen, azurblauen Himmel emporstreckten. Gleich ungeheuren, riesengroßen Fächern schwebten die saftig grünen Blätter über der Hütte, sie hielten die heiße, tropische Sonnenglut fern, wie sie der Hütte auch Schutz gegen die Regenfluten des Winters gewährten. Zwischen den Palmen standen mit schneeigen Blüten übersäte Ambrabäume, sie glichen mächtigen Riesenblumensträußen, und der Weg zur Hütte war mit mannigfaltigem, zum Teil in buntfarbiger Blütenpracht prangendem Gebüsch umhegt.

Ein alter Schäfer lebte mit seinem Enkelsohne Sambora in dieser Hütte. Der junge Inder saß, die zahlreiche Schafherde seines Großvaters hütend, unter einem Ambrabaum. Von dieser Stelle genoß der Jüngling einen herrlichen Ausblick über den leise dahinflutenden Strom, und die aus weiter Ferne herüberleuchtenden, in geheimnisvollem Glanze schimmernden Schneeberge, und Sehnsucht, heiße Sehnsucht, jene fremde, ferne Welt kennen zu lernen, beschlich des Jünglings Herz.

So im Anschauen versunken, saß er eines Tages, als plötzlich ein eigenartig süßer Ton durch die feierliche Stille schwebte. Sambora erhob sein Antlitz und schaute sich verwundert um.

Was hatte er vernommen? Welch ein süßer Klang war an sein lauschend Ohr gedrungen? Da wiederholte sich der Schall leise, zart und fein, und zugleich war es Sambora, als flattere ein kleines, graues Vöglein aus dem Gezweig des Ambrabaumes. Hoch und höher erhob es sich in die sonnendurchleuchtete Luft. Nun blieb alles still, und dem Jüngling war es, als habe noch niemals dieselbe Schweigsamkeit über der üppig blühenden Heimatflur gelastet.

Schmerz und Sehnsucht erfaßten sein Gemüt, und heiße, bittere Tränen rollten über seine dunkelgebräunten Wangen.

Tief in seinen Kummer versunken, bemerkte Sambora nicht, wie sich die hohen Bambusbüsche am Stromufer bewegten und eine zierliche Nymphe daraus hervorschlüpfte. Sie sah den Weinenden, und von innigstem Mitleid getrieben, eilte sie auf ihn zu.

»Was weinst du, lieber Knabe? Ist dir ein Unheil begegnet?«

»Ach nichts – du vermagst mir nicht zu helfen!« erwiderte, seinen Tränen freien Lauf lassend, der junge Hirt.

»Vielleicht doch! Vertraue mir deinen Kummer!«

»Ach, ich sehne mich krank nach einem süßen Klang, der vorhin mein lauschend Ohr getroffen!« Die Nymphe lächelte.

»Weißt du, woher der Klang kam?«

»Nein!« erwiderte Sambora schluchzend.

»Aber ich weiß es!« frohlockte die Nymphe. »Der Kokila ist vorübergeflogen, er hielt Rast auf den Zweigen des Ambrabaumes.«

»Wer ist der Kokila?« fragte der Hirt aufblickend.

»Das ist der Vogel der Satschi, ein Bote des Garuda Garuda ist der Gott der Vögel., der die Gemahlin des hehren Indra durch seinen Zaubergesang aufheitern muß. Alle hundert Jahre fliegt der Kokila nach dem höchsten Bergesgipfel des Himalajagebirges, dem Kailàsa. Dort wetzt er sich sein Schnäblein, das vom vielen Singen abgenutzt und stumpf geworden ist und nicht mehr jene feinen, zarten Töne hervorbringen kann, die das Herz der holden Satschi erfreuen. Auf seiner Reise muß der Kokila hier den Gangesstrom überfliegen. Ermüdet von der Anstrengung, hat er auf diesem Ambrabaum gerastet.«

Das Antlitz des Jünglings, das sich bei der Erzählung mehr und mehr verdüsterte, beschattete tiefe Trauer.

»So soll ich die süßen Töne nie mehr vernehmen?« schluchzte er auf.

»Nein, niemals; denn des Menschen Leben währet nur kurze Zeit, er blüht und stirbt, wie eine Blume auf dem Felde – bald ist sein Dasein verweht! Erst in hundert Jahren kehrt der Vogel wieder.«

Je länger die Nymphe sprach, desto heftiger weinte Sambora. Sein tiefer Schmerz weckte das Mitleid der Lieblichen, und sie sann nach, wie sie des Knaben Leid in Freuden kehren möchte.

Plötzlich flog ein heller Schein über ihr Gesichtchen, und sie flüsterte:

»Weine nicht länger, ich helfe dir! Täglich, stündlich sollst du den süßen Ton vernehmen, ja noch mehr, du selbst –«

»Ich, ach rede – sprich! Was willst du tun?«

»Warte, vertrau' mir, bald bin ich wieder bei dir,« tröstete die Nymphe und verschwand so schnell, wie sie gekommen, im Bambusgesträuch.

In trübe Gedanken versunken, schaute ihr Sambora nach; hatte er ihre letzten Worte richtig verstanden? Er sollte den süßen Klängen noch einmal – nein, nein, immer sollte er ihnen lauschen dürfen! Konnte das wirklich sein?

Da – aus dem Bambusgesträuch schallte es leise – leise und zart. Wirklich – war dort das Vöglein noch verborgen? Sambora stürzte, um seine Zweifel zu heben, nach dem Gebüsch am Uferrand.

Da teilten sich die Zweige, und die kleine Nymphe stand wieder vor dem Ueberraschten. In der hochgehobenen Hand hielt sie ein kleines »Etwas«, das sie jetzt mit zierlicher Gebärde an ihre schwellenden Lippen führte.

»Du – du? Der Vogel! Der Vogel!«

Die Nymphe lächelte und reichte dem Knaben ein ausgehöhltes Bambuszweiglein dar, dessen Röhre zwei Einschnitte, einen breiten und einen kreisrunden, zeigte.

»Das da!« murmelte Sambora verstört und erstaunt. »Du willst meiner spotten!«

»Nimm es hin,« erwiderte sie liebreich lächelnd. »Führe das Stäbchen an deine Lippen!«

Sambora tat, wie ihm geheißen. – Ton reihte sich an Ton, und süßer Vogelschlag erklang, täuschend nachgeahmt, an des Knaben Ohr.

»Das soll mein sein? Wie soll ich dir danken, himmlische Göttin?« flüsterte er, in Seligkeit erstrahlend.

»Nimm die kleine Flöte und erfreue mit deinem Spiel die Menschenkinder, so wie der Sang des Kokila die unsterblichen Götter erfreut!« lispelte die Nymphe; dann verschwand sie zwischen den hochstrebenden Bambuszweigen.

Das kleine, ausgehöhlte Bambusrohr ist im Laufe der Zeiten vervollkommnet worden, aber noch heute klingt es uns wie ein Vogelschlag, sobald der süße Klang einer Flöte unser Ohr trifft. –


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