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Fünfzehntes Kapitel.
Ihr Bild.

Nur das Reine ist schön.

 

Wenn Ilse in die Ferien kam, pflegte Justizrat Lucius den Nachmittagstee im Zimmer seiner verstorbenen Frau zu trinken. War er allein, so nahm er ihn in seiner Arbeitsstube am Schreibtisch ein. Der verödete Raum stimmte ihn zu traurig. Überall fehlte die liebe Hand, die so leise und fein in dem alten Hause gewaltet. Aber beim Anblick der Nichte erwachte die Erinnerung. Sie trug nicht nur den Namen der Tante, sie hatte auch große Ähnlichkeit mit ihr. In der ganzen Erscheinung wie im Wesen. Fremde hatten die beiden immer für Mutter und Tochter gehalten. Dem Vereinsamten aber war's, als träte seine Ilse als junge Frau bei ihm ein und betreute ihn in ihrer anmutigen hausmütterlichen Art. Ihren leichten Schritt meinte er zu hören, jede Bewegung, jeder Blick erinnerte ihn an die Tote. Wenn er in dem schönen traulichen Raum saß und die Vergangenheit mit ihren Blumen und Liedern heraufstieg, wenn der Glanz des scheidenden Tages die schlanke Gestalt umspielte und die blühende Jugend ihn töchterlich umgab, dann feierte er still Allerseelen. Mit dem Glockenschlag vier mußte alles bereit sein. In dem breiten altmodischen Lehnstuhl saß der Mann mit dem feinen Gelehrtenkopf und sah lächelnd dem jungen Mädchen zu, wie es ihm den Tee eingoß und das Brot strich. Dann seufzte er wohl heimlich darüber, daß seine Ehe kinderlos geblieben. Nicht halb so einsam würde sein Leben dahinfließen, wenn Ilse seine Tochter wäre. Wie genoß er die paar Sommerwochen und Weihnachten und Ostern! Er hatte sie gebeten, ganz bei ihm zu bleiben, aber sie hatte sich nicht dazu entschließen können, nach allem, was vorgefallen war, mit Hermanns Eltern an einem Ort zu leben. Auch fesselte ihr Musikstudium sie einige Jahre an Leipzig. Es war ihr schwer geworden, ihm die Bitte abzuschlagen. Einen treueren Vormund und Berater gab's nicht. Soviel sie konnte, suchte sie ihn durch häufige längere Besuche zu entschädigen, aber jedesmal, wenn die Zeit um war, fühlte sie's, daß er sich zu neuem Kampf mit Einsamkeit und Vermissen rüstete. Das alte Mädchen, das seit zwanzig Jahren im Hause war, versorgte ihn mit rührender Treue; mehr durfte man von der guten Seele nicht verlangen. Und Ilse dachte: ›Es gibt doch nichts Traurigeres als verwitwete Männer! Frauen sind lange nicht so hilflos, wenn sie auch ebenso schwer an ihrem Verlust tragen.‹

Sie stand am Fenster und ordnete Frühlingsblumen in einem violetten Kristallglase. Zart und duftig standen sie in dem feinen Kelch. Keines drängte das andere, jedes Blättchen kam zur Geltung. Ilse konnte es nicht leiden, wenn man Blumen so einpferchte. Sie wollten doch auch leben und sich entfalten. Und nachdem sie das zierliche Sträußchen von allen Seiten gemustert, setzte sie es auf den Teetisch.

Wo der Onkel nur blieb? Sie sah zur Uhr. Er war gleich nach Tisch ausgegangen und wollte um vier zurück sein. Heute morgen hatte er davon gesprochen, Frau von Mandel zu besuchen. Asta war dauernd krank, und es wurde allerlei gemunkelt. Ilse hatte das größte Mitleid mit der armen jungen Witwe, aber ihre Mutter hätte sie hassen können. Obgleich sie sich sagen mußte, was Asta fehlte, hatte sie die Verlobung ihrer Tochter Olga mit dem jüngeren Freiland, der sich ebenso wie sein verstorbener Bruder keines sonderlich guten Rufes erfreute, ohne weiteres zugegeben. Wie war's möglich, daß dieses Scheuklappentum immer noch in voller Blüte stand, während die Jugend von heute vielfach in wenig erfreulicher Weise ins Gegenteil verfiel?

Sie trat an den Bechsteinflügel. Der Onkel hatte sie gebeten, ihm abends Chopin vorzuspielen.

Gedankenverloren blätterte sie in den Noten.

Sie liebte Chopin sehr. Das Wesen seiner klassisch schönen Kunst mit ihrer aufjauchzenden Leidenschaft und tiefen Schwermut entsprach so ganz ihrem wechselvollen Leben, daß sie sich immer wieder eins fühlte mit seiner Musik. Ob ein feenhafter Reigen durch schimmernde Säle schwebte oder der schwere Auftakt des Trauermarsches die Totenklage am offenen Grabe anstimmte – Chopin blieb sich immer treu.

Sie öffnete den Flügel. Unter ihren Künstlerhänden lebte das Nachtstück. Wie ein Sang von vergessenen deutschen Wäldern und verlorenen Kirchen perlten die feierlichen Töne, als habe die Not der Heimat sie geweckt. Und doch waren sie zu anderen Zeiten geboren. Aber es gibt Klänge, die nicht sterben, die immer wieder mitschwingen in der Menschheit Erleben, wie die ewige Sprache der Glocken.

Schon mehrmals hatte das silberne Viertelstundenspiel im alten Gehäuse der Standuhr seinen hellen eiligen Ton mit dem ernsten getragenen gemischt.

Sie merkte es nicht. Die Musik war ihre Welt. Ihr eigenes fest umgrenztes Reich. Wenn das Leben sie erdrückte, flüchtete sie sich zur Kunst. Sie heilte zwar ihre Wunden nicht, aber sie war ihr eine linde holdselige Trösterin, die mit leiser Hand Sorgen und Kümmernisse verscheuchte.

Chopins Meisterschöpfung war verklungen. Auf den Tasten ruhten die Hände, als könnten sie sich nicht trennen.

Über der Mädchengestalt lag's wie Schatten und Traum. Das ernste Gesicht spiegelte das Leben einer Seele wieder, die seit Jahren durch Nacht und Dämmerung wanderte.

Auf dem Flügel flimmerte die Nachmittagssonne, ein abgegriffenes Notenblatt vergoldend. Die Augen des Mädchens gingen fragend darüber hin. Der Onkel entdeckte fast jeden Tag ein Stück, das die Verstorbene gespielt. Stillschweigend legte er's der Nichte auf den Flügel. Wenn dann die Dämmerung kam, setzte er sich auf seinen Platz am Kamin und hörte ihrem Spiel zu. Erinnerungen erwachten. Die Seele sang ein leises Requiem.

Ilse Stürmer nahm das Blatt und übersah den Inhalt. Es war ein altes Passionslied, von einem unbekannten Künstler vertont. Die Überschrift lautete: »Vom Leiden Christi, die geistliche Farb' gemeint.«

Nach einem schlichten Vorspiel setzte die schöne Altstimme ein:

»In Schwarz will ich mich kleiden,
Mein Jesu, dir zur Ehr',
Dein bitter Marter und Leiden
Mein Herz betrübet sehr.
Von wegen unsrer Sünden
Leidest du sehr großen Schmerz:
Wer das nicht tut empfinden,
Der hat ein steinern Herz!«

Es war eines jener unmittelbaren seelenvollen Volkslieder des fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhunderts, wie sie in der Musik des Altmeisters zum Ausdruck kommen.

Ergriffen blickte das junge Mädchen auf den Text. Selten war sie solcher Innigkeit und Zartheit des Empfindens begegnet. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, vor ihrem Geiste türmte sich die Last der Schuld, die der Heiland getragen und – noch trug. Auch sie hatte teil daran. Ob sie auch in den Augen der Welt keine eigentliche Sünde tat, das Gewissen urteilte anders. Die leiseste Regung schweifender Sinne, den kaum gedachten Gedanken, Zweifel und Halbheit, Mangel an innerer Zucht – sie alle nannte es bei Namen. Und die streitende Seele stand mitten in der Fackelhelle des Gerichtshofs und erkannte die eigene Schuld aus Tausenden. Wie ein Gewappneter drang das Leben auf sie ein. Die harte Not der Zeit, der Jammer der Heimat, der eigene stillgetragene Schmerz wollten ihr den Blick in die Zukunft trüben, und das Herz, das mit allen Fasern in der Überwelt wurzelte, erschauerte vor den Härten des Weges.

Auf den Noten lag der blonde Kopf, heißes Schluchzen erschütterte den Körper, als hätte sich der Jammer von Wochen und Monden gehäuft und sprengte Riegel und Schloß.

Dann war's plötzlich still. Der Wille erwachte. Sie raffte ihre Kraft zusammen und trocknete eilig die Tränen. Der Onkel konnte jeden Augenblick kommen.

Da klang ein Geräusch vom Nebenzimmer her. Der Vorhang bewegte sich.

Hastig fuhr sie mit dem Taschentuch über die Augen. Ohne aufzusehen, erhob sie sich, tat ein paar Schritte ins Zimmer und beugte sich über den Teetisch. Wenn der Onkel erst saß, würde er nichts merken, weil sie mit dem Rücken gegen das Licht stand.

Sie setzte die Tasse auf den Platz des alten Herrn, strich sein Brot und rückte den Strauß zurecht.

Aber warum kam er nicht?

Sie sah zur Tür.

Im selben Augenblick klirrte der Teetisch. Leichenblaß starrte sie auf den Mann im Türrahmen, der den ernsten Blick unverwandt auf sie richtete.

Träumte sie? Hatten die Töne ihre Sinne verwirrt, daß sie wachend das Antlitz des Totgeglaubten schaute? War er's? War er's nicht?

Gott sei's tausendmal gedankt, er war's!

Und was sie in tiefster Seele erbeben ließ, war nicht der letzte zerrinnende Zweifel, es war das frohe herzstärkende Bewußtsein: Das ward aus ihm – der da vor dir steht, bietet dir nichts Halbes, Unreifes, Unklares, er bietet dir die Liebe eines freien reinen Mannes! Nicht die Hochzeitsgabe des verlebten, durch geschlechtliche Irrwege Erfahrenen – was Hermann Wächter heimbringt, ist die blinkende Antwort auf die tiefste letzte Frage des Weibes nach der Gesundheit des Blutes, die Antwort auf die Forderung der Muttersehnsucht.

Mit staunender Freude las sie in seinen Zügen. Es war ihr, als sei dies Antlitz durchsichtig, als schaue sie durch einen Schleier seiner Jahre Erleben. Nicht das sorglose Genießen eines Satten – eines streitbaren Mannes Werdegang. Das war's, was sie mit dem feinen Empfinden des Weibes spürte, was sie innerlich aufjauchzen ließ. Selten war sie Augen begegnet, die so die Seele wiederspiegelten. Bis auf den Grund schaute sie, wo die Krone ihrer Freude schimmerte: das Allerheiligste, der Born, dessen Wasser den Kämpfer gestählt.

Auf ihren Zügen lag stille Ehrfurcht. Was wäre das Leben ohne Ewigkeitsglanz? –

Eines Augenblickes Länge umschloß Wandern und Rast, Schauen und Fragen – – –

Drüben in dem ernsten Gesicht arbeitete es. Die Spannung löste sich. Der letzte heimliche Zweifel kämpfte mit Mannesstolz und langverhaltener Liebe.

Sie sah, wie seine Lippen sich öffneten und wieder schlossen, wie die brennenden Augen an ihrem Munde hingen. Und das Ahnen des jungen Weibes ward Wissen: er wartet auf dich! heute gilt's nicht das Werben des Mannes, heute gilt's Frauenliebe, die in Treuen ein heißumstrittenes Glück bewahrt!

Sie trat auf den Heimgekehrten zu, schlang die Arme um seinen Hals und legte das Haupt an seine Brust.

Seine Hand strich über ihr schimmerndes Haar. Aber die Lippen verschloß ihm das Glück.

Da richtete sie sich auf und blickte ihn strahlend an: »Endlich, endlich!«

Er küßte sie. »Still, nicht sprechen!«

Sie schwieg. Er hatte recht. Das Wort war zu arm für die Stunde. Aber später wollt' sie's ihm sagen, wie heiß sie um seine Heimkehr gebetet.

Unverwandt blickte Hermann Wächter auf sie nieder, als könnt' er sich nicht sattsehen an dem lieblichen Gesicht. Seit Jahren hatte er sich diesen Augenblick ausgemalt, hoffend, zagend, zweifelnd. Und je ferner er rückte, um so schwerer dünkte er ihn. Ja, es kamen Zeiten, wo er ihn fürchtete. Bis heute. Bis ein Mann, hoch in Ehren stehend, ihm die Freundeshand reichte und ihm das Beste versprach, was er besaß. Aber trotzdem: das letzte Wort gehörte einer anderen. Wenn der Vormund irrte? Wenn sie bösen Zungen geglaubt, die ihm Namen und Ehre verunglimpft, wenn sie das Vertrauen zu dem Heimatlosen verlor, dem Tagedieb, der es zu nichts brachte? Sie wußte ja nichts von ihm, gar nichts!

In Zweifel und Hoffen rinnen die Stunden.

Dann steht er vor ihr.

Sie ahnt nichts von seiner Heimkehr. Der erste Blick sagt es ihm. Aber der alte Lucius behält recht. Wohl ruht ihr Auge forschend und fragend auf dem Heimgekehrten, aber ohne Zweifel und Mißtrauen. Ob sie sich sagt, daß er die Prüfung vor den scharfen Greisenaugen bestanden? Mag es sein, wie es will, sie hat auf ihn gewartet, hat andere abgewiesen, wieder, immer wieder!

Und nun tritt die Treue auf den Wandermüden zu, ohne danach zu fragen, ob Dorn und Dickicht ihm draußen das Kleid zerrissen. Kein Forschen nach der Vergangenheit, kein Zweifel an seiner Mannesehre, keine Scheu vor dem jahrelang getragenen Makel – nichts von alledem! In ihrer reinen Schönheit naht ihm deutsche Frauenliebe und bringt ihm, was sie ihm im Glück geschenkt und im Leid bewahrt: sich selbst.

Durchsichtig wie eine Sommernacht grüßt ihn der Liebsten Bild.

Das Herz will ihm vor Glück zerspringen. Jubelnd zieht er sie an sich: »Ilse, meine Ilse!«

Dann ist alles still.

Auf der Schwelle steht ein Greis und schaut mit klaren Augen auf die beiden Menschen, als feiere er das Frühlingsfest der eigenen längst verklungenen Jugend. –

*

Wochen vergingen. In der Not der Zeit glichen sie ein paar Sturmtagen. Aber die stille, abseits gelegene Stadt gehörte zu den wenigen, die den deutschen Aufruhr nicht von Angesicht schauten. Wohl ging die Not mit ehernem Schritt durch die Straßen, aber der bluttriefende Haß zog an den Toren vorüber, als lohne sich drinnen die Arbeit nicht. –

Hermann Wächter sehnte sich nach den langen schweren Jahren der Entbehrung nach eigenem Herd und der Liebe und Fürsorge einer Frau. Worauf sollten die zwei auch warten? Daß sie klein, ganz klein anfangen mußten, lehrte sie stündlich die rauhe Wirklichkeit. So wunderte sich keiner, als das Luciussche Haus eines Morgens im Festschmuck prangte und ein Hochzeitszug sich der kleinen Vorortkirche näherte.

Der blaue wundervolle Tag stand leuchtend über den Bergen. Leicht beschwingte weiße Wolkenzüge schwebten vorüber. Mit den blühenden Büschen spielte der Sommerwind, und der Brautschleier wehte. Wie ein Bild aus frohen Tagen zogen die Paare dem Gotteshause zu. Blumenstreuende Kinder gingen voran. Die Lindeschen Zwillinge trugen Ilses Schleppe. Den schönen Kopf gesenkt, stützte sie sich leicht auf den Arm des Vormunds.

Hinter den beiden führte Juliane Wächter den Sohn. Sie hatte die Trauer nicht abgelegt, nur ein weißer Chrysanthemenstrauß gab den schwarzen Spitzen ein festlicheres Gepräge. Ihr Gesichtsausdruck war sehr ernst. Aber Näherstehenden entging die Veränderung ihres Wesens nicht. Sie schien ruhiger, zufriedener. Oder war's der Ehrentag ihres Ältesten, der die trüben Stimmungen verscheuchte?

Ihr Schwager Konstantin, der sich viel auf seine Menschenkenntnis zugute tat, sprach nach dem Hochzeitsmahl mit Linde über ihr gutes Aussehen.

»Hand aufs Herz, Herr Professor, das ist Ihr Verdienst! Oder hat der Junge die Mutter behext? Ich war einfach sprachlos, als ich vor einigen Tagen von einer Reise heimkehrte und diese Veränderung sah. Hermann lehnt ja alles ab. Das hätten Sie fertig gebracht!«

»Von Verdienst ist keine Rede, Exzellenz! Vorläufig dürfen wir überhaupt nicht vergessen, daß Ihre Frau Schwägerin eine Kranke ist. Aber es ist allerdings ein großer Erfolg zu verzeichnen, mit dem ich nicht zu rechnen wagte: sie geht übermorgen nach Buchenau.«

»In die Trinkerheilanstalt? Zu Seidenweber? Das ist ja großartig!«

Der Arzt sah sich um. Aber niemand hatte die Worte gehört.

»Darf ich bitten, Frau Wächter gegenüber den Ausdruck »Trinkerheilanstalt« zu vermeiden, Exzellenz? Es kann alles dadurch in die Brüche gehen!« sagte er halblaut.

»Gerne. Wie soll ich denn sagen? Kuranstalt? Na ja, schließlich kommt alles auf dasselbe raus, man weiß ja doch, daß man sich bei Seidenweber den Suff abgewöhnen soll! Wenn sich's um mich handelte, könnten die Leute sagen, was sie wollten, aber Sie haben ganz recht, man muß mit den Eigentümlichkeiten der Menschen rechnen!« Sein Blick ging über Julianes Gestalt. »Daß Sie sie dazu gebracht haben, Herr Professor – alle Achtung!«

»Ich kann nur wiederholen, Exzellenz, daß mein Verdienst an der Sache sehr gering ist. Die plötzliche Erkenntnis körperlichen und seelischen Bankerotts und der in letzter Zeit und besonders bei Hermanns Rückkehr in geradezu erschreckender Weise zutage tretende sittliche Verfall haben, wie's scheint, den Umschwung herbeigeführt. Ich habe mich bei dem weit vorgeschrittenen Krankheitsprozeß selbst gewundert, daß die Kraft dieser Erkenntnis noch vorhanden war. Es hätte ja längst etwas geschehen müssen, aber mit Trautmann ist im Punkt Alkohol nichts anzufangen. Ich habe ihm verschiedentlich gesagt, man müsse Frau Wächter im Auge behalten!« Er zuckte die Achseln.

»Ja, ich weiß. Für dies Kapitel sind wir nicht zu haben. Es ist immer eine mißliche Sache, wenn der behandelnde Arzt selber den Alkohol liebt, andererseits kann man doch nicht verlangen, daß sie alle abstinent sind.«

»Man kann von jedem studierten Mann verlangen, daß er einen gefährlichen Giftstoff kennt und seine Kranken vor falschem Gebrauch bewahrt – zum mindesten warnt,« sagte Siegfried Linde nicht ohne Schärfe.

*

Das junge Paar war abgereist. Sang- und klanglos ging der Tag zur Neige. Der letzte Gast hatte das Haus verlassen. In den hellen Räumen lag der Duft des Festes, Blumen blühten in funkelnden Kristallschalen, auf den goldgelben, mit wasserblauer Seide bezogenen Ahornmöbeln des Empfangsraumes spielte die späte Sonne.

Malerische Unordnung herrschte. Kein Stuhl stand auf seinem Platz. Man spürte es, in dem stillen Hause war ein Fest gefeiert worden. Menschen waren aus- und eingegangen. Sie hatten nicht getanzt und gespielt. Kein Reigen hatte die schöne Braut in den Festsaal geleitet. Es war still hergegangen auf Ilse Stürmers Hochzeit. Denn die drinnen das Wort hatten, gehörten nicht zu denen, die mit Spiel und Tanz das deutsche Leben zu Grabe trugen. Aber die Einsamkeit war für ein paar Stunden verscheucht worden und das Glück hatte mit all seiner Schönheit in den hohen Räumen geweilt.

Dann war's wieder gegangen. Mit warmem Dank und Händedruck. Mit treuen Wünschen für den Zurückbleibenden. Mit all den freundlichen Worten, die es in festlichen Stunden einem Verlassenen zu sagen weiß.

Und die Einsamkeit kehrte zurück und trat zu dem alten Mann an das verglimmende Feuer. Den weißen Kopf in die Hand gestützt, ließ er die Vergangenheit vorüberziehen.

In den weit geöffneten Fenstern standen die Wunder des Abends und vergoldeten das Bild der Frau, die ihm Liebste, Gattin und Mutter gewesen.

Dann starb der Tag.

Die Farben verblaßten.

Blatt um Blatt fiel aus den Rosen der Hochzeitskränze. Wie ein Opfer verglühte die purpurne Pracht. –


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