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Der Tauwind singt, die Berge blühen,
Und wieder wird die Erde jung –
Durch meine Seele geht ein Klingen:
Erinnerung!
Bekränzte Tage kehren wieder
Und schauen talwärts hold und still –
Im Morgenglanz ein Bubenlachen
Und frohes Spiel!
Und einer Mutter Augen leuchten
Klar wie des Bergsees Herrlichkeit –
O Jugendzeit mit deinen Wonnen,
wie liegst du weit!
Es war keine Feiertagsstimmung, in der Juliane Wächter die Wochen nach jenem schlimmen Vorfall verbrachte. Ein beständiger innerer Kampf zermürbte sie. Noch war der Wille zum Guten nicht erstorben. Die Liebe zu ihren Kindern, die Scham, die sie in Stunden klaren Nachdenkens übermannte, erhielten ihn lebensfähig. Aber ihre sittliche Kraft war geschwächt, denn das religiöse Empfinden schlief. Sobald es erwachend in der Stimme des Gewissens zum Ausdruck kam, verscheuchte der Weingeist alle edleren Gefühle und guten Vorsätze. Da sie sich nur noch im Banne des Alkohols wohlfühlte, gab sie mehr und mehr den Widerstand auf und geriet von Tag zu Tag in einen gefährlicheren Zustand. Sie wurde immer unvorsichtiger. Der einzige, den sie noch fürchtete, war Professor Linde. Ihm gegenüber blieb sie klug und berechnend und gab sich keine Blößen. Er aber schnitt das Thema nicht wieder an. –
Ein wunderschöner Frühlingstag kam über die Berge und grüßte die Stadt. Walter und Magna machten einen größeren Spaziergang. Juliane saß mit einem Buch am offenen Fenster des Wintergartens. Aber sie las nicht, verträumt blickte sie über die weißen und rosa Schleier der Obstbäume. Zu ihren Füßen blühte und duftete es um die Wette. Bienen summten über dem farbenfrohen Durcheinander. Vögel zwitscherten in den Büschen. Und fein wie gesponnenes Gold flimmerten auf Giebeln und Dächern, auf den fernen Wäldern hoch über der lenzgeschmückten Stadt die wärmenden Strahlen der Sonne. Es war, als entfalte der Frühling eine nie dagewesene Herrlichkeit und trüge Tod und Hölle zum Trotz sein blühendes Leben in das verratene Deutsche Reich. –
Die Gedanken der Frau kannten keinen höheren Flug mehr. Sie umkreisten immer wieder das Eigne. Aber auch die Enge ermüdet und Selbstsucht höhlt die Sinne. Gähnend schloß sie die Augen. Doch sie kam nicht zur Ruhe. Ihre Seele hielt einen Gedanken umklammert und wollte nicht von ihm lassen. Er war nicht von gestern. Schon hatte sie geglaubt, mit ihm fertig zu sein. Da war er wieder aufgetaucht. Nun wurde sie ihn nicht mehr los.
Sie hatte in ihrem Empfangsraum die Blumen begossen. Da war eine Gestalt vorübergekommen, die sie wähnte, vergessen zu haben. Hochaufgerichtet, nicht rechts noch links blickend, ging sie ihres Wegs, über ihrer jungen Schönheit lag's wie heimliche Witwentrauer, und der Schmerzenszug um den schmalen Mund redete von schwerem vermissen. In Julianens Antlitz war beim Anblick der vornehmen Erscheinung flammende Röte gestiegen: es war Ilse Stürmer, die arme Ilse, deren Mutter sie nicht hatte werden wollen. Rasch hatte sie sich abgewandt.
Aber sie konnte es nicht hindern, daß die Vergangenheit mit ihrer Qual lebendig wurde. Sie mochte wollen oder nicht, sie mußte Umschau halten in ihrer Seele, über dem verwahrlosten Haushalt glühte des Gewissens ewige Lampe. Taghell war's drinnen. Aus dem krausen Gewirr der Gedanken lösten sich die starken Fäden eines zielbewußt handelnden Willens. Die Frau wußte, warum es damals so hatte kommen müssen. Durch die Dämmerung ihrer Tage schaute sie das Bild mit seltsamer Klarheit: im hellen Farbenglanz das Gegenständliche; fein und zart getönt die weite Welt der Sinne. Wär's nicht wahrhaftiges Leben gewesen, man hätte an eine Vorstellung glauben können, an eine Tragödie, die ihre Sinne fesselte. Aber es war keine Vorstellung, es war schwere, bitterernste Wirklichkeit. Sonst hätten die plötzlich aufgescheuchte Erinnerung und der Anblick der Fremden die Frau nicht so tief erregt, warum sprach denn dies Antlitz zu ihrer Seele, wie sonst keines? warum beherrschten diese Augen die Vergangenheit? Weil das junge Weib sich zwischen Mutier und Sohn gestellt. Sie atmete tief. Mit diesem kurzen, alles sagenden Wort war den schweifenden wirren Gedanken der Riegel vorgeschoben. Es sprach sie frei von aller Schuld. Oder nicht? Sie zog die Stirn in Falten. Wann war menschliches Tun ganz rein? Aus irgendeinem Winkel lugten immer Eitelkeit oder Herrschsucht – es menschelte eben überall. Und sie fühlte den Blick des Sohnes auf sich gerichtet und hörte sein heißes Werben für die Braut. Aber ihr Ehrgeiz machte sie taub und blind. Sie brachte es dahin, daß das Mädchen sich scheu von ihr zurückzog, aber es gelang ihr nicht, den Sohn zu der von ihr gewünschten Verlobung mit einer reichen Erbin zu zwingen. Kalt und verbittert lehnte Hermann ihre Zumutung ab.
Auch zwischen Juliane und ihrem Mann, den sie in der Sache übergangen hatte, kam es zu einer zeitweiligen Verstimmung, die aber nicht von langer Dauer war. Rolf Wächter erlag immer wieder dem Zauber seiner Frau. Auch war er schon damals leidend und nicht mehr Herr im eigenen Hause. So schien die Sache im Sande zu verlaufen. Doch der Schein trog. Die zunächst ganz unerklärliche Veränderung im Wesen des Sohnes, die immer wieder gescheiterten Examensversuche wiesen auf bestimmte Untergründe, zum mindesten auf stark mitschwingende gemütliche Ursachen hin. Aber die Frage blieb ungeklärt: Hermann Wächter ging nach Amerika. Seine Mutter, die als einzige über das gänzlich veränderte Wesen des Sohnes hätte Aufschluß geben können, schwieg. Und doch wußte sie, daß der Kummer um die verlorene Braut nur den ersten Anstoß dazu gegeben, daß der frische strebsame Mensch ein arbeitsscheuer Träumer geworden war. So oft sie in den Spiegel sah, blickten sie aus dem einst so schönen Antlitz die verschleierten, still redenden Züge des Sohnes vorwurfsvoll an, und eine Stimme raunte unerbittlich: ›Das tatst du!‹ Fast zerbrach sie unter der zwiefachen Schuld, die sich angesichts des Todes verdreifachte. Zwar versagte der langbewährte Tröster nicht. Sobald aber des Weingeists Zauber verflog, regte sich die Stimme des Gewissens um so lauter. Dann graute ihr vor dem eigenen Anblick. In keinen Spiegel schaute sie in solchen Stunden schwerster Erkenntnis. Aber die Liebe zu ihrem Erstgeborenen wandelte sich in Haß. Das Gift tat seine Schuldigkeit. Die geheimsten seelischen Regungen beeinflußte es und knebelte Wesen und Sinne. Bis zur launenhaftesten Unberechenbarkeit und widerwärtigsten Unnatur, bis zur skrupellosesten Verlogenheit.
Fröstelnd lehnte sie sich zurück und zog den seidenen Schal um die Schultern. Wohin trieben ihre Gedanken?
Neben ihr auf dem Tisch funkelte der Südwein. Sie griff zur Kristallflasche und stürzte ein Kelchglas nach dem anderen herunter. Als die Flasche leer war, verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf und schloß die Augen. Wie schön diese wohlige Müdigkeit war! Die sollte schaden? Sie lachte.
Und dann träumte sie schon.
Sie war im Garten, vor einer der hochstämmigen Rosen, die ihr Mann selbst veredelt, stand sie und wählte die schönsten zum Strauß. Da fühlte sie sich von hinten umfaßt. Als sie sich umwandte, stand ein hochgewachsener gebräunter Mann vor ihr und schaute sie glückstrahlend an. Es war Hermann.
Mit einem Aufschrei erwachte sie. Erst allmählich fand sie sich in der gewohnten Umgebung zurecht. Selten hatte sie am Tage so lebhaft geträumt.
Aufs neue schloß sie die Augen. Die erregten Züge wurden ruhiger. Sie atmete auf, wie von schwerer Last befreit. Und plötzlich ward das Rot auf ihren Wangen einen Schein dunkler, als schäme sie sich heimlicher Gedankensünde. – – –
Da ging unten die Haustür. Über die hallende Diele zog festlicher Jubel, wie ihn das stille Haus lange nicht gehört. Walters und Magnas fröhliche Stimmen klangen herüber, dazwischen eine ernste männliche. Sie lauschte gespannt. Professor Linde war's nicht. Den würden die beiden respektvoller empfangen. Ja, wer konnt's denn aber sein? Sie zermarterte ihr Hirn. Ihr Schwager? Unsinn! Den erkannte man sofort am Kommandoton. Aber die Stimme war ihr nicht fremd. Nur der Schleier der Jahre dämpfte sie. Nur die Zeit trennte. Die Zeit und das Leben und – – – Juliane Wächter zitterte an allen Gliedern. Sie kannte die Stimme ganz genau. – – –
Die Tür zum Speisezimmer wurde geöffnet. Schon verstand sie einzelne Worte. Greifbar deutlich stand das Bild vor ihr: die beiden jungen Geschwister, den Heimgekehrten im Triumph zur Mutter führend.
In ihrer Seele stürmte es. Sollte sie, die sich nie im Leben einem anderen Willen gebeugt, vor dem Sohne die Waffen strecken? Leidenschaftlicher Widerstreit drängte sich in Sekundenenge. Es war, als stünde der Böse leibhaftig vor der Frau als Erpresser. Sie aber fühlte die Knebelung nicht, die sie auf unabsehbare Zeit auf matt setzte. Der geblendete Geist erkannte das Teuflische der Forderung nicht. Im Nebel lagen Weg und Ziel. Die Kraft folgerichtigen Denkens versagte, dem vorausschauenden Blick fehlte die Schärfe, die Sinne waren gelähmt, der Wille krank – – –
Und der Zeiger rückte.
Das Gesicht der Frau ward fahl. Die seelische Qual verzerrte es. Ihre Augen flimmerten. Um den Mund lag ein böser eigensinniger Zug.
Sie erhob sich.
Da kamen sie drinnen über den Perser. Die Weihe des nahenden Augenblicks ließ den Jubel verstummen. Doch die leichten eilenden Schritte brachten das Glück.
Dann ward das Bild Wirklichkeit.
Aber anders, als sie's geschaut.
Der dort auf der Schwelle stand, war nicht der müde Träumer, der, an sich selbst verzweifelnd, Europa verließ, es war ein Mann, der seine Kraft im Kampf mit dem Leben erprobt. Groß, gesund, die klaren Züge gestrafft, in den ernsten Augen die Freude der Heimkehr.
Sekundenlang ruhte sein Blick auf der Frau im Witwenkleide. Ein Schatten flog über die freie Stirn. Doch die Sohnesliebe siegte. In tiefer Bewegung eilte er mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
»Mutter!«
Da geschah das Unglaubliche, Unerhörte. Sie wich entsetzt vor dem Heimgekehrten zurück – – –
Fassungslos starrte er sie an. Flammendes Rot wechselte mit fahler Blässe auf seinen Zügen. Schlaff sanken die Arme am Körper nieder.
Wie ein Bann stand das schwere Rätsel in dem engen Raum.
Die eine, die es hätte lösen können, hatte die Herrschaft über sich selbst verloren, die anderen tasteten mit scheuen Sinnen im Dunklen.
Aber Hermann Wächter war nicht der Mann, der sich mit ungelösten Rätseln abfand.
Tränen traten in seine Augen.
»Mutter, kennst du denn deinen Sohn nicht mehr?« fragte er leise.
Da streckte sie abermals abwehrend die Hände aus.
»Nein,« rief sie hart, »ich kenne Sie nicht! Sie haben keine Ähnlichkeit mit meinem Sohn!«
Kopfschüttelnd stand er da.
Was war das?
Er blickte sie durchdringend an. Hatte er es mit plötzlicher Geistesstörung zu tun, mit heimlicher Krankheit? Sie schien ihm verändert. Ihre schlanke Frauenschönheit begann vorzeitig matronenhafter Fülle zu weichen, vor allem war ihm ihr Gesicht fremd geworden. Die feinen Linien waren verschwommen. Die Augen irrten unstet umher. Ein Gedanke durchzuckte ihn. Mit einem Blick übersah er den freundlichen Raum. Auf dem Tisch stand ein Kelchglas neben einer leeren Karaffe. Der Inhalt war nicht mehr erkennbar.
Die Augen des Mannes sogen sich an dem feinen Bakkaratgebilde fest. Dann kehrten sie zu der Frau zurück.
Das Blut stieg ihr ins Gesicht, was erlaubte sich der Mensch?
Aber seine Augen ließen sie nicht los.
Trotzig warf sie den Kopf zurück.
Da wandte er sich ab. Unsagbar traurig sah er mit stummer Frage zu den Geschwistern hinüber.
In Walters Zügen arbeitete unterdrückter Zorn. Blaß, an allen Gliedern zitternd, lehnte sich Magna an den Bruder.
Alle fühlten: sie standen am Scheidewege.
Da unterbrach heißes Schluchzen die Stille. Magna war auf Juliane zugeeilt und umklammerte die Widerstrebende.
»Mutter, es ist Hermann, ganz bestimmt! Wir sind nicht die einzigen, die ihn erkannt haben! Siehst du nicht die Narbe aus der Studentenzeit? Und seine Stimme? Als wenn Vater spräche! Es ist doch überhaupt nicht solange her, seit wir ihn sahen! Mutter, liebe süße Mutter!«
So bettelte sie für den Bruder.
Aber Juliane Wächter machte sich aus den Armen ihres Kindes frei.
»Laßt mich in Ruhe!« sagte sie. »Ich wiederhole euch: es ist nicht mein Sohn!«
Sie ließ die Tochter stehen und rauschte zur Tür.
Da vertrat Walter ihr den Weg.
»Mutter,« sagte er ernst, »du bist im Irrtum! Es ist Hermann – ganz bestimmt.« Er zögerte einen Augenblick. Seine Wangen brannten. »Vielleicht ist dein Befinden schuld an einer Sinnestäuschung,« setzte er, sie fest ansehend, leise hinzu.
Sie hielt seinen Blick aus. In ihren Augen flackerte der Zorn. Aber sie schwieg.
»Mutter,« bat der junge Mensch, »sieh ihn doch an!«
Sie biß die Zähne zusammen. Aber seinen heißen Bitten hielt sie nicht stand. Die Mutter regte sich in ihr. Ihre beiden Jüngsten sollten ihr nicht den Vorwurf machen, daß sie in dieser Stunde schroff und unzugänglich gewesen.
Sie wandte sich um.
Der Platz, wo der Sohn gestanden, war leer – – –
*
Über die sonnige Diele schritt Hermann Wächter die Treppen hinab.
Das war seine Heimkehr! Das Elternhaus verödet, der Vater tot und die Mutter –? Er atmete schwer. Keinen klaren Gedanken konnte er fassen. Die Wände erdrückten ihn. Mit hastenden Schritten, heimlich wie ein Ausgestoßener, verließ er das Haus.
Der Heimat ganzer Jammer hatte den Wandermüden gepackt. Auf manche Enttäuschung war er gefaßt gewesen. Aber daß ihm die eigene Mutter die Tür verschloß, war mehr, als er in diesem Augenblick ertragen konnte. Ohne rechts und links zu blicken, stürmte er durch die Straßen den städtischen Anlagen zu. Verwundert schauten die Leute ihm nach. Manch einer fragte sich, wo er das gebräunte Gesicht mit der finsteren Stirn gesehen haben konnte. Er aber achtete nicht auf die Menschen.
Das Herz war ihm zum Zerspringen schwer. Er hatte viel durchgemacht, aber nie war ihm seine Verarmung zum Bewußtsein gekommen wie heute. Denn er war mehr als arm – rechtlos war er, heimatlos.
Abseits vom Wege lag grün umschattet ein stiller Platz, den er schon als Knabe geliebt. Dahin flüchtete er sich mit seiner Not. In der Einsamkeit der Natur zwang er sich zum ruhigen Nachdenken. Denn bevor er irgendwie Stellung zu dem Vorfall nahm, mußte seine Seele klar sein. Er konnte und wollte nicht glauben, daß eine Frau wie seine Mutter den eigenen Sohn verleugnete. Die Sache mußte einen besonderen Haken haben. Seine Mutter hatte Charakterfehler, gewiß! Aber unwahrhaftig war sie nie gewesen. Seine Verlobung hatte ihr nicht gepaßt. Ihr hochstrebender Sinn stand nach Reichtum und Glanz, vielleicht war sie zu schön und in jeder Hinsicht zu verwöhnt, um darauf verzichten zu können. Die weibliche Eitelkeit war nun einmal eine Großmacht, mit der man rechnen mußte. Sie hatte schon manches Opfer gefordert.
Juliane hatte nie ein Hehl daraus gemacht, daß sie andere Pläne mit ihrem Ältesten hatte. Mit größter Offenheit war sie vorgegangen. Allerdings auch mit einer gewissen Härte. Aber deshalb durfte man ihr die Mutterliebe nicht absprechen. Sie hatte das Beste gewollt. Darum hatte er ihr, ob auch nach schweren inneren Kämpfen, verziehen.
Was sie ihm heute angetan, lag jedenfalls auf einer anderen Linie. Ihr Eingriff in seine Lebenspläne entsprach ihrem ganzen Wesen, während die heutige Szene auf jeden, der sie kannte, den Eindruck des Unnatürlichen machen mußte. Denn so weit konnte sich ihre Eitelkeit doch nicht versteigen, daß sie sich des Heimgekehrten schämte! Oder doch? Das Blut stieg ihm in die Stirn.
In ihrer tiefen Witwentrauer stand sie ihm vor Augen, immer noch schön, aber nicht mehr die alte. War solch eine Veränderung in so kurzer Zeit möglich? Die Frau hatte das Liebste begraben! Trotzdem. Immer gewisser ward's ihm: hier war mehr als Veränderung, aus diesen Zügen sprach beginnende körperliche und seelische Zersetzung.
Und blitzschnell durchzuckte ihn der Gedanke, der sich ihm vor einer halben Stunde im Wintergarten aufgedrängt.
Er wollte ihn abschütteln. Aber er ließ ihn nicht los. Nicht umsonst war er in Amerika gewesen. Über Heimatnot und Völkerelend war dem jungen Deutschen drüben ein Licht aufgegangen. Sein persönliches Unglück aber wurde ihm zum Glück: er wurde abstinent, bevor der Alkohol seine zerstörende Wirkung auf den Organismus ausüben konnte. Oft hatte er mit Trauer der Heimat gedacht. Das war's ja, woran Deutschland krankte! Der Alkohol und immer wieder der Alkohol! Alle Sünde und Not würde Amerika mit seinem allgemeinen Abstinenzerlaß ja nicht aus der Welt schaffen. Aber etwas Großzügiges lag unbestreitbar in seiner Forderung, und eine gewaltige Einschränkung würden Verbrechen und Elend bei peinlichster Durchführung ohne Zweifel erfahren. Warum war solche Volkserziehung im großen Stil in Deutschland unmöglich oder zum mindesten außerordentlich erschwert? –
Dann kehrte er heim. Täuschte er sich oder war's die deutsche Not, die im engen Rahmen des Elternhauses vor ihm stand? Oft hatte er drüben der Seinen gedacht. Sie hatten keine Ahnung von den Gefahren des Alkohols. Aber was hätte seine Warnung genützt?
Wieder suchte er nach neuen Gründen für die unerklärliche Haltung der Mutier. Gewiß, manches stand zwischen ihnen, aber nichts, was die Verleugnung des eigenen Kindes rechtfertigte. Von einer sittlichen Verfehlung seinerseits war keine Rede. Dagegen hatte er immer den Eindruck gehabt, daß sie sich ihm gegenüber nicht frei fühlte. Sie hatte sich nie um sein Studium gekümmert. In der Zeit, als sie seine Verlobung hintertrieb, suchte sie ihm auf alle mögliche Weise die Arbeit zu erleichtern. Jeden Wunsch las sie ihm von den Augen ab, versorgte ihn mit wertvollen Büchern, sandte ihm allerlei Feinkost und war um seine Gesundheit besorgt, wie nie zuvor. Sie war es auch, die ihm den Rat gab, seine angegriffenen Nerven durch starke Weine und Bier zu beleben, und ihn immer wieder mit Kognak und Madeira versah.
Es war dann gekommen, wie ein abstinenter Studienfreund ihm warnend voraussagte. Er gewöhnte sich derart an den täglichen Sorgenbrecher, daß er glaubte, nicht mehr ohne ihn leben zu können. Die Folge waren schlechte Nerven, verminderte Arbeitskraft, fehlgeschlagene Examensversuche.
Dann lernte er das Land der Abstinenz kennen, Amerika. –
Dies alles trat ihm in der Parkstille greifbar deutlich vor die Seele. Aber so eingehend er sich damals mit der Alkoholfrage beschäftigt hatte, scheute er doch das abschließende Laienurteil. Denn gerade die Einwirkung des Hefegifts auf den Charakter gehörte zu den Fragen, deren Lösung nicht nur ärztliche Erfahrung, sondern in ungezählten Fällen psychiatrisches Künstlertum forderte.
Die Lebenserfahrungen eines amerikanischen Bankherrn, dessen Schicksal in mancher Hinsicht an sein eigenes erinnerte, bestärkten ihn in dieser Ansicht. Nach dem Leben. Der Mann hatte als Opfer einer Personenverwechslung die beste Zeit seines Lebens im Gefängnis geschmachtet. Nach Jahren aus der Haft entlassen, gab der ehemalige Sträfling sich für den verschollenen totgesagten Bankherrn aus. Als der Heimgekehrte mit ausgebreiteten Armen auf seine alte Mutter zueilte, nahm ihr Gesicht einen harten bitteren Ausdruck an, und vor ihm zurückweichend, erklärte sie, nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrem Sohn entdecken zu können. Sie blieb dabei, ihr mütterlicher Instinkt würde sprechen, wenn ihr Kind wahrhaftig vor ihr stünde. Der Anblick des fremden Mannes, den andere für ihren Sohn erklärten, verwirre und beunruhige sie nur. Die Sache wurde durch Nebenumstände noch verwickelter, besonders durch die verschieden lautenden Erklärungen der nächsten Verwandten und Jugendfreunde. Ein Teil erkannte den Fremdling auf den ersten Blick wieder, andere schüttelten bei seinem Anblick die Köpfe und wollten nichts von ihm wissen. Der Hausarzt vermißte eine Narbe. Sein bester Freund, ein Bankdirektor, erkannte ihn an einer Redewendung. Aber der Heimgekehrte selber erzählte seinem alten juristischen Beirat, die Mutter habe, als sie ihn vor einigen Jahren in Begleitung eines Vertreters der Lebensversicherung im Gefängnis ausgesucht, dem Beamten erklärt, daß sie ihn nicht kenne. Als er sie in einem unbewachten Augenblick gefragt, wie er sie denn nennen solle, habe sie erwidert: »Nenne mich Mutter, wenn wir allein sind!« Die Lebensversicherungsgesellschaft hatte dann den Hinterbliebenen des verschollenen die fällige Summe ausgezahlt. Als die Greisin ihn bei seiner Entlassung aus dem Gefängnis abermals verleugnete, erklärte sie sofort, kein persönliches Interesse an dem Gelde zu haben, da es ihrer Tochter zugefallen sei. So schwankte das Zünglein der Wage. Die Sprache des Blutes versagte. Die Entscheidung, ob der Mann eine Mutter habe oder nicht, fiel dem Gericht zu. Den Schluß der seltsamen Tragödie erfuhr Hermann Wächter nicht mehr. Er hatte sich damals seine Gedanken gemacht. Heute verdichteten sich seine Vermutungen mehr und mehr und nahmen immer festere Gestalt an. –
Schwerer und schwerer ward ihm das Herz. Den Kopf in die Hand gestützt, starrte er vor sich nieder. Wen sollte er um Rat fragen, an welchen Arzt sich wenden? Die Nervenärzte am Ort waren ihm nicht bekannt. Auch widerstrebte es ihm, einen Fremden einzuweihen, solange es nicht unumgänglich nötig war. Doktor Trautmanns Stellung zur Alkoholfrage entbehrte jeder Grundsätzlichkeit. Es kam nur Professor Linde in Betracht. Zu dem zog's ihn hin. Und nicht nur zu dem Arzt. Er brauchte den Menschen Siegfried Linde.
Mit raschem Entschluß richtete er sich auf und erhob sich. In einer Viertelstunde konnte er in der Viktoriastraße sein.
Da fiel ein Schatten auf seinen Weg. Ein hochgewachsener Mann stand mit ausgebreiteten Armen vor ihm und eine bekannte Stimme rief seinen Namen.