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Einst trat ein Edelvolk mit junger Kraft
Auf Roms gebrochne Schultern.
Das Leben siegte, und im Heldenschritt
Naht' die Geschichte, in den ehr'nen Händen
Die güldne Spule, Völkerschicksal webend. –
Jahrtausende vergehn im Zeitensturm.
Doch pocht die Ewigkeit ans Tor des Reichs:
Wach auf, du schlafend Heer, die Zinnen glühn!
Wer bist du, daß du Zeit und Kampf verträumst?
Schon mischt der Landesfeind mit frevler Hand
Den Todestrunk den Besten deiner Söhne!
Auf! panzre dich mit deiner Urkraft Stahl!
Ums Ganze geht's, um deines Volkes Sein!
Es ist das letzte – letzte Aufgebot!
Schließt du die Augen, liegt dein Werk verwaist,
So naht der Untergang – Gott geb dir Flügel!
Denn mit dem letzten Deutschen stirbt der Geist,
Und Krämerseelen machen Weltgeschichte – – –
»Da ich durch meinen Neffen weiß, wie Sie gerade in Ihrer Eigenschaft als Vormund zu der Frage stehen, Herr Professor, halte ich es für meine Pflicht, Sie von dem Vorfall in Kenntnis zu setzen und bin gern bereit, meiner Schwägerin gegenüber meine Aussage zu wiederholen. Zum Donnerwetter, da hört denn doch die Weltgeschichte auf! Der Vormund verbietet seinem Mündel ausdrücklich jeden Alkoholgenuß, und die eigene Mutter verabfolgt dem Gör eine regelrechte Zwischenmahlzeit mit Portwein! Macht sich die Frau denn gar nicht klar, daß ihre Handlungsweise ein ganz gefährlicher Vertrauensbruch, eine gemeine Lüge ist? Man muß sich wahrhaftig der eigenen Schwägerin schämen!«
General Wächter fuhr mit der Rechten durch das dichte weiße Haar, das wie eine Borste über der geröteten Stirn stand. In dem frischen offenen Gesicht lohte der Zorn. Die Lippen zusammengepreßt, schien er eine scharfe Äußerung zu unterdrücken. Seine ganze Persönlichkeit atmete eiserne Willenskraft. Aus jeder Bewegung sprang sprühender Geist. Auf den ersten Blick erkannte man den alten Soldaten.
»Die Kleine ahnte ja nicht, daß ich sie durch die offen stehende Tür des Empfangsraumes beobachtete,« fuhr er fort. »Sie aß ihr Butterbrot und trank ihren Portwein – man hatte ihr ja die Flasche vor die Nase gesetzt. Schließlich ging ich hinein. Sie war völlig harmlos. Der Wein sei alkoholfrei, erklärte sie auf meine Frage. Anderen dürfe sie ja nicht trinken. Ich warf einen flüchtigen Blick auf die Flasche. Den Wein kannte ich. Aber ich konnte dem Kinde doch nicht sagen, daß es von der eigenen Mutter belogen wurde!« Er räusperte sich. »Meine Schwägerin hätte 'n anderen Mann haben müssen, dann wär's gar nicht soweit gekommen! Mein Bruder war ein vornehmer Charakter und ein frommer Christ, im übrigen aber 'ne richtige Suse, besonders seiner Frau gegenüber. Jetzt haben wir die Bescherung!« Er trommelte einen Marsch auf der Tischplatte. »Sie werden in dem Hause noch etwas erleben, Herr Professor!«
Linde antwortete nicht. Von seinem dunklen Platz aus blickte er auf den Mann im Schein der grün verschleierten Lampe. Das war eine Persönlichkeit aus einem Guß! Rolf Wächters schwacher willenloser Charakter konnte sich allerdings nicht mit diesem Starken messen! Sie waren Stiefgeschwister. Kuno der streng erzogene Sohn erster Ehe. Rolf das einzige verwöhnte Kind der überzarten nervösen zweiten Frau. Der ältere Bruder war kerngesund. Der jüngere erblich belastet. Aber trotz scharfer Gegensätze war das Verhältnis gut. Nur mit der Heirat seines Bruders konnte der General sich nicht aussöhnen. Von Anfang an hatte er sich mit Juliane nicht verstanden. Keine zehn Minuten konnten die beiden zusammen sein, ohne sich zu streiten. Darum hatte der alte Herr auch die Vormundschaft abgelehnt.
»Ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit meine Anerkennung aussprechen, daß Sie die wenig angenehme und schwierige Verpflichtung auf sich genommen haben, Herr Professor,« fuhr er fort. »Es will etwas heißen, mit meiner Schwägerin zusammen zu arbeiten – alle Achtung! Hoffentlich hat mein verstorbener Bruder Sie wenigstens vollständig eingeweiht!« Gespannt sah er sein Gegenüber an. »Wissen Sie, daß – meine Schwägerin trinkt?«
»Ja,« sagte Linde.
Einen Augenblick schwiegen beide.
Dann begann Wächter aufs neue: »Ich fürchtete nämlich, daß Rolf nicht den Mut zu dieser Erklärung gefunden hätte! Aber Sie mußten es wissen!«
»Ich hätte es allerdings bald gemerkt, Exzellenz. Nichts destoweniger bin ich sehr dankbar für den Wink.«
Der andere nickte. Eine tiefe Falte stand zwischen den weißen Brauen. »Es ist ekelhaft, das von einer deutschen Frau und Mutter von fünf Kindern sagen zu müssen – zumal in solcher Zeit! – Ob sie ahnt, daß Sie davon wissen?«
»Ich glaube, sie vermutet es. Anders kann ich mir das Mißtrauen, das sie mir entgegenbringt, nicht erklären. Die Verschiedenheit der Auffassung in manchen Dingen kann kaum der Grund sein.«
Der General schüttelte den Kopf. »Das glaube ich auch nicht. Es wird das schlechte Gewissen sein, das sie quält, und der Gedanke, Sie könnten erfahren haben, daß sie diesem Laster frönt. Das macht sie befangen! Außerdem ist sie, wie alle Menschen, die trinken, unwahr gegen sich selbst und gegen andere. Sie lügt durch dick und dünn!«
Linde seufzte. »Leider habe ich immer wieder den Eindruck, daß Ihrer Frau Schwägerin überhaupt nicht beizukommen ist. Ich habe die Alkoholfrage so grundsätzlich mit ihr durchgesprochen, wie noch nie mit einer Frau, natürlich unter Ausschaltung ihrer Person, nur in bezug auf die Kinder. Sie hörte scheinbar interessiert zu, aber ganz konnte ich den Verdacht nicht bannen, daß sie Theater spielte!«
Wächter lachte. »Sie treffen den Nagel auf den Kopf. Im Theaterspielen ist sie groß! Nein, es ist ihr nicht beizukommen! Und zwar in erster Linie deshalb, weil ihr Vater einer jener gesundheitlichen Übermenschen war, die alles vertragen. Der Mann hat ohne den geringsten Nachteil bis ins achtzigste Jahr geradezu gesoffen! Daß es überall Ausnahmen von der Regel gibt, läßt sie ausgerechnet in bezug auf die Alkoholfrage nicht gelten. Da ihr Großvater in dieser Hinsicht schon nicht ganz einwandfrei war und ihr Vater zufällig gesund geblieben ist, glaubt sie auch nicht an erbliche Belastung. Dabei ist sie selber mit dem Herzen nicht in Ordnung und leidet an starker gichtischer Veranlagung. Kurz und gut, man kann eher den Stadtkirchenturm von außen hinaufklettern, als meiner teuren Schwägerin etwas klarmachen, was ihr nicht in den Kram paßt. Das kommt davon, wenn man sich seine Frau nicht rechtzeitig erzieht. Donnerwetter, das sollte meine Alte sein!«
Linde lachte. »Verzeihung, Exzellenz, ich glaube, Ihrer Frau Gemahlin liegt das überhaupt nicht! Solch ein Eigensinn ...«
»Solch ein Eigensinn kommt vom Suff!« unterbrach ihn der alte Soldat. »Und der liegt meiner Frau allerdings nicht! Die ist abstinent. Ich wollt' ihr auch nicht raten, solche Zicken zu machen! – Um aber noch einmal auf meine Schwägerin zu kommen, so ist meines Erachtens das Schlimmste, daß ihr wie allen Alkoholikern das sittliche Empfinden verloren zu gehen beginnt. Das ist um so bemerkenswerter, da sie auf das Eingehendste durch Sie über die Alkoholfrage unterrichtet ist. Sie sehen, es ist schon weit gekommen.«
Linde nickte. »Ich habe Ihre Frau Schwägerin bis in die kleinsten Einzelheiten eingeweiht, Exzellenz. Sie weiß genau, was der Alkohol anrichtet, daß kein Organ des menschlichen Körpers vor ihm sicher ist, daß er Hirn und Geist auf das Schwerste gefährdet und Willenskraft und Leistungsfähigkeit schädlich beeinflußt. Vor allem habe ich sie als Mutter auf die pathologischen Wirkungen bei Kindern hingewiesen, auf Schülerleistungen und geistige Arbeit überhaupt. Ich habe nicht nur das Heer der durch Alkoholvergiftungen entstehenden Krankheiten erwähnt, sondern vor allem die Riesengefahr der Verseuchung und Entartung ganzer Geschlechter und Völker unterstrichen. Endlich habe ich Frau Wächter die Notwendigkeit der völligen Abstinenz meiner Mündel klarzumachen versucht, indem ich ihr an der Hand der Statistik die Folgen des täglichen gewohnheitsmäßigen Alkoholgenusses darlegte. Die sittliche und soziale Seite der Alkoholfrage, die Pflicht der deutschen Frau und Mutter, die gerade in unsrer traurigen Zeit ins Ungemessene wächst, habe ich noch keiner Frau gegenüber so scharf betont. Einer Unterlassungssünde kann ich mich nicht anklagen, es ist alles, aber auch alles gesagt, was gesagt werden mußte. Und sie hat mich verstanden. Zum Schluß unsrer Unterredung hat sie sich feierlich verpflichtet, Walter und Magna nicht den geringsten Alkoholgenuß zu gestatten. Daß sie sich so unzuverlässig zeigen würde, habe ich nicht erwartet. Es ist allerdings ein starkes Stück!«
Wächter nickte zustimmend. »Wenn die Kinder nicht wären, würde ich sagen: ›mag sie die Folgen tragen!‹ Aber solange man die Mutter nicht auf seiner Seite hat, sind die Kinder gefährdet.«
»Gewiß, Exzellenz. Wer die Kinder retten will, muß die Mutter retten.«
»Wie soll man das aber bewerkstelligen? Man kann die Frau doch nicht ohne weiteres in eine Trinkerheilanstalt stecken, wenn sie nicht freiwillig geht!«
»Das ist auch zunächst nicht meine Absicht.«
Fragend blickte der General auf. Die Augen eines Kämpfers blitzten ihn an.
»Ich werde sie zwingen, umzulernen,« sagte Siegfried Linde. »Die Frau hat nicht nur körperlich, sondern vor allem geistig gelitten. Ihre ganze Weltanschauung ist dadurch verschoben worden. Das Trinken muß aufhören, von heute auf morgen geht das natürlich nicht, aber ich hoffe, die Zähmung der Widerspenstigen wird mir gelingen. Erst Erkenntnis, dann Verständnis!« Aus den kurzen Mannesworten klang ein starkes ›Ich will und ich werde!‹
›Die hat ihren Meister gefunden,‹ dachte Konstantin Wächter.
»Möchte es nicht zu spät sein,« sagte er ernst. »Meine Schwägerin scheint mir leider viel tiefer in das Laster verstrickt zu sein, als mein armer Bruder ahnte. Es liegt ja in der Natur der Alkoholvergiftung, daß die Wandlung des Charakters sich in außerordentlich wechselvoller schillernder Form vollzieht. Man kann nicht von heute auf morgen rechnen, jede Stunde bringt Überraschungen. Eine derartige plötzliche Veränderung in der Auffassung der tiefsten sittlichen Werte hätte ich bei einer Frau aus christlichem Hause trotzdem nicht für möglich gehalten. Manchmal habe ich den Eindruck, als hätte das schwere nationale Unglück gar keinen Eindruck auf sie gemacht. Ich behaupte: sie denkt mehr an ihre elegante Witwentrauer als an des Vaterlandes Not! Und was steht heute für eine Mutter auf dem Spiel! Die ganze Zukunft ihrer Kinder, ihre sittliche und religiöse Erziehung, ihre Ewigkeit, alles! – Die Haare stehen einem zu Berge, wenn man die Frau über den neunten November reden hört. Als mein Neffe ganz außer sich über den Hochverrat der Matrosen ins Zimmer stürzte, rief sie: ›Mein Himmel, Walter, die Leute mögen eben nicht mehr, wie kann man da so hart urteilen!‹ Ich kann Ihnen sagen, Herr Professor, es kochte alles in mir! Wenn einer Dirne, deren Heimat die Straße ist, der Begriff ›Hochverrat‹ abhanden kommt, so versteh' ich's, daß aber eine Dame aus altadligem Hause, eine preußische Offiziersfrau, es fertig bringt, so zu denken und – zu sprechen, das kann und will ich nicht verstehen. Da kann ich nur sagen: wenn die Person ihre fünf Sinne noch hat, bin ich mit ihr fertig!«
»Sie hat sie eben nicht mehr, Exzellenz! Das ist die einzige Entschuldigung. Früher ist Ihre Frau Schwägerin nicht so gewesen!«
»Nicht ganz so.«
»Außerdem,« fuhr Linde fort, »arbeitet unsre Zeit gerade am sittlichen Untergang der Frau mit unheimlicher Ausdauer. Sehen Sie sich bitte das Straßenbild an, und Sie wissen genug!«
»Ja, gewiß. Aber ich mache an eine Ungelegen doch etwas andere Ansprüche als an irgendeine Spießerfrau, die morgens ihre Nippsachen abstäubt und nachmittags stundenlang in irgendeinem Kaffee hockt. Das ist doch ein Unterschied.«
»Das sollte ein Unterschied sein, aber er ist es leider nicht immer. Wir kranken schon lange an fürchterlicher Begriffsverwirrung. Denken Exzellenz bitte nur an die ungezählten Frauen unsrer vornehmsten Familien, die mitten im Kriege mit Schmuck behangen herumliefen. Ich kenne Töchter aus den ältesten preußischen Offiziersfamilien, die sich nicht schämten, auf offner Straße Brillantnadeln und goldene Armbänder zu tragen.« Er zuckte die Achseln. »Jede Zersetzung geht von oben nach unten.«
Der General wiegte den weißen Kopf. »Ja, das ist ein dunkles Thema. Man könnte Bände darüber schreiben. – Um aber noch einmal auf die Alkoholfrage zurückzukommen, so muß man leider sagen, daß gerade die höheren Kreise schuld daran sind, daß Deutschland in der Abstinenz hinter anderen Völkern sehr zurückgeblieben ist. Was wurde vor dem Kriege auf den Gütern gesoffen! Es war ja 'ne Schweinerei! Und anderswo war's nicht besser! Unsrem Volk fehlt eben der Führer, der ihm auf all seine schweren Lebensfragen die Antwort gibt! Ich wollte, wir hätten einen Mann, der Luther und Bismarck in seiner Person vereinte!«
Linde sah nachdenklich vor sich nieder. »Ich habe immer bedauert, daß Kaiser Wilhelm trotz mancher edlen und liebenswerten Eigenschaften doch in mancher Hinsicht versagte.«
»Leider, leider!« rief Wächter. »Ich bin monarchisch bis auf die Knochen, aber meine Königstreue ist den Fehlern und Schwächen der einzelnen Person gegenüber nicht blind. Der Kaiser hat ganz gewiß das Beste gewollt, aber es fehlte ihm die Stetigkeit und Folgerichtigkeit des Handelns. Er stand nicht mit der Tat hinter seinen Worten. Seine Politik schillerte. Darum die Erfolglosigkeit seines Tuns. Er hatte eine unglückliche Hand.«
»In der Alkoholfrage hat man ja seinerzeit große Hoffnungen auf ihn gesetzt,« warf Linde ein.
»Jawohl, nach der Mürwiker Rede! Ansprache Kaiser Wilhelms II. an die Fähnriche der Marine bei Einweihung der Marineschule in Mürwik, 21. November 1910. Aber wie hat er gerade da enttäuscht! Ich weiß nicht, ob Sie sich des Teils der Rede erinnern, der geradezu die persönliche Abstinenz fordert. Ich habe ihn zufällig wörtlich im Gedächtnis, weil ich ihn als Generalstäbler immer wieder den jungen Offizieren vorgehalten habe. Es heißt da: ›Der nächste Krieg und die nächste Seeschlacht fordern gesunde Nerven von Ihnen. Durch Nerven wird der Krieg entschieden. Diese werden durch Alkohol untergraben und von Jugend auf durch Alkoholgenuß gefährdet ... Diejenige Nation, die das geringste Quantum Alkohol zu sich nimmt, die gewinnt. Und das sollen Sie sein, meine Herren! Und durch Sie soll den Mannschaften ein Beispiel gegeben werden! Das wirkt am besten bei den Menschen. – – ‹
Wir alle wissen, daß der Kaiser durchaus mäßig lebte. Aber einem Volkslaster kann nur das öffentliche Beispiel und ein grundsätzliches Bekenntnis zu der Forderung der Stunde erfolgreich entgegenwirken. Zum mindesten hätte er die höheren Offiziere seiner Umgebung und andere leitende Persönlichkeiten auf die schweren sittlichen und gesundheitlichen Folgen des Alkoholgenusses hinweisen und sie verpflichten sollen, weitere Kreise für den Kampf gegen das Übel mobil zu machen. Ich habe damals mit vielen anderen auf das persönliche Beispiel des Kaisers gewartet. Daß ein deutscher Mann, der solche Worte auf vorgeschobenem Posten spricht, als erster in die Bresche tritt, erscheint wohl nicht nur dem preußischen Offizier selbstverständlich. Der Kaiser tat es nicht, vier kostbare Jahre verstrichen ungenützt, und wir verloren den Krieg. Wäre der Kaiser damals mit dem Beispiel persönlicher Abstinenz vorangegangen, hätte ein Armeebefehl den Alkohol aus Heer und Flotte verbannt, es wäre noch nicht zu spät gewesen. Dem kaiserlichen Beispiel wäre das Volk in breiten Schichten gefolgt, und das Heer hätte den Grundstein zur Gesundung der Heimat gelegt. Aber es geschah nichts. Es erging der Alkoholfrage nicht besser als der Politik des Kaisers.« Er seufzte. »Nicht einmal zu Beginn des Krieges ist ein mahnender Erlaß an das Offizierkorps ergangen. Was man im Frieden nicht für nötig hielt, schien im Krieg erst recht überflüssig. Die Mannschaften waren ungenügend, die Offiziere vielfach überhaupt nicht über die Gefahren des Alkohols unterrichtet. Den Landesfeind sahen die wenigsten in ihm. Die Ausschreitungen nahmen überhand. Da das Offizierkorps, wie gesagt, der Frage in ungezählten Fällen völlig verständnislos gegenüberstand und der Wert der Abstinenz nach militärischer Seite häufig verkannt wurde, versagte die Führerschaft der Herren in dieser Hinsicht oft gänzlich. Schon jetzt hört man Urteile von berufener Seite, die übereinstimmend dahin lauten, daß Regierung und Heeresleitung sich durch ihre unglaubliche Haltung in der Alkoholfrage mitschuldig gemacht haben an dem verhängnisvollen Ausgang des Krieges.«
»Ich glaube, daß weite Kreise einen Hauptpunkt noch nicht erfaßt haben,« sagte Linde. »Es ist die Frage des täglichen gewohnheitsmäßigen Alkoholgenusses. Daß gerade in dieser Regelmäßigkeit des Genusses kleiner Mengen eine schwere gesundheitliche Gefahr liegt, wissen die wenigsten oder wollen es nicht wissen. Und doch kann man im Interesse des einzelnen wie der Gesamtheit nicht genug davor warnen. Darum wäre gerade das öffentliche Beispiel führender Kreise von ungeheurem Wert für das große Ganze. Aber wie gesagt, die meisten Menschen wollen das nicht einsehen.«
»Weil die meisten Menschen oberflächlich sind, wo sie grundsätzlich sein sollten!« rief der General. »Wie oft ertappt man sich auf unverzeihlichen Halbheiten! Die kristallene Tiefe und Klarheit des Urteils fehlt uns, die haarscharfe heilige Grundsätzlichkeit, die das eigene Ich beiseite schiebt und die restlose Erfüllung des Gottesgebotes fordert.«
Der Arzt nickte. »Das Menschliche, Allzumenschliche ist uns immer wieder im Wege, Exzellenz! Aber je älter wir werden, desto mehr lernen wir die Fragen des Tages im Lichte der Ewigkeit betrachten, nicht wahr?«
»Ja, Gott sei Dank! Aber ist es nicht 'n Skandal, daß man immer erst mit der Nase draufgestoßen werden muß? Gerade in der Alkoholfrage! Es ist doch klar wie dicke Dinte: das Beispiel des Trunkenbolds, der seine Familie in Elend und Schande bringt und selber im Straßengraben endigt, schreckt ab – das Beispiel des mäßig trinkenden achtbaren Mannes verteidigt den Alkoholgenuß! Warum soll man sich die kleine Anregung versagen? Man merkt ja nichts von schädlichen Folgen bei den Leuten? Das kann man hören, so oft man will.«
»Die Folgen machen sich oft erst nach Jahren bemerkbar, manchmal erst dann, wenn bereits ausgedehnte Verheerungen in den Körpergeweben stattgefunden haben und Heilung ausgeschlossen oder die Nachkommenschaft durch Vererbung entartet ist. Exzellenz haben ganz recht! Wenn unser Volk am Alkohol zugrunde geht, trifft die Schuld nicht die Säufer, sondern den mäßig Trinkenden. Ich kann's verstehen, wenn der Uneingeweihte diese Tatsache zunächst einfach nicht glaubt und den Vorwurf entrüstet zurückweist. Wir sind ja in der Mehrheit mit Wein oder Bier groß geworden, sie gehörten und gehören noch zum Hausbedarf, zur Geselligkeit, zu Arbeit und Erholung. Nun soll das mit einmal nicht mehr gelten. Darum klingt diese Behauptung so furchtbar hart, ja geradezu brutal! Und doch ist es so: der achtbare gebildete nüchterne Mann, der täglich seine paar Gläser leichten Rotwein oder Bier trinkt, trägt die Verantwortung für seines Volkes Niedergang!«
»Jawohl. Und auf diese Weise werden Männer, die vielleicht dazu berufen waren, die gewaltige Frage auf ihren Schild zu erheben, statt zu Führern unbewußt und ungewollt aus mangelnder Sachkenntnis Verführer ihres Volkes!« Der alte Herr fuhr erregt durch sein weißes Haar. »Der Gedanke ist grauenhaft!«
»Wenn unsre Regierung sich etwas früher ermannt und grundsätzlich mit der Frage beschäftigt hätte, wären wir jetzt weiter,« meinte der Professor. »Aber unsren Politikern fehlt in ungezählten Fällen der Wirklichkeitssinn, sonst würden sie nicht so gelassen an den einschneidendsten Volksfragen vorübergehen. Man darf das Leben nicht nur vom grünen Tisch aus beurteilen.«
»Nein, das darf man nicht. Aber was ich noch sagen wollte, Herr Professor – wer ist denn der Esel, der Sie im Generalanzeiger so scharf angreift? Der Kerl ist wohl meschugge?«
Linde lachte. »Exzellenz vergessen, daß ich in meinem Vortrag den täglichen mäßigen Alkoholgenuß angegriffen habe!«
»Na ja! Vielleicht waren es der verblüffenden Tatsachen zu viele für sein Gehirn!«
»Außerdem ist der Mann Brauereibesitzer,« fuhr Linde fort. »Ich bin auf eine Klage wegen Schädigung des Brennerei- und Brauereigewerbes gefaßt.«
»Und wenn Sie verurteilt werden?«
»Dann sitze ich fürs Vaterland!«
Der General erhob sich. Die blauen Augen ruhten warm auf dem klaren zielbewußten Gesicht des Mediziners.
»Schade, daß Sie Frauenarzt sind,« sagte er, während der andere ihm in den Überzieher half, »Sie sind wie geschaffen zum Staatssekretär!« Er reichte ihm die Hand. »Verzeihen Sie die Störung! Ich hielt's, wie gesagt, für meine Pflicht zu kommen. Meine Schwägerin scheint ja verrückt geworden zu sein. Da konnt' ich nicht schweigen!«
»Bitte sehr, Exzellenz. Ich bin, wie gesagt, außerordentlich dankbar für die Mitteilung. Wer weiß, wann ich diese Entdeckung gemacht hätte! Ich werde gleich morgen zu Ihrer Frau Schwägerin gehen.«
»Wenn Sie gegen fünf hingehen, treffen Sie Magna beim Portwein.«
Linde dachte nach. »Das wäre das Beste. Vielleicht kann ich's einrichten. Morgen fällt meine Sprechstunde aus.«
»Ich bin neugierig auf das Ergebnis. Meine Schwägerin hat Dampf vor Ihnen!« Er schlug seinen Kragen in die Höhe. »Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin! Es geht ihr besser, nicht wahr?«
»Danke sehr, Exzellenz! Meine Frau hat sich in den letzten Wochen entschieden erholt.«
»Das freut mich! Kein Wunder, daß deutsche Mütter in solcher Zeit zusammenklappen! Es kam zuviel auf einmal! – Wenn nur die Wahlen halbwegs vernünftig ausfallen! Sonst sind wir erledigt.«
»Vielleicht kommt's besser, als man glaubt,« erwiderte Linde. »In unsrem Wahlkreis hoffe ich bestimmt auf zwei Deutschnationale!«
»Ich auch.«
Noch einmal schüttelten sie sich die Hände.
»Guten Abend, Herr Professor!«
»Guten Abend, Exzellenz!«
Linde sah dem Davonschreitenden nach. Wie ein ragendes Schattenbild hob sich die graue Gestalt vom Winterhimmel.
Zum erstenmal fiel es ihm auf, daß die Haltung des nahezu Siebzigjährigen nicht mehr ganz so straff war wie früher.
Er blieb in der geöffneten Tür stehen. Der Schein der Hauslaterne lag auf dem schmalen Wege, bis die eiserne Gartenpforte ins Schloß fiel.
›Es ist die deutsche Not, die am Lebensmark unsrer Besten frißt,‹ dachte Siegfried Linde, als er in das stille Gelehrtenzimmer zurückkehrte, das in schicksalsschweren Wochen den Gram seiner Tage und den Kampf seiner Nächte geschaut.