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Dreizehntes Kapitel.
Zuviel.

Ein Frühgewitter wehte übers Feld,
In Tränen stand der junge Sommertag!
Ich aber saß im dämmernden Gemach
Und dacht bei mir: es ist der Lauf der Welt!

Am Morgen Blütenduft und Herrlichkeit,
Am Mittag Sturm – kennst du die Zeichen nicht?
Das Leben trägt ein wechselnd Angesicht,
Heut ist es gute, morgen böse Zeit!

Eins bleibt. Ob mich getroffen Schlag auf Schlag,
Lag um den Abend noch des Kampfes Pein,
Auf meinem dunklen Weg ein hoher Schein –
Dann wußte ich: auch heut war Gottes Tag!

 

Professor Linde hatte, vom Amalienstift kommend, seinen gewohnten Gang durch die Anlagen gemacht und sich, da seine Sprechstunde ausfiel, etwas länger wie gewöhnlich in dem blühenden Park aufgehalten. Zuletzt suchte er noch den stillen Platz auf, wo er oft nach getaner Arbeit ausruhte. Enttäuscht sah er einen Fremden auf der Bank sitzen. Schon wollte er umkehren. Da fiel ihm eine Bewegung des Mannes auf. Er blickte schärfer hin und blieb wie angewurzelt stehen. Das war ja Hermann Wächter!

Und dann saß er mit dem Heimgekehrten auf der Borkenbank und konnte sich nicht satt sehen an der kräftigen gestrafften Gestalt, an den ernsten männlichen Zügen und dem festen klaren Ausdruck der blauen Augen. War das derselbe, um den er all die Jahre hindurch gebangt wie ein Vater?

Es währte nicht lange, so lagen die Erlebnisse des jungen Amerikafahrers vor ihm ausgebreitet. Manchen Kampf hatte er kämpfen, von mancher Gewohnheit lassen müssen. Not und Sorgen hatten seinen Charakter gestählt. Das Leben reifte den Heimatlosen zur Persönlichkeit. In seinen schwersten New Yorker Tagen war er, körperlich und seelisch krank, einem edlen Großkaufmann begegnet, der sich seiner annahm. Der Millionär verhalf ihm nicht nur zu Brot und Arbeit. Er befreite ihn aus den Schlingen des Alkohols und wies dem an Gott und Menschen Verzweifelten den Weg zum Leben. Der nervös überreizte, durch Unterernährung Geschwächte genas, der Gottentfremdete, mit sich selbst Zerfallene wurde ein überzeugter Christ.

Als der Krieg ausbrach, ließ ihm die Vaterlandsliebe keine Ruhe. Es gelang ihm, als Heizer zu entkommen. Mit knapper Not entrann er mehrmals der Gefahr der Entdeckung und erreichte nach einer Fahrt voll Abenteuer und Hindernisse das Ziel seiner Wünsche. Aber noch mied er das Elternhaus. Erst wenn er seine Kraft im Kampf erprobt hatte, wollte er vor Vater und Mutter treten. Der Mannesstolz forderte diese Zurückhaltung, und er gab ihm recht. Keiner hatte nach dem Schwergekränkten gefragt, seine Briefe waren unbeantwortet geblieben; da schwieg auch er. Bis zum deutschen Rückzug stand er im Westen. In den letzten Kampfestagen ward er schwer verwundet. Monatelang lag er in Frankfurt am Main im Lazarett.

Mit glänzenden Empfehlungen versehen, ward es dem Genesenen nicht schwer, eine Stellung in einem angesehenen Leipziger Bankhause zu erhalten. Aber bevor er sich nach seinem neuen Bestimmungsort begab, zog's ihn nach Hause. Zufällig erfuhr er unterwegs den Tod seines Vaters, wie Balsam legte sich die Freude der jungen Geschwister auf den Schmerz des Heimgekehrten. Aber die eigene Mutter verleugnete den Sohn.

Bis ins kleinste hatte er dem Professor alles erzählt. Ohne die Schuld der Vergangenheit zu verringern, ohne das Verdienst von heute hervorzuheben. Von seiner unbekämpften Neigung zum Alkohol sprach er, von der bewußten Arbeitsscheu jener Tage, von seinem Haß gegen die Mutter, die er als die Hauptschuldige angesehen, bis ihn sein amerikanischer Wohltäter gefragt, ob er noch in den Windeln stecke oder ein ausgewachsener Mensch sei, der über einen freien Willen verfüge. Diese kräftige Aufrüttelung seines Selbstbewußtseins habe bessere Früchte getragen als lange Reden und christliche Ermahnungen.

Linde fragte ihn, warum er nicht schon bei seiner Rückkehr aus Amerika die Eltern aufgesucht.

»Das konnte ich damals nicht, Herr Professor,« erwiderte er ernst. »Man hatte mir zu deutlich zu verstehen gegeben, daß für den Träumer und Tagedieb, der es nicht einmal fertig bringe, das Examen zu machen, kein Platz mehr im Haufe sei. Das hat meine Mutter getan. Ich glaube ja nicht, daß sie sich klar machte, was in erster Linie mein Unglück verschuldete. Hätte sie nicht Ilse das Kindesrecht verweigert und mir in der furchtbaren Gemütsverfassung noch den Alkohol als Heilmittel empfohlen, ich glaube, ich hätte, wenn auch nicht gerade mit Auszeichnung, das Examen bestanden. Ich will mich gewiß nicht entschuldigen, ich war damals ein richtiger Waschlappen – aber freisprechen kann ich meine Mutter nicht. Bitte, mißverstehen Sie mich keinen Augenblick. Ich möchte das nur rein fachlich feststellen, denn ich hege keinerlei Groll mehr gegen sie.«

»Und was sie Ihnen heute angetan hat?« forschte Linde.

Hermann Wächter blickte vor sich nieder. »Das ist mir zunächst ein Rätsel.« Er zeichnete mit dem Stock Figuren in den Sand. »Herr Professor, offen gesagt, wollte ich heute in erster Linie in dieser Sache zu Ihnen kommen. Sonst hätte ich Sie erst morgen aufgesucht, aber ich mußte Klarheit haben. Entweder schämt meine Mutter sich meiner – wer nach Amerika geht, weil er hier nicht fertig wird, dem haftet ja doch ein gewisser Makel an – oder sie ist eine Gezeichnete, Schwerkranke. Ich fürchte, es ist das letztere.«

Lindes Augen ruhten teilnehmend auf ihm. »Und woraus schließen Sie das?« fragte er ernst.

Der junge Wächter antwortete nicht sogleich.

»Ich fand sie ungeheuer verändert,« sagte er dann zögernd, »zunächst allerdings nur äußerlich. Wir haben ja kaum miteinander gesprochen. Ihre wundervolle Figur ist kaum wiederzuerkennen, so stark ist sie geworden. Außerdem sind ihre Züge sehr verschwommen und in die Breite gegangen.« Er zuckte die Achseln. Fragend sah er den Professor an.

Aber Linde schwieg. Der Gedanke, dem Manne, der erst vor wenig Stunden den Tod dos Vaters erfahren, die harte nackte Wahrheit sagen zu sollen, war ihm unerträglich. Er sann über eine mildere, das Unglück umschreibende Form nach.

Doch dem anderen zitterte jeder Nerv in banger Erwartung.

»Herr Professor,« sagte er mit schwer verhaltener Erregung, »Sie sind der einzige, zu dem ich ganz offen sprechen darf, dem ich vertraue, wie ein Sohn dem Vater! Ich habe heute Dinge erlebt, die das Maß menschlicher Kraft fast übersteigen, und mache kein Hehl daraus, daß ich an der Grenze meines Könnens bin. Es gibt ein Zuviel.« Er atmete tief, als gält's das Letzte heraufholen aus der Seele Brunnenstube. »Ersparen Sie mir das Weitere! Ich weiß, es ist viel, was ich von Ihnen erbitte, aber ich komme nicht um die Frage herum – und zu einem anderen Arzt kann ich nicht gehen, heute nicht! Ich könnte irren und hätte die eigene Mutter bloßgestellt.« Er sprang auf. Alles flog an dem sonst so ruhigen Menschen. Er rang um das Wort.

Aber er fand nicht, was er suchte.

Darum klang's hart und scharf, als wollte der Mann über die Frau, die ihm das Leben geschenkt, Gerichtstag halten – und doch war's Sohnesliebe, die schwer gekränkt nach der Wahrheit forschte: »Herr Professor – trinkt meine Mutter?«

Die Frage war heraus.

Aschfahl stand Hermann Wächter da. Die blauen Augen hingen an den Lippen des Arztes. Aber es war nicht nur die ringende Not des Sohnes, die aus den erregten Zügen sprach, es war das aus der Tiefe der Verlassenheit geborene Begehr nach Manneswort und Mannesrat, nach der Rechtfertigung in Sturm und Streit erprobter Ehre aus edlem Munde. Und Siegfried Linde erkannte die hochgemute stolze Kraft, die über Schmerz und Not hinweg ihr Recht forderte, und freute sich des zielbewußten Kämpfers.

In tiefer Bewegung erhob er sich und ergriff seine Hände.

Und worum er sich vergeblich gemüht, das gab ihm der Augenblick. Das rein menschliche unmittelbare Empfinden, das Blut des Mannes, der zwei blühende Söhne auf dem Felde der Ehre verloren, der Vater sprach: »Ja, mein armer Junge, so ist's!«

Dann stand er still neben ihm und drückte ab und zu seine Hand. –

Die schlichte ernste Wahrheit verfehlte ihre Wirkung nicht. Der Bann wich. Zwei schwere Tränen rannen langsam über das vergrämte Gesicht.

Hermann Wächter hatte die Antwort erwartet. Er hatte sie, vielleicht unbewußt, weniger gefürchtet, als eine andere. Denn so schwer diese Wahrheit war – sie brach dem bitteren Erlebnis den Stachel des Persönlichen aus. Durch seinen New Yorker Freund und sein Studium der Alkoholliteratur über die wesentlichen Punkte unterrichtet, waren ihm die unheimlichen Erscheinungen der Rauschvergiftung nichts Neues. Er kannte die Anzeichen der schweren Charakterverbildung der Theorie nach, u. a. die ins Maßlose gehende, aller Scham entbehrende Eitelkeit, die Hand in Hand mit der skrupellosesten Lüge vor nichts zurückschreckte. Nun stand er vor der erbarmungslosen herzbrechenden Praxis.

Er fragte den Professor, wie er über den Zustand seiner Mutter denke.

»Sie ist gefährdet,« erklärte Linde. »Da ich sie nicht in Behandlung habe, kann ich kein abschließendes Urteil abgeben; doch nach allem, was ich gesehen und gehört habe, erscheint mir der Zustand ernst, wenn auch nicht hoffnungslos. Allerdings müßte nach den heutigen Erfahrungen sofort etwas geschehen!«

»Haben Sie mit meiner Mutter über die Gefahren des Alkohols gesprochen, Herr Professor?«

»Mehrmals. Ich habe nicht nur die Abstinenz meiner Mündel verlangt und durchgesetzt, sondern sie auch darauf hingewiesen, daß sie selber gefährdet ist. Aber sie hat sich bis jetzt nicht danach gerichtet. Es ist sehr schwer, einem Alkoholiker zu helfen, wenn man ihn nicht in fester Behandlung hat. Ein gelegentlicher Rat hat höchstens in den allerersten Anfängen bei sehr willensstarken Persönlichkeiten Erfolg, die nicht nur Krankheit sondern vor allem eine Schuld im Alkoholgenuß sehen. Ich habe versucht, Ihrer Mutter den Blick für das Ganze zu weiten, für die Pflichten der Frau gegen Volk und Heimat. Leider fand ich wenig Verständnis.« Er seufzte. Man merkte, er kannte sich auf diesem Gebiet aus, und Juliane Wächter war nicht der erste Fall. »Bei der veralkoholisierten Frauengestalt,« fuhr er fort, »bleibt für mich immer das Traurigste die Verarmung der weiblichen Psyche. Sie beginnt mit der Verödung des inneren Lebens, mit der Gleichgültigkeit gegen das Ideal, und endet in tausend Fällen mit leiblichem und geistigem Siechtum in trostloser Gottesferne. Ist's ein Wunder, daß Leib und Seele verwahrlosen, wenn das Zarteste, Ureigene im Weibe mutwillig verheert wird? Davor hätte ich Ihre Mutter gern bewahrt.«

Sie hatten den stillen Platz verlassen und langsam den Heimweg angetreten.

»Ich habe die religiöse Seite der Frage bisher nicht berührt,« fuhr Linde fort. »Aus dem einfachen Grunde, weil wir uns die Schuldfrage selbst beantworten müssen. Wer das nicht tut, wird nicht frei. Vielleicht werden die heutigen Vorgänge ein Anlaß zu Einkehr und Umkehr. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß Ihre Mutter zur Besinnung kommt, wenn sie merkt, daß Sie zum zweitenmal dem Elternhaus den Rücken kehrten. So wie die Dinge liegen, scheint es mir nicht richtig, daß Sie noch einen Versuch machen, Ihre Mutter von ihrem Irrtum zu überzeugen, eben weil es kein richtiger Irrtum ist, sondern ein Gebilde aus Eitelkeit, Lüge und krankhafter Täuschung. Man steht diesen verirrten Psychen als Arzt in den meisten Fällen entschuldigend gegenüber. Allerdings schwankt bisweilen das Zünglein der Wage; aber im großen Ganzen müssen wir uns vor dem harten Urteil hüten. Es spricht eben zuviel mit. Glück und Unglück, Gesundheit und Krankheit, Arbeit und Erholung, Alltag und Festtag, vor allem Gewohnheit und Überlieferung – der Alkohol beherrscht ja das ganze Leben. Besonders bei uns in Deutschland. Sie glauben nicht, wie schwer Ärzte und Seelsorger oft um die Klarheit des Urteils ringen. Denn nichts gereicht dem Menschen zu größerem Schaden als die Erhebung der Schuld zum Recht. Darum trägt der Arzt in ungezählten Fällen die zwiefache Verantwortung – für Leib und Seele.« Er blickte mit gefurchter Stirn über die schimmernden Wiesen auf die getürmte Stadt. »Wie gesagt, ich würde, wie die Dinge liegen, in Ihrer Stelle Ihrer Mutter nicht entgegenkommen. Damit wäre Ihnen beiden nicht gedient. Im Gegenteil, vielleicht zerstörte man nur die beginnende Erkenntnis. Ich würde Sie auffordern, bei uns den Lauf der Dinge abzuwarten. Aber es scheint mir aus verschiedenen Gründen ratsamer, wenn Sie diese Nacht im Gasthaus bleiben. Morgen wird man ja das Weitere sehen. Ich werde gegen Abend ganz unauffällig in einer vormundschaftlichen Angelegenheit bei Ihrer Mutter vorsprechen. Vielleicht hat sich der Wind inzwischen schon gedreht, und ich bringe Ihnen eine gute Botschaft!« Er nickte ihm freundlich zu.

Hermann Wächter war tief gerührt. »Bei Ihnen klopft doch keiner vergeblich an, Herr Professor, ich wußte es! Haben Sie herzlichen Dank!«

Er schwieg. Auf seiner Stirn blieb ein Schatten liegen.

Linde hatte den Eindruck, daß er noch mehr auf dem Herzen hatte.

»Fräulein von Stürmer haben Sie wohl noch nicht gesehen?« fragte er. »Sie ist hier!«

Wächter horchte auf. »Bei Justizrat Lucius?«

Der Professor nickte. »Sie studiert in Leipzig Musik – aber das werden Sie wissen. In den Ferien ist sie gewöhnlich hier.«

Der andere nahm den Hut von der heißen Stirn. »Nein, das wußte ich nicht.« Mit gepreßter Stimme setzte er hinzu: »Ich habe nie eine Antwort auf meine Briefe bekommen, weder von den Eltern und Geschwistern noch von meiner Braut. Da mußte ich annehmen, daß man nichts mehr von mir wissen wollte. Am Vaterhause konnte ich nicht zum zweitenmal vorbei, zumal ich mich nicht frei von Schuld fühlte, aber Ilse aufsuchen – Herr Professor, dagegen bäumt sich mein Stolz auf!«

Um Lindes Mund spielte ein feines Lächeln. »Und wenn Sie irrten?«

Hermann schüttelte den Kopf. »Hätte sie mir nicht wenigstens antworten können?«

»Vielleicht gingen Ihre Briefe verloren, wie viele andere!«

»Alle Briefe gehen nicht verloren, Herr Professor! Es ist doch auffallend, daß gerade ich, den man mehr oder weniger als verlorenen Sohn betrachtete, von keiner Seite ein Lebenszeichen erhielt!« Er wandte sich ab. »Man schämte sich meiner. Erst die Mutter, dann die Braut!«

Linde hörte die Verbitterung aus jedem Wort und schwieg. Er wollte keine falschen Hoffnungen wecken und vor allem nicht zum Zwischenträger werden, aber unwillkürlich mußte er daran denken, was Ursula ihm erzählt, und ein blasses verhärmtes Mädchengesicht stand vor seiner Seele.

Sie waren in der Viktoriastraße angelangt.

Mit offenen Armen wurde Hermann empfangen. Jedes wollte ihn zuerst begrüßen.

Nach einem gemütlichen Plauderstündchen überließ Linde den Gast Frau und Kindern und machte sich auf den Weg in die Vorstadt.

Als er durch den Wächterschen Garten schritt, blitzten die ersten Sterne am Himmel. Abendstille wob um das rosenumsponnene Haus. Er aber mußte an jene Herbstnacht zurückdenken, wo er die Schatten der Zukunft über der friedlichen Heimstätte des Freundes aufsteigen sah. Wie undurchdringlicher Nebel hatten sie sich auf das Erbe des Toten gelegt, und der Sohn stand vor schicksalsschwerem Geheimnis.

Mit banger Sorge stieg der Professor die Stufen hinan. Würde der verwirrte Geist, der das blühende Vermächtnis des Entschlafenen achtlos vergeudete, fortfahren, mit zähem Eigensinn sein eigen Fleisch und Blut zu verleugnen? Man mußte mit der schlimmsten Möglichkeit rechnen. Wurde sie aber Tatsache, was dann?

Er mußte ungewöhnlich lange warten, bis man ihm öffnete. Eine seltsame Unruhe herrschte drinnen, ein Hasten und Laufen treppauf und -ab, ein Raunen und Flüstern, als gält's in fliegender Eile etwas beiseiteschaffen. Endlich öffnete ihm Walter mit verstörtem Gesicht. Im selben Augenblick ließ die Jungfer einen schweren Tragkorb mit klirrendem Inhalt in der Dunkelheit verschwinden. Der Arzt wußte genug: Gespenster zogen durchs Haus ...

Als sich die Tür des Herrenzimmers hinter ihm und Walter geschlossen, verlor der arme Junge die Fassung und schluchzte laut. Dann kam's, worauf Linde gewartet: eine Treppe höher lag Juliane Wächter in schwerem Rausch.

Als sie merkte, daß der Sohn das Haus verlassen hatte, erwachte das Gewissen. Wie eine Rasende jagte sie unter den schwersten Selbstanklagen von einem Raum zum anderen. Auf alle mögliche Weise hatten die Kinder sie zu beruhigen gesucht. Es war umsonst. Schließlich war Walter dem Bruder nachgegangen. Als er unverrichteter Sache nach Hause kam, fand er die Mutter beim Kognak. Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelang es dem jungen Menschen in einem unbewachten Augenblick die Flasche fortzutragen. Aber es war zu spät. Die Frau war ihrer Sinne nicht mehr mächtig. –

So standen die Dinge, als der Professor kam. Da Frau Wächter nicht vernehmungsfähig war, mußte man sich von neuem aufs Warten legen. Linde tröstete Walter, so gut er's vermochte, dann ging er zu Magna, die in Tränen aufgelöst in ihrem Zimmer saß. Sie machte sich die bittersten Vorwürfe, daß sie dem Vormund nicht mitgeteilt hatte, daß dies schon der zweite schwere Anfall sei. Sie habe gehofft, es werde bei dem einen bleiben, und es nicht übers Herz gebracht, davon zu sprechen. Walter sei es ebenso gegangen. Außerdem sei ihre Tante Irrgang gerade im Hause gewesen, auf die sie sich verlassen habe. Die alte Dame sei aber kurz darauf an Grippe erkrankt, sonst hätte sie jedenfalls die Sache zur Sprache gebracht.

Es währte lange, bis das arme Kind sich beruhigte. Als sie endlich ihre Tränen getrocknet, sagte sie leise: »Herr Professor, ich möchte Ihnen noch etwas sagen, aber es darf's keiner hören.«

Sie huschte zur Tür und spähte hinaus. Niemand war draußen.

Da fuhr sie stockend, mit halblauter Stimme fort: »Herr Professor, ich möchte niemand beschuldigen, aber ich kann nicht länger schweigen. Emma bringt Mutter immer ganze Körbe voll Wein und Bier in die Schlafstube. Ich habe es selbst gesehen. Die leeren Flaschen schafft sie im Dunklen fort, damit wir nichts merken. Emma ist überhaupt soviel bei Mutter« – wieder stockte sie. Das treu gehütete Geheimnis wollte nicht über ihre Lippen. Dunkelrot wandte sie sich ab.

Linde war ans Fenster getreten. Das junge Mädchen tat ihm in der Seele leid. Wenn seine Kinder sich ihrer Mutter hätten schämen müssen, nicht auszudenken war's!

»Emma muß aus dem Hause,« sagte er. »Ich bin ihr heute selber mit einem sehr verdächtigen Korbe begegnet!«

Magna blickte auf. »Wenn das ginge! Sie ist schon so furchtbar lange hier! Und Mutter hat sie sehr verwöhnt. Ich glaube, sie trinkt auch. Mutter kann das alles unmöglich allein verbrauchen. Aber bitte, Herr Professor, sagen Sie nicht, daß ich mit Ihnen gesprochen habe! Emma ist so heftig, sie ist imstande und tut mir etwas.«

Linde versprach, Magna nicht zu nennen.

Nachdem er ihr immer wieder versichert, daß der Zustand zwar ernst, aber nicht aussichtslos sei, verabschiedete er sich.

»Sollte Ihre Mutter nach Ihrem Bruder fragen, so teilen Sie es mir, bitte, sofort mit. Walter kann morgen früh nach dem Amalienstift sprechen, wo ich von acht Uhr an bin!« Freundlich klopfte er sie auf die Schulter. »Vor allen Dingen verlieren Sie nicht den Mut, liebes Kind! Es kann noch alles gut werden!«

Ein dankbares Lächeln huschte über ihr ernstes Gesicht. Leise schmiegte sie ihre kleine Hand in seine Rechte.

»Und wenn wieder etwas Schweres kommt, vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen den Vater ersetzen möchte!«

Ihre Augen füllten sich aufs neue mit Tränen.

»Nicht wahr, das brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen, Magna?« Liebevoll sah er auf sie nieder.

Da blickte sie ihn voll an. »Nein, Herr Professor, das brauchen Sie nicht! Wenn mir ein Mensch Vater ersetzen kann, so sind Sie's!« Und mit töchterlicher Ehrerbietung neigte sie den blonden Kopf über seine Hand und küßte sie.

Linde wehrte ihr nicht. Er fühlte, es war der natürliche Ausdruck des Dankes für den Beistand, den er immer wieder ihrer kranken Mutter leistete, und ihr kindliches Vertrauen rührte ihn tief. Ungemein lieblich kleidete es das erblühende Mägdlein.

Auf der Diele erwartete ihn Walter und fragte, ob er ihn ein Stück Weges begleiten dürfe.

Linde überlegte.

»Es ist besser, du bleibst hier,« entschied er dann. »Magna ist sonst ganz allein.« Er sprach das übrige nicht aus.

Aber der junge Mensch verstand ihn.

»Natürlich,« sagte er, »ich hätte daran denken sollen! Nein, nein,« unterbrach er die Schwester, die ihm die Freude nicht zerstören wollte, »ich gehe keinenfalls. Emma könnte frech werden!«

Sie lachte leise. »Emma wird nicht frech, wenn man ihr den Willen läßt. Ich werde mich hüten, dem Drachen in den Weg zu laufen.«

Aber es blieb dabei.

Bis zur Gartenpforte begleiteten die Geschwister den Vormund. Dann trennten sie sich.

Arm in Arm standen die zwei im Mondlicht und schauten dem Manne nach, der mit heiligem Pflichtgefühl über ihrer vaterlosen Jugend wachte.

»Gott sei Dank, daß wir den haben,« sagte Walter, als die hohe Gestalt im Schatten der Nacht verschwunden war, »es wäre schlimm um uns bestellt!«

Sie nickte. In ihrer Seele klang Siegfried Lindes Wort wieder. Wie einen Edelstein hütete sie es, wie einen kostbaren Schatz. »Wenn wieder etwas Schweres kommt,« hatte er gesagt. Ach, es würde nicht lange auf sich warten lassen! Sie hatte immer eine geheime Scheu vor dem ernsten Manne gehabt, vor dem Meister, wie sie im Amalienstift ihren verehrten Leiter nannten. Nun war das Eis gebrochen. Sie wußte, daß sie zu ihm kommen durfte mit ihren Kindessorgen. Es sollte auch gewiß nur im alleräußersten Notfall geschehen, daß sie seine kostbare Zeit in Anspruch nahm.

Langsam schritten sie unter den duftenden Fliederbäumen dem Hause zu. Schweigend lag's vom Mondlicht umflossen in dem großen blühenden Garten. Unten am Bach schluchzte eine Nachtigall. Über den Wiesen verwehten die schwermütigen Klänge eines Volksliedes. Durch die sternklare Nacht geisterte uraltes Leid ...

Aber die beiden achteten nicht darauf. Sie lauschten zu den stillen Fenstern empor, wo eine verirrte Frauenseele dem Morgen entgegenträumte.

Dann schritten sie die Stufen hinan. Haarscharf hoben sich die Gestalten vom weißen Mauerwerk. Das Haar des Mädchens flimmerte wie gesponnenes Gold. Um die feinen Glieder wehte der schwarze Schleierstoff.

Der Knabe ließ die Schwester ins Haus treten.

Im weinumkränzten Türrahmen lebte das Bild.

Dann drehte sich der Schlüssel im Eisen.

Das Licht erlosch.

Um die stillen Giebel kreiste ein Nachtvogel, und eine ferne Glocke schlug an.


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