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Ob dein Acker groß oder klein, –
Im letzten Gericht am jüngsten Tage
Ergeht an dich nur die eine Frage:
Hieltst du ihn rein?
Professor Linde konnte nicht über Frau Wächter klagen. Sie hielt ihr Versprechen. Freilich nur dem Buchstaben nach. Die Alkoholfrage war, soweit sie ihre beiden jüngsten Kinder betraf, erledigt. Darüber hinaus hatte sie sich ja nicht gebunden, was ging ihn ihre Person an? Doktor Trautmann, der doch gewiß ein tüchtiger Arzt war, hatte ihr noch nie verboten, Wein und Bier zu trinken. Sie verkannte nicht Lindes treu gemeinte Absicht, aber jeder Mensch hatte nun einmal seinen Tollpunkt, und das war bei ihm die Alkoholfrage. Für Kinder und junge Leute war völlige Abstinenz nur empfehlenswert, sie hatte das auch ihm gegenüber stets anerkannt. Daß dagegen ein reifer Mensch, der des Lebens Last trug, auf die kleine Anregung verzichten sollte, konnte keiner verlangen. Wieviel unnötige Sorgen und trübe Gedanken verscheuchte der Wein, wie vorzüglich wirkte ein Glas gutes Bier auf den Schlaf! Aber sie hatte es zu oft beobachtet, daß Menschen, die sich im Interesse der Gesamtheit für eine gute Sache einsetzten, die Grenzen ihrer Tätigkeit überschritten und andere, deren Zugehörigkeit völlig belanglos war, mit ihrer Prinzipienreiterei quälten. Der gute Linde war auf dem besten Wege dazu.
Und sie blieb ihrer Gewohnheit treu. Daß es in erster Linie die Schuld war, die sie zu bannen suchte, um wenigstens zeitweise Ruhe vor den Anklagen des Gewissens zu haben, gestand sie sich nicht ein. Ohne Alkohol glaubte sie körperlich und seelisch zusammenbrechen zu müssen, folglich mußte sie ihn haben. Es war der Ruin der Frau, daß ihr Hausarzt keine grundsätzliche Stellung zu der Frage einnahm. Sie wäre leichter zur Erkenntnis ihres folgenschweren Irrtums gekommen, und Linde hätte nicht immer wieder tauben Ohren gepredigt. Aber sie gehörte zu den Frauen, die eine Zeitlang auch den erfahrenen Arzt täuschen, die durch Erscheinung und Persönlichkeit zum Blender werden. Doktor Trautmann mußte wohl in dem Glauben leben, daß sie in bezug auf Wein und Bier mäßig sei. Ihre sehr nervöse Veranlagung sowie ihre sonstige erbliche Belastung hätten aber die Verordnung völliger Abstinenz geboten.
So fuhr Juliane Wächter fort, Leib und Seele zu vergiften. Schon machten sich in ihrem Gefühlsleben Veränderungen bemerkbar. Sie verflachte derartig in ihren Ansichten, daß die Kinder ihre Mutter oft gar nicht mehr verstanden. Kleinigkeiten brachten sie in Harnisch. Die einst so Zuverlässige, Gewissenhafte wurde mit jedem Tage unzuverlässiger, unberechenbarer, launischer. In Taktfragen versagte sie gänzlich und konnte sehr laut und unfein werden, was früher durchaus nicht ihre Art war. Die kleine zartbesaitete Magna und der feinfühlige Walter litten sehr unter ihrem veränderten Wesen. Beide machten sich ihre Gedanken. Bisweilen überkam sie die Angst, Juliane könne nervenkrank sein. Sie versetzten sich in ihre Lage, so gut ihr kindlicher Sinn es vermochte. Sie suchten und fanden Erklärung und Entschuldigung für vieles. Aber sie blieben bei Halbheiten stehen. Mit einer Grundsätzlichkeit, die gewollt schien. Eins mochte sich vor dem anderen schämen, die Frage zu stellen nach dunklem Geheimnis. Denn keines vergaß einen Augenblick, daß es von der Mutter sprach. Darum wurde die Alkoholfrage nicht berührt. Obwohl sie in der Luft lag. Sie waren zu jung, um die Größe der Gefahr zu erkennen, zu unerfahren, um den Ernst der Stunde zu erfassen. Sonst hätte Kindesliebe die letzte Scheu abgestreift und Kindespflicht gehandelt. Aber sie ahnten ja nicht, was sich seit Jahr und Tag hinter den Kulissen abspielte.
So ging die Zeit.
Mit dröhnendem Schritt kam sie an der Tür der Frau vorüber. Sie achtete nicht darauf. Auch ihre Vaterlandsliebe schien ein Opfer geistigen Niedergangs geworden zu sein. Ihre Seele glich einer Trümmerstätte, darauf kein Blümlein gedeiht. Nur eine erwuchs dem Totenacker, die dürre Gestalt der Sorge um Hab und Gut. Mit brennenden Augen schielte sie nach den Stätten des Aufruhrs hinüber. Was Tausende bewußt vor der breiten Öffentlichkeit preisgaben – die heiligsten, tief innerlichen Werte, den höchsten, über das Menschenmaß hinausragenden Besitz, Gottesglauben und Heimatliebe – das ließ sie unbewußt und ungesehen im Banne des Weingeists achtlos fallen.
Juliane Wächters innere Güter hatten allerdings keinen starken Lebensnerv. Die strenge Orthodoxie ihres Elternhauses hatte eine Fehlfrucht gezeitigt. Sie war nicht religionslos, und die schlichte Frömmigkeit ihres verstorbenen Mannes war nicht ohne Einfluß auf sie geblieben. Aber die Religion war für sie in erster Linie Gefühlssache, nicht Norm ihrer Handlungen. Was die Treue am Tage säte, zerstörte der Feind des Nachts. Es war kein guter Geist, der bei ihr einkehrte, als sie vor mehreren Jahren, um neuralgische Schmerzen zu betäuben, zum Alkohol ihre Zuflucht nahm. Sie wußte, daß sie unrecht tat und verheimlichte es. Aber die Weigerung der Anerkennung der Gottesherrschaft im eigenen Leben hat immer zur Verbildung des Charakters und Verödung des Herzens geführt. Unordnung im Haushalt der Seele, die Überschätzung eigenen Könnens und andererseits der völlige Mangel an Selbstachtung sind solchen Ackers Ernte. Über des Lebens Zweck und Ziel breiten sich dichte Schleier. Die hohen Pflichten des Weibes zerpflückt eine erbarmungslose Hand und streut sie in alle Winde. Die starke unlösbare Einheit von Mutter und Volk wird leerer Begriff, und der Wert deutscher Frauenwürde geht verloren.
Juliane Wächter war nicht die erste, die infolge selbstgewählter Knechtschaft diese schwere Einbuße erlitt. Bei oberflächlicher Begegnung täuschten die Sicherheit und Liebenswürdigkeit der weltgewandten Frau über die Inhaltlosigkeit ihres Wesens hinweg. Denn noch immer verstand sie zu bezaubern. Nur wer tiefer in ihr Leben schaute, gewahrte die stetig fortschreitende Verheerung. Manch treuer Freund ihres Hauses schüttelte verständnislos den Kopf und fragte sich nach den Gründen dieser seltsamen Veränderung. Aber keiner erkannte die Ursache: die Herrschaft des Leibes über die Persönlichkeit. Traurig schlossen sie ihr Urteil ab: ›Es ist nicht mehr die Juliane Wächter von früher.‹ Manch einer setzte im stillen hinzu: ›Wenn ich's nicht mit meinen eigenen Augen sähe, würd' ich's nicht glauben.‹
Und sie hatten recht. Sie war nicht mehr die alte. Ob ihr selber in lichten Stunden die Erkenntnis kam, daß der Charakter nicht ein von vornherein Fertiges ist, daß er wird? Daß sein Werdegang Lebensarbeit fordert, daß Selbstzucht, Grundsätzlichkeit, Folgerichtigkeit des Handelns immer wieder die körperliche und geistige Gesundheit bedingen? Ob sie's einsah, daß der Ungehorsam gegen die großen Lebensgesetze sich zwiefach rächt, weil Menschen- und Völkerschicksal in der Ewigkeit wurzeln?
Ein Schleier lag über dem Wesen der Frau – – –
*
Es war an einem veilchenblauen Frühlingstag. Mutter und Tochter hatten einen Spaziergang gemacht. Magna kam mit Wiesenblumen beladen nach Hause. Juliane war das Bücken zu schwer geworden. Erhitzt und über Kopfschmerzen klagend, begab sie sich in ihr Schlafzimmer und legte sich auf das Ruhebett. Keiner durfte sie stören, nur die langjährige Jungfer hatte Einlaß.
Magna hatte es schon oft schmerzlich empfunden, daß Emma ihr vorgezogen wurde, wenn die Mutter krank oder angegriffen war. Warum konnte sie ihr nicht ihren Tee bringen, sie hätte es doch so gern getan. Statt dessen ging Emma bei ihr ein und aus. Was hatte sie jetzt wieder bei der Mutter zu tun? Sie wollte sich doch ausruhen. Und Magna zergrübelte, wie so oft schon, ihr Köpfchen über Julianens Eigentümlichkeiten. Es kam hinzu, daß Emma diese Bevorzugung durchaus nicht vertrug. Man konnte sie noch so vorsichtig behandeln, sie war alle Augenblicke schlechter Laune. Magna ging ihr möglichst aus dem Wege. Walter nahm den Kampf mit ihr auf. Er fand sie frech und lebte in offener Feindschaft mit ihr. Erst kürzlich hatten sie einen Kampf bis aufs Messer, der damit endete, daß Walter sie eine unverschämte Person nannte. Da hatte sie ihn von oben bis unten angesehen und im Hinausgehen spitz erwidert: »Ich bin keine ›Person‹! Merken Sie sich das, Sie grüner Junge!« Seit jener Stunde würdigte er sie keines Blickes mehr. –
Magna stand am offenen Fenster und blickte nachdenklich in den knospenden Garten hinab. Die ›unverschämte Person‹ hätte Walter sich schenken können, aber davon abgesehen hatte Emma sich während des Krieges zu einem richtigen Hausdrachen entwickelt. Die schreckliche Zeit hatte ja geradezu die Unverschämtheit gezüchtet. Außerdem verwöhnte die Mutter sie viel zu sehr. Es war kein Wunder, daß sie sich wie ein Pfau spreizte, wo man sie der eigenen Tochter vorzog.
Eine Träne rann über die Wange des jungen Mädchens. Sie war so verlassen seit des Vaters Tode. Solange er sie mit seiner Liebe umgab, war es ihr weniger zum Bewußtsein gekommen, daß die Mutter sich nicht viel um sie kümmerte. Jetzt ließ das Gefühl der Vereinsamung sie nicht mehr los. Julianens Art war so wechselnd, daß man über ihre wahren Gefühle oft im unklaren blieb. Heute überschüttete sie die Tochter mit Zärtlichkeiten, morgen schenkte sie ihr kaum einen Blick. Magna war froh, daß sie Walter hatte, mit dem sie sich über vieles aussprechen konnte. Aber die Mutter vermochte der Bruder ihr nicht zu ersetzen. Das konnte überhaupt kein Mensch. Auch der treuste Vater nicht. Die letzten schweren Wochen, die so manches in dem jungen Kinde gereift, hatten ihm greifbar deutlich vor Augen gestellt, was seine werdende Seele brauchte. Es war das Herz der Mutter. Und die erwachenden Sinne begannen tausendjährige Wahrheiten zu verstehen. Nicht jede, die Kinder hatte, war eine Mutter. Gab sie ihnen die Seele nicht, so war ihr Muttername ein Trugwort. Das Blut des Mägdleins schlug der Frau entgegen, von der es Leben und Wesensart empfangen. Leidenschaftlich, voll heißer Sehnsucht, begehrte es ihres Reichtums Fülle. Nichts Geteiltes, Halbes. Das ganze volle Maß. Man konnte nicht nebenher Mutter sein, wann liebte ein rechtes Kind die Mutter nur in den Freistunden? Der ganzen Kraft, der ganzen Innigkeit bedurft' es, sonst fehlte etwas am vollen Segen. Nie war ihr der Muttername so warm und leuchtend, so heilig erschienen wie heute, nie hatte sie das schöne Pädagogenwort ›Fest wie ein Diamant und zart wie eine Mutter‹ heißer geliebt. Und doch sagte sie sich mit weher Bitterkeit, daß gerade diese Züge in dem verwandelten Wesen ihrer Mutter fehlten.
Ein Schatten lagerte auf ihrer Stirn, als sie den Blick von dem blühenden Bilde wandte und sich an den Nähtisch setzte. Über eine Handarbeit gebeugt, lauschte sie nach Julianens Zimmer hinüber. Emma schien sie verlassen zu haben, es war alles still. Wie gerne hätte sie einmal nach ihr gesehen! Aber sie durfte ja nicht. Wieder sah sie hinaus. Was war's für ein herrlicher Tag! Am liebsten hätte sie noch einen Spaziergang gemacht. Rockenaus gingen immer um diese Zeit. Wenn sie sie abholte? Aber es hätte doch sein können, daß die Mutter sie brauchte.
Wieder lauschte sie. Da hörte sie die Jungfer drüben lachen.
Das Blut schoß in ihr Kindergesicht. Sie biß die Zähne zusammen. Aber die Tränen ließen sich nicht mehr zurückhalten. Sie legte den Kopf auf die verschränkten Arme und weinte zum Herzbrechen.
Da klopfte es.
Erschrocken fuhr sie auf und trocknete ihre Tränen. Dann eilte sie zur Tür.
Aber schon blickte Frau von Irrgangs gütiges Matronengesicht herein.
»Nun, Magna? Ganz allein?« Die hellen Augen ruhten auf der Nichte, die unter dem forschenden Blick die Wimpern senkte. »Ist Mutter nicht zu Hause?«
»Mutter hat Migräne. Sie hat sich, wie's scheint, auf dem Spaziergang überanstrengt.«
»So. Ihr geht ja aber gar nicht weit.«
»Wir waren am Forellenteich. Ich wunderte mich auch, daß ihr der kurze Weg zuviel wurde. Mutter ist schon weiter gegangen.«
Und Magna zuckte die Achseln. Die Tante wußte ja doch, daß nicht alles stimmte. Den klugen braunen Augen konnte man nichts verbergen. Sie hatte großes Vertrauen zu der Schwester ihres Vaters. Manches in ihrem Wesen erinnerte sie an den Verstorbenen. Trotzdem war bis zur Stunde kein Wort der Klage über ihre Lippen gekommen. Immer wieder machte ehrerbietige Kindesliebe vor dem Mutternamen halt. Aber heute hatten die Tränenspuren sie verraten; und als Elisabeth Irrgang sagte, sie habe die Nichte mit in ein Kirchenkonzert nehmen wollen, aber die Mutter werde sie ungern entbehren, da brach der Damm, und der langverhaltene Schmerz machte sich in leidenschaftlichem Weinen Luft.
Frau von Irrgang verstand mit jungen Mädchen umzugehen. Auf sie paßte Magnas Lieblingswort von der Festigkeit des Diamanten und der Zartheit der Mutter. Sie verkörperte geradezu diese beiden Eigenschaften. Denn obgleich selbst kinderlos, atmete ihr ganzes Wesen Mütterlichkeit. Sie hatte lange schwer daran getragen, daß ihr Kindersegen versagt blieb. Ja, der Frau im weißen Haar konnten noch Tränen ins Auge steigen, wenn sie andere ein Enkelein herzen sah. Aber die Kraft, die ihr den frühen Witwenweg gehen half, versagte auch hier nicht. Sie trug nicht nur geduldig des Lebens Last, sondern ward in ihrer stillen, fröhlichen Art, ihrem schlichten Christentum eine Quelle des Segens für andere. Besonders jungen Menschen wurde sie durch die geistige Frische und klare Festigkeit ihres Wesens zu einer treuen Helferin in mancherlei Nöten.
Sie hatte den Arm um die Nichte gelegt und ließ sie sich ausweinen.
Es währte lange, bis Magna sich beruhigte. Verhaltene Sehnsucht und unterdrückte Kindesliebe wollten ihr das Herz sprengen.
Und dann hatte der Schmerz sich gewaltsam Bahn gebrochen. Als hätt's eine Welle entführt und trüg's eilends talwärts, entfloh das Wort den Lippen des einsamen Kindes: »Mutter braucht mich nicht!«
Aber als sie's gesprochen, verbarg sie das Gesicht in den Händen.
Die alte Frau war tief erschüttert. Mitleidig strich sie über das goldhaarige Köpfchen.
Was sollte sie tun? Entschuldigen konnte sie ihre Schwägerin nicht. Sie sagte sich längst, daß das Haus ihres Bruders ein dunkles Geheimnis barg, aber der letzte Beweis fehlte. Ihr Bruder Konstantin hielt zwar nach wie vor an seiner Behauptung fest, daß Juliane dem Trunk ergeben sei, aber sie hatte sich nie selber davon überzeugen können. Man merkte der Frau nichts an, was die Ansicht des Generals rechtfertigte. Einmal hätte man sie doch überraschen müssen. Die alte Dame wollte daher mit eigenen Augen sehen, ehe sie urteilte. Daß ihr verstorbener Bruder denselben Vorwurf gegen seine Frau erhoben hatte, besagte gar nichts für sie. Ein schwerkranker, nervös überreizter Mann, dessen Zustand völlige Enthaltsamkeit gebot, konnte leicht genug geneigt sein, den mäßigen Alkoholgenuß seiner Umgebung durch das Vergrößerungsglas zu betrachten. Aber trotzdem traute auch sie Juliane nicht. Die beiden Schwägerinnen hatten sich nie verstanden. Sie waren zu verschieden, und die junge Frau scheute Elisabeth Irrgangs klare, zielbewußte Art. Darum beobachtete sie im Verkehr mit der Schwägerin stets jene liebenswürdige Zurückhaltung, die die Maske niemals fallen läßt. Sie war, mit einem Wort, auf der Hut vor ihr. Auf keinen Fall durfte sie einen tieferen Blick in ihr Leben tun. Sie verkehrte viel mit Lindes und konnte ihr gefährlich werden. Darum war Vorsicht am Platze. –
Magna hatte sich ausgeweint und ausgesprochen. Frau von Irrgang hatte ihr das Rätselhafte im Wesen ihrer Mutter allerdings nicht erklären können, aber das arme Kind war schon froh, ihr sein Herz ausschütten zu dürfen.
»Ich wäre längst zu dir gekommen, Tante Elisabeth,« schloß sie ihren ausführlichen Bericht, »aber du begreifst wohl, daß mir der Entschluß schwer wurde.« Sie errötete. »Wenn ich nur wüßte, wozu ich eigentlich da bin, ich komme mir so überflüssig vor.«
Elisabeth Irrgang schüttelte den Kopf. »Das ist ganz verkehrt gedacht, liebes Kind,« sagte sie ernst. »Wir sind weder überflüssig noch unersetzlich. Gott braucht jeden von uns in seinem Haushalt. Und wenn nichts weiter von uns verlangt wird, als daß wir unsern Mitmenschen ihre Last tragen helfen – wir haben auf dem Platz, auf den Gott uns gestellt hat, unsre Pflicht zu tun, so lange er will! Manchmal fordert er nichts, als diese Treue im Kleinen.«
Magna senkte den Blick.
»Ich würde ja gern alles tun, wenn Mutter mich nur ein bißchen lieb hätte,« sagte sie leise. »Aber sie hat Thea immer vorgezogen, und seit sie fort ist« – sie stockte und sah zur Seite.
»Nun?« forschte die Tante.
»Seit sie fort ist, spielt Emma die erste Violine. Sie kann tun und lassen, was sie will, und Mutter hat sie oft stundenlang bei sich. Heute darf auch wieder keiner hinein außer ihr. Ich glaube, sie ist noch drin.«
»So.« Frau von Irrgang blickte nachdenklich vor sich nieder.
Das sah allerdings sehr danach aus, als ob der General recht hatte. Kaltstellung der Tochter und Vertraulichkeit mit der Jungfer. Eine der bezeichnendsten Erscheinungen des alkoholischen Typs. Unwillkürlich mußte sie an einen Fall in ihrer Bekanntschaft denken, wo die Köchin ihrer Herrin den täglichen Weinbedarf im Dunklen durch Helfershelfer besorgte, damit der Bestand im Keller nicht in auffälliger Weise verringert würde. Die Familie wurde dadurch jahrelang getäuscht und entdeckte das Unheil erst, als man die Frau eines Tages betrunken im Rinnstein fand. Die armen Töchter mochten sich kaum mehr auf der Straße sehen lassen.
Sie unterdrückte einen Seufzer. Für Magnas zarte Schultern war solch eine Last zu schwer.
Aber was tun? Mehr oder weniger stützte man sich immer noch auf Vermutungen. Der Suff – ihres Bruders Lieblingsausdruck – war nun einmal ein dehnbarer Begriff, der mancherlei Deutung zuließ. Sie hatte ihm das schon oft entgegengehalten. Aber sein Urteil über Julianens alkoholische Neigungen war abgeschlossen. Er blieb dabei, daß ihr eigner Mann es ihm mit tiefem Schmerz in einem seiner letzten klaren Augenblicke gesagt habe, außerdem müsse man ja blind sein, wenn man nicht merke, daß mit der Frau etwas in Unordnung sei. Und er schloß mit der Behauptung, Juliane habe in der letzten Zeit immer etwas nach Alkohol gerochen. Frau von Irrgang hatte nichts bemerkt. »Du hast eben nicht meine feine Nase,« erwiderte der alte Soldat lachend. »Wenn sie auch äußerlich einer Kohlrübe gleicht, einen zweiten solchen Riecher findet man nicht so leicht, wart's nur ab; wir können noch was erleben.« – – –
Sie hielt die Hand der Nichte in der ihren. »Verlier nicht den Mut, Magna,« sagte sie aufmunternd. »Deine Mutter hat schwere Zeiten hinter sich, ihre Nerven sind überreizt. Es kann alles noch wieder besser werden.«
»Ach, Tante Elisabeth, ich habe immer solche Angst, daß Mutter ein geheimes Leiden hat! Du glaubst nicht, wie verändert sie ist, manchmal weiß ich –« sie stockte mitten im Satz.
In Juliane Wächters Schlafzimmer sang eine heisere Stimme: »Ach, du lieber Augustin.«
Dazwischen verwahrlostes Lachen, gurgelnde Töne, Beruhigungsversuche der Jungfer.
Dann sekundenlang Stille.
Angespannt lauschten Tante und Nichte.
»Rock ist weg, Stock ist weg!«
»Augustin – – –«
Wieder das entsetzliche Lachen.
Bleich wie der Tod starrte Magna auf die Tür.
Da hörte man drüben einen schweren Fall.
Mit einem Aufschrei fuhr das junge Mädchen in die Höhe. – – –
*
»Emma, schließen Sie auf! Ich bin's, Frau von Irrgang!«
Die alte Dame stand vor der verschlossenen Tür.
Keine Antwort. Nur ein dumpfes Geräusch, als würde eine schwere Masse über den Teppich gezogen und ab und an ein Stöhnen, sonst kein Laut.
»Emma!« Sie schlug mit der geballten Rechten gegen die Tür.
Drinnen huschten flinke Füße hin und her. Die Bettstelle ächzte. Kissen wurden zurechtgerückt. Dann ein Klirren, als schlügen Flaschen aneinander.
Endlich wurde die Tür geöffnet. Mit hochrotem Kopf stand die Jungfer auf der Schwelle. Die gnädige Frau möge entschuldigen, daß sie nicht eher aufgemacht habe. Frau Wächter sei ohnmächtig geworden, sie habe sie erst zu Bett bringen müssen.
Elisabeth Irrgang ließ die Person stehen, ohne sie einer Antwort zu würdigen. Sie sah sie nur von oben bis unten an, als wollte sie sagen: ›Wenn man ohnmächtig wird, pflegt man nicht ›Ach, du lieber Augustin‹ zu singen!‹
Magna war mit großen scheuen Augen auf der Schwelle stehen geblieben, als fürchte sie den Anblick drinnen.
Am liebsten hätte die alte Frau das arme Kind mit nach Hause genommen. Aber alles Auffällige mußte vermieden werden. Sie konnte zunächst nichts tun.
Mit einem Gemisch von Scham und Ekel trat sie an das Bett ihrer Schwägerin. War das wirklich nur Krankheit, wie viele sagten? Ihrem willensstarken Geist widerstrebte diese Erklärung. Heute mochte die zur Sucht gewordene Angewohnheit kranke Züge tragen, aber früher, als ein gesunder Wille sich betören ließ? Wenn jede Sünde mit Krankheit oder Nervenzerrüttung entschuldigt wurde, brauchte man schließlich kein Strafgesetzbuch mehr. Und gerade Trunksucht war in ungezählten Fällen eine Schuld, ein Laster – nicht oft genug konnte man's aussprechen.
Sie gab der Jungfer Verhaltungsmaßregeln, dann ging sie zu Magna, die sich in ihr Stübchen zurückgezogen hatte.
Keine Frage kam über die Lippen des jungen Mädchens. Ihre Tränen schienen versiegt. Auf dem lieblichen Gesicht lag ein Gram, der schärfere Züge trug, als die Trauer um den Vater.
Die Frau im weißen Haar hatte vieles erlebt, aber nichts hatte ihr ans Herz gegriffen, wie die Not dieses Kindes. Sie hatte das Gefühl: ›Rührst du daran, so zerbricht die Seele!‹ In den blühenden Garten war der Rauhreif gefallen. Nun lag das Glück in Scherben. Ob sie's je verwand?
Es war ein eigen Ding um eine Mutter. Kindesliebe kannte nichts Holderes. Gleich nach Gott dem Herrn kam dem rechten Kinde die Mutter. Darum kannte es auch kein größeres Herzeleid, als wenn ihr Schleier den Staub der Gasse streifte oder ein Edelstein aus ihrer Krone fiel. Mütter waren Herzensheilige.
Frau von Irrgang dachte an ihre eigene Jugend zurück, an das Bild der feinen zarten Frau mit dem reichen Innenleben. Das Herz wäre ihr gebrochen, hätte sie einen Flecken auf den geliebten Zügen gewahrt, an nichts auf der Welt hätte sie mehr geglaubt. Denn Kinder verstehen nicht, wenn Mütter sündigen. – – –
Lange saß sie bei dem Mägdlein im Erker. Ihre Hand strich über die weiche Wange, aber sie sagte nichts. Und das Kind wollt' es nicht anders. Jedes Wort hätte seinen Schmerz verschärft. Aber es lehnte den Kopf zutraulich an die Brust der alten Verwandten und ließ sich von der welken Hand liebkosen.
Die eine gab aus ihres reichen Lebens Fülle, die andere ruhte vom ersten Kampfe aus. –
Vom Turm schlug es sieben. Die Matrone erhob sich.
Sie nahm das junge Gesicht in beide Hände und blickte tief in die traurigen Augen. Dann küßte sie abschiednehmend die reine Stirn.
Schweigend schritten sie miteinander die Treppe hinab.
Immer wieder mußte Elisabeth Irrgang die Nichte ansehen. Es war ihr, als trüge sie die Trauerkleider um die Lebende.
Und so oft sie auf dem Heimweg nachsann über des stillen, feinsinnigen Kindes Art, sagte sie sich mit tiefem Schmerz, daß es die Mutter verloren.