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Erstes Kapitel.
Im Schatten.

Ich hab ein festlich Haus gekannt,
Umkränzt von duft'gen Blüten,
Die Fenster voller Sonnenschein –
Ich dacht': Hier kann das Glück gedeihn!
Mög's Gott behüten!

Ob seine Engel über Nacht
Das Haus vergessen hatten?
Als ich's am Morgen wiedersah,
Da wußt ich nicht, wie mir geschah –
Es lag im Schatten!

 

»Darf ich bitten!«

Ausgerechnet zum siebenundzwanzigstenmal klang die wohllautende freundliche Stimme, und die hohe Gestalt Professor Lindes erschien auf der Schwelle des Sprechzimmers.

Wer ihn nicht kannte, hätte auf den ersten Blick alles andere in dem schwarzhaarigen Hünen vermutet – einen Landwirt, einen Fechtschulmeister oder Jäger – nur keinen Frauenarzt. Und doch war er wie geschaffen für seinen Beruf und so stark in Anspruch genommen, daß er oft nicht wußte, wie er die Arbeit bewältigen sollte. Aber kerngesund, schaffte er das Übermaß, ohne das Geringste von seiner körperlichen und geistigen Frische einzubüßen.

Siegfried Linde trat zurück, um der sich erhebenden Dame Platz zu machen. Es war die letzte. Eine schlanke Matrone mit schneeweißem Haar in Witwentrauer. Er kannte sie. Mit ihrem verstorbenen Manne, einem hervorragenden Augenarzt, eng befreundet, verkehrten er und seine Gattin viel mit der liebenswürdigen feingebildeten Frau.

Sie reichten sich die Hände.

»Herr Professor, ich möchte nur fragen, wann ich Sie in einer Familienangelegenheit sprechen darf?« sagte Frau von Irrgang. »Heute, nach der langen Sprechstunde, möchte ich Ihre Zeit keinesfalls mehr in Anspruch nehmen.«

Er lachte. »Ich bitte Sie, meine gnädige Frau, eine Unterhaltung mit Ihnen ist eine Erholung für mich!«

»Nein, nein, Sie müssen einen Dauerlauf machen – wann darf ich wiederkommen?«

»Sie bleiben hier!«

Er rückte ihr einen Stuhl an den Schreibtisch. »Ist Major Wächter kränker? Ich bin lange nicht bei ihm gewesen. Meine Zeit für freundschaftliche Besuche ist leider sehr knapp bemessen.«

Sie setzte sich.

»Der Zustand meines Bruders ist ernst. Wenn auch keine unmittelbare Gefahr für die allernächste Zeit zu bestehen scheint, so muß man doch auf alles gefaßt sein. Das Herz verschlechtert sich zusehends, und mit der Leber sieht es nicht besser aus. Professor Aster aus Berlin, der neulich hier war, sagte mir, er hätte wenig Hoffnung.« Sie seufzte. »Mein armer Bruder quält sich jetzt mit allen möglichen Dingen, besonders mit der Frage der Vormundschaft für Walter und Magna. Mein ältester Bruder hat sie abgelehnt. Er versteht sich leider gar nicht mehr mit meiner Schwägerin. Sie ist ja auch sehr verändert. Seit Hermann in Amerika ist und Waltraut in die Anstalt mußte, ist sie nicht mehr die alte. Kein Wunder, wenn einer Mutter solche Lasten zu schwer werden!«

Er nickte zustimmend. »Ja, ich glaub's! Und die Nerven Ihrer Frau Schwägerin sind auch nicht die besten. Sie ist ja jetzt längere Zeit nicht bei mir gewesen. Als sie das letztemal in meiner Klinik lag, hatten die Schwestern es nicht immer ganz leicht mit ihr. Aber Sie haben recht, sie hat Dinge erlebt, die einen Stärkeren umwerfen können.«

Er ließ die Finger mit einem Briefbeschwerer spielen. Nachdenklich ruhte sein Blick auf dem Dantekopf.

»Die Sache mit Hermann war ja zu traurig! Bis heute kann ich's nicht verwinden, daß dieser Prachtmensch so versagte. Er lernte als Junge doch ganz gut und berechtigte zu den besten Hoffnungen. Wie Sie wissen, war mein Kurt mit ihm befreundet. Er war wie Kind im Hause bei uns.«

Sie sah traurig vor sich hin. »Ich verstehe es auch nicht. Manchmal denke ich, die Sache hat noch besondere Gründe.«

Er sah noch immer auf den Dantekopf. Vor seinem Geiste stand der junge Wächter, das Urbild eines kerndeutschen, körperlich und geistig gesunden Menschen. Wer in das frische blühende Gesicht mit den blauen Kinderaugen schaute, der hatte seine helle Freude daran. So etwas von Reinheit und Unverdorbenheit fand man nicht allzu oft bei der Jugend von heute. Professor Linde kannte ihn näher. Er hatte mit seinem Vater auf derselben Schulbank gesessen, und der Verkehr zwischen den beiden Häusern war nie ganz ins Stocken geraten. Dafür sorgte schon die Jugend. Besonders bei Lindes herrschte ein sehr inniges Familienleben. Nie hätte Vater- und Mutterliebe ihre königlichen Rechte um Scheinwerte wie rauschende Feste, zeitraubenden oberflächlichen Verkehr und große Geselligkeit verkauft. Dazu waren die Stunden des Tages zu kostbar, was Beruf und Arbeit übrig ließen, gehörte in erster Linie den Kindern. Als größte Selbstverständlichkeit galt's den Kleinen, daß sie mit allem zu Vater und Mutter kommen durften. Hätte man ihnen gesagt, ihre Eltern seien zu beschäftigt, um sich ihnen zu widmen, sie hätten es nicht geglaubt. Und doch waren sie an strenge Zeiteinteilung gewöhnt, und ihr junges Leben stand im Zeichen geordneter Arbeit.

Linde hatte oft das Gefühl, daß die Wächtersche Kindererziehung an einer gewissen Zerfahrenheit krankte. Beide Eltern hatten ihre Kinder herzlich lieb und den Wunsch, ganz mit ihnen zu leben. Aber es war meist bei diesem Wunsche geblieben. Als Offizierspaar konnten sie sich allerdings schwer von jeder Geselligkeit zurückziehen. Julianens Natur hätte es auch nicht entsprochen. Sie war von jeher gern unter Menschen gewesen, freute sich in harmloser weise, wenn ihre Schönheit bewundert wurde, und hatte besonderes Vergnügen an zwangloser Geselligkeit im eigenen Hause, von einem Zuviel konnte man eigentlich nicht reden. Aber Professor Linde glaubte doch bisweilen in den jungen Gesichtern jener heimlichen Sehnsucht zu begegnen, die so oft den Kindern schöner gefeierter Frauen ihren frühen Ernst verleiht. Es tat ihm leid für beide Teile. Juliane Wächter war gut veranlagt. Sie hätte nur einen anderen Mann haben müssen. Einen, der wußte, was er wollte.

Für die Kinder waren die Stunden im Familienkreise des Arztes wahre Feste. Besonders die Knaben genossen das Beisammensein in vollen Zügen. Linde turnte mit ihnen, lieh ihnen Bücher und hatte für all ihre Bubenträume ein offenes Ohr. Je älter sie wurden, desto mehr wußten sie das zu würdigen. Besonders Hermann. Mit unbegrenztem Vertrauen und wahrhaft kindlicher Dankbarkeit hing er an Professor Linde.

Die Zeit ging. Auch als er das Elternhaus verließ, ward es nicht anders. Immer wieder fand der Student den Weg zu dem reifen Manne zurück.

Dann kam ein Tag, wo dem Auge des Arztes zum erstenmal eine kaum merkliche Veränderung im Wesen und Aussehen des jungen Menschen auffiel. Eine leichte Müdigkeit machte sich in der Stimme bemerkbar, die sonst so klaren festen Züge zeigten weichere Linien, seine Art, sich zu geben, war anders, als sonst. Aber am Tage darauf war er wieder ganz der alte frische, fröhliche Hermann Wächter. Linde sagte sich, er müsse sich wohl getäuscht haben. Dann hatte er ihn nicht wiedergesehen.

Jahre verstrichen. Der junge Referendar bereitete sich auf das Assessorexamen vor. Linde hörte fast nur durch andere von ihm. Nach Hause kam er selten und meist ganz kurz. Fragte man den Major nach seinem Ältesten, so antwortete er ausweichend. Dann erfuhr Linde eines Tages zufällig, daß Hermann schon zum zweitenmal durch das Examen gefallen sei. Er wurde stutzig. Die Erinnerung an jene flüchtige Beobachtung erwachte. Damals glaubte er an eine Täuschung. Heute machte er sich Vorwürfe, seiner Wahrnehmung kein Gewicht beigelegt zu haben. Ein halbes Jahr später erzählte ihm ein bekannter Jurist, Hermann habe sich nach Amerika eingeschifft. Er sprach mit den Ausdrücken herzlichen Bedauerns von dem jungen Menschen, der allem Anschein nach nicht die nötigen Berufsfähigkeiten besessen. Anders könne er sich die Sache nicht erklären. Der Arzt hörte ihn schweigend an. Er wußte es besser.

Dann war der Krieg gekommen, Deutschlands Schmach, das grenzenlose Elend eines ganzen Volkes. Das Schicksal des einzelnen verblaßte.

Aber dunkler und dunkler glühten die deutschen Blutstropfen, und die schweren Schatten hundertjähriger Volksschuld breiteten sich gespenstisch über Vergangenheit und Zukunft. Bild reihte sich an Bild. Menschenschicksal von gestern und heute ward Geschichte. Weltgeschichte, deren düstere Spur am Abgrund zerrann. – –

Siegfried Linde atmete tief, als sei er einen heißen Weg gewandert, und die Lungen verlangten staubfreie Luft.

»Verzeihen Sie, gnädige Frau,« sagte er. »Immer wenn Hermann Wächters Bild vor meinem Geiste steht, legt sich der Schmerz um den Heimatlosen auf meine Seele.«

Er fuhr mit der Hand durch das volle, leicht ergraute Haar.

Sie merkte, er gab sich innerlich einen Stoß, um zur Sache zu kommen.

»Also mein guter alter Rolf wünscht mich als Vormund seiner Kinder?« sagte er. »Ob er mich für besonders geeignet hält?«

Frau von Irrgang sah ihn mit ihren großen tiefliegenden Augen ernst an.

»Mein lieber Herr Professor, die Frage können Sie sich selbst beantworten! Sie würden meinem Bruder den letzten großen Erdenwunsch erfüllen – ich denke, das besagt alles. Daß er von einem Tag zum andern zaudert, Ihnen seine Bitte vorzutragen, liegt teils in der Natur seiner Krankheit, teils in der wohl nicht ganz unbegründeten Befürchtung, Ihre Zeit und Kraft zu stark in Anspruch zu nehmen. Ich kann sein Zögern aus diesem Grunde wohl verstehen. Aber er hat nicht mehr viel Zeit zu verlieren. Mit meiner Schwägerin scheint er nicht von der Sache gesprochen zu haben, wie er ihr überhaupt die Wahrheit über sein Befinden nach Möglichkeit zu verschleiern sucht. Darum komme ich, und zwar ohne sein Wissen. Falls Sie die Übernahme der Vormundschaft ablehnen, würde ich versuchen, ihm die Sache auszureden, so daß sie gar nicht erst zur Sprache kommt. Ich brauchte ja nur zu sagen, Sie seien derartig in Anspruch genommen, daß keine Aussicht auf die Erfüllung seines Wunsches bestände. Er weiß ja, daß wir uns oft sehen, und kann sich denken, daß ich gut unterrichtet bin.«

Der Arzt hatte vor sich niedergesehen, während sie sprach. Jetzt hob er den Kopf.

»Gnädige Frau, lassen Sie mich ganz offen sein. Es würde mir schwer werden, einem sterbenden Freunde die letzte Bitte abzuschlagen. Aber ich habe ein Bedenken. Wird die Erfüllung seines Wunsches den Lebenden ersprießlich sein?«

Sie sah ihn fragend an. »Die Lebenden würden Ihnen doch aus tiefster Seele danken.«

Er zuckte die Achseln. »Davon bin ich nicht so ganz überzeugt!«

»Aber ich bitte Sie!« rief sie lebhaft. »Ich wüßte nicht, wem ich meine Kinder lieber anvertraut hätte.«

Er lächelte. »Das sagen Sie, gnädige Frau, und ich danke Ihnen für dies Wort. Ob es aber Ihrer Frau Schwägerin aus der Seele gesprochen wäre, möchte ich bezweifeln. Mißverstehen Sie mich, bitte, keinen Augenblick. Es ist nicht das geringste zwischen uns vorgefallen, aber ich habe das bestimmte Empfinden, daß das Vertrauen zu mir nicht so stark ist, wie eine Vormundschaft es bedingt. Wo die Mutter noch lebt, nimmt der Vormund in erster Linie eine beratende Stellung ein. So, wie die Dinge aber dort liegen, muß ich als Arzt wie als Mensch volle Handlungsfreiheit für mich in Anspruch nehmen. Ich brauche ja nur auf die nervöse erbliche Belastung der Wächters hinzuweisen, womit ich übrigens durchaus nicht behaupten will, daß die Ungelegens ganz einwandfreies Blut haben. Außerdem glaube ich, daß Ihre Frau Schwägerin und ich in Erziehungsfragen nicht immer übereinstimmen würden. Das sind Dinge, die das Zusammenarbeiten sehr erschweren, wenn nicht unmöglich machen.«

Die hohe Stirn in Falten ziehend, blickte er in den Garten hinaus.

»Ich hatte vor einiger Zeit eine Auseinandersetzung mit Ihrer Nichte, Frau von Rockenau, die nicht dazu zu bewegen war, ihr Töchterchen selber zu stillen. Da alle meine Vorstellungen am hartnäckigsten Widerstand scheiterten, erklärte ich schließlich, ihre weitere Behandlung ablehnen zu müssen. Mit Frauen, die so dächten, hätte ich keine innere Fühlung, sie möchte sich einen anderen Arzt suchen. Gnädige Frau, Sie können sich denken, wie sehr ich den Vorfall wegen der alten freundschaftlichen Beziehungen mit der Wächterschen Familie bedauerte, aber was blieb mir anderes übrig?«

Die alte Dame starrte ihn an. »Thea Rockenau?« Jähe Röte stieg in ihre Wangen. Sie schämte sich der eigenen Nichte. »Das ist ja unglaublich!«

»Ja, das ist unglaublich!«

Nie war ihr der Ernst seines Tones so aufgefallen.

»Wie kommt meine Nichte nur dazu?« rief sie empört.

Er zuckte die Achseln. »Der Hauptgrund schien mir die Geselligkeit zu sein, denn als ich ihr sagte, daß sie in der Zeit des Nährens darauf verzichten müsse, erklärte sie kurz, sie könne doch nicht den ganzen Winter in der Kinderstube hocken, andere junge Frauen täten es auch nicht. Das war mir zu bunt!«

Elisabeth von Irrgang schüttelte den weißen Kopf. »Sonderbar, wenn mein Neffe noch besonders geselliger Natur wäre ...«

»Sehen Sie,« rief er, »das war mitbestimmend für mich, als ich vorhin sagte, Ihre Frau Schwägerin und ich würden in dem Punkt Kindererziehung nicht immer übereinstimmen. Nach dieser Geschichte würde ich mich überhaupt nicht wundern, wenn sie etwas gegen mich hätte.«

»Aber sie hat alle ihre Kinder selbst genährt!«

»Ja, das weiß ich. Damals war die Verrücktheit noch nicht so an der Tagesordnung. Aber die jungen Frauen von heute haben andere Ansichten. Die Baronin Rockenau war immer der Liebling ihrer Mutter und setzte schon als Mädchen durch, was sie wollte, ich weiß es von meiner Ursula. Eine Mutter sollte aber erziehlich wirken, zumal wenn es solch wichtige Fragen gilt. Das scheint sie unterlassen zu haben.«

Die Matrone seufzte. »In der Beeinflussung ihrer Kinder versagt meine Schwägerin leider oft. Gerade darum wünschte ich ihr einen treuen tatkräftigen Berater. Ich glaube, wir dürfen sie trotz ihrer unverkennbaren Fehler und Schwächen nicht zu scharf beurteilen. Sie wird froh sein, einen Halt zu haben und Ihnen keine Schwierigkeiten machen, wenn sie erst weiß, was sie an Ihnen hat. Und darüber wird sie nicht lange im Zweifel bleiben. Es ist nicht leicht, Witwe zu sein, und manche muß umlernen, zumal heutzutage.«

Ein Schatten zog über das stille Gesicht.

Er antwortete nicht. Er dachte nur: ›Wenn alle das Umlernen so verstünden!‹

Da begann sie noch einmal für den Bruder zu bitten. Wenn die eben genannten Dinge die einzigen erschwerenden Gründe seien, möcht er's doch versuchen. Ob er nicht wenigstens einmal mit dem Kranken sprechen wolle.

Den Kopf in die Hand gestützt, überlegte er. In dem klaren ausdrucksvollen Gesicht arbeitete es. Dann richtete er sich, wie es seine Art war, rasch entschlossen auf.

»Ich werde hingehen,« sagte er. »Bei allzulangem Abwägen kommt nichts heraus.« Er sah auf die Uhr. »Ob es jetzt gleich paßt? In den nächsten Tagen ist jede Stunde besetzt.«

»Gewiß,« antwortete sie. »Rolf liegt bis zum Abend in seinem Wohnzimmer oder im Wintergarten; da sind Sie ungestört.«

»Ist Ihre Frau Schwägerin zu Hause? Ich würde sie ungern verfehlen!«

»Leider kann ich es nicht genau sagen. Meistens ist sie um diese Zeit da.«

»Nun, ich werde jedenfalls gleich hingehen.« – ›Ende der Woche könnte es zu spät sein,‹ fügte er in Gedanken hinzu.

»Herzlichsten Dank, Herr Professor!« Sie drückte seine Hand, »wenn Sie ahnten, wieviel ruhiger ich jetzt bin!«

»Sie wissen doch, daß es mir immer eine besondere Freude ist, Ihnen einen Dienst zu erweisen, gnädige Frau,« sagte er, ihren Händedruck erwidernd.

Ja, sie wußte es. Die Erinnerung war's, die er heilig hielt. Der Gedanke an den liebsten Freund und Berater, den sie allzu früh ins Grab gelegt. Immer wieder trug er in zartester Weise seine Dankesschuld an die Witwe ab – sie kannte ihn.

Mühsam meisterte sie die aufsteigenden Tränen. »Nun habe ich noch nicht einmal nach Ihrer Frau gefragt! Geht es ihr besser?«

Er seufzte.

»Ich glaube kaum, daß sie sich rasch erholen wird. Sie wissen ja selbst, gnädige Frau, wie die Not des Vaterlandes einem das Herz abfrißt, je länger, je mehr, wer am wenigsten davon redet, leidet vielleicht am meisten. Ich habe mich gefreut, wie meine Frau die erste lähmende Betäubung, die das Entsetzen über den Zusammenbruch hervorrief, überwand. Nur in Gott wurzelnde, wahrhaft willensstarke Naturen bringen es fertig, in solchen Zeiten nicht jede Hoffnung fahren zu lassen. Die meisten werfen, von Jammer und Schande erdrückt, alles über Bord. Wer wollte sich darüber wundern? Die vielen Selbstmorde sind mir durchaus verständlich. Ich mache gar kein Hehl daraus: nur mein Christenglaube hat mich von diesem Schritt zurückgehalten, die Gewißheit unverlierbarer Ewigkeitswerte, die auch unsrem armen Volk erhalten bleiben müssen, und – meine Kinder! Keinen von jenen Unglücklichen, die angesichts ihres zertretenen Vaterlandes aus dem Leben schieden, richte ich – denn in allen mir bekannten Fällen handelte es sich um Diesseitsmenschen, edle Naturen, die aber Gott und Ewigkeit leugneten. Ja, was blieb ihnen nach dem Verlust der höchsten Erdengüter?«

Sie nickte still zu seinen Worten.

»Man kann ein größeres Unglück ertragen, als einen verlorenen Krieg,« fuhr er fort, »aber die Schande, die furchtbare Schande, einem würdelosen Volk anzugehören, die ist unerträglich!« Seine Augen wurden feucht. Er wandte sich ab.

Erschüttert blickte die Matrone ihn an. Es war nicht das erstemal, daß sie in die schmerzdurchwühlte Mannesseele schauen durfte, deren wurzelechtes, tief sittliches Empfinden sie an den gemahnte, der mit weitschauendem Blick in heißer Sorge den deutschen Verfall kommen sah. In das schwere Vermissen der Witwe drängte sich leise die Dankbarkeit: Gottlob, daß er's nicht erlebte!

»Meine Frau leidet besonders als Mutter unter dem entsetzlichen Umschwung,« begann Professor Linde aufs neue. »Unsere gefallenen Söhne wissen wir geborgen, Wie wir unsere heranwachsenden Kinder vor dem Geist von heute bewahren sollen, wissen wir nicht. Alle sittlichen Begriffe sind auf den Kopf gestellt, was wir heilig hielten, gilt nichts mehr. Was soll aus der Jugend werden, besonders in der Großstadt? Am liebsten zög' ich aufs Land – auch für meine Frau wär's besser – aber es geht nicht!« Auf seiner Stirn stand die Sorge des Familienvaters.

Mitleidig blickte Frau von Irrgang ihn an. »Könnte Ihre Frau nicht zeitweilig fort?«

»In jedem anderen Augenblick würde ich sehr dafür sein. Heute würde ihr Zustand sich nur verschlimmern, wenn sie aus ihrer Arbeit herausgerissen, von mir und den Kindern getrennt, an irgendeinem stillen Ort noch mehr Zeit hätte, über die Lage nachzudenken. Es klingt furchtbar hart, aber wir können es uns nicht oft genug sagen: diese entsetzliche Zeit fordert nicht nur ganze Menschen, Persönlichkeiten aus einem Guß, sie fordert in jedem Augenblick von jedem einzelnen heilige Rücksichtslosigkeit gegen das eigene Ich. Noch viel grundsätzlicher als früher. Eine Frau, die durch den Jammer der Heimat und die Angst um das Liebste noch nicht tiefsinnig geworden ist, würde es unbedingt werden, wenn man sie zu Einsamkeit und Untätigkeit verurteilte oder ihr den Rat gäbe, sich nicht zu sehr zusammenzunehmen. Wir müssen nun einmal durch, es hilft nichts. Und gerade Frauen aus erblich belasteten Familien werden am besten mit sich fertig, wenn sie ihren Zustand so wenig wie möglich beachten. Ich habe diese Erfahrung wiederholt gemacht.«

Die Matrone nickte zustimmend. »Ja, Sie haben recht, Herr Professor! Ich würde mit mir selber ja auch unbedingt nach diesem Rezept verfahren. Aber Ihre Frau ist so zart ...«

»Ja, aber zäh! Darum habe ich auch die beste Hoffnung, daß dieser Zustand ein vorübergehender sein wird. Allerdings werden wir Geduld haben müssen.«

»Schläft sie wenigstens gut?«

Ein Schatten flog über sein Gesicht. Er schüttelte den Kopf.

»Denk ich an Deutschland in der Nacht,
So bin ich um den Schlaf gebracht ...«

Sie sah ernst vor sich nieder. »Das geht jetzt Tausenden so. Aber eine Mutter braucht Schlaf.«

Dann schwiegen beide.

Mit schwerem Flügelschlag fuhr der Herbstwind ums Haus.

»Darf ich Ihre Frau besuchen?« fragte Elisabeth von Irrgang zögernd, als erwarte sie eine abschlägige Antwort.

»Selbstverständlich, gnädige Frau! Sie wird sich sehr freuen!«

»Ich frage, weil Sie ihr vor einiger Zeit verboten hatten, Besuch zu empfangen.«

Er lachte. »Weil uns das Haus eingerannt wurde. Das ging natürlich nicht. Außerdem muß man heutzutage bei Krankenbesuchen Unterschiede machen. Alles bringt seine vaterländischen Gefühle mit und verlangt noch obendrein, daß man Ja und Amen dazu sagt.«

»Die bringe ich aber auch mit!« Um die welken Lippen spielte der Schelm.

»Kommen Sie nur, gnädige Frau! was Sie bringen, ist zum Herzgesunden!«

In ihr feines gütiges Gesicht stieg ein freudiges Rot. Ihre Augen wurden feucht. Sie reichte ihm die Hand. »Nun muß ich aber wirklich gehen! Nochmals herzlichen Dank, Herr Professor!«

Er geleitete sie hinaus.

Das Wartezimmer war leer.

»Sehen Sie, ich kann meine Absicht gleich ausführen,« sagte er, die Haustür öffnend.

Lächelnd nickte sie ihm zu. Aber er sah doch die Träne an ihren Wimpern hängen.

*

Das freundliche weiße Landhaus, das Major Wächter, bald nachdem er den Abschied genommen, gekauft, lag wie ein Schmuckkästchen unter den alten Bäumen des herbstlichen Gartens. Einladend winkte das rote Spitzdach, und die blanken Fenster glitzerten im Abendgold. Ein malerisches Farbenspiel huschte über die Wege. Wie ein letzter Gruß an den Sommer leuchteten vergessene Spätrosen.

›Das Haus in der Sonne‹ zog es dem Manne durch den Sinn, der, den Garten durchschreitend, das Auge über das Grundstück wandern ließ. So hatten seine Kinder das Wächtersche Haus genannt. Er seufzte. Schade, daß der Name, der von allem Holden auf Erden erzählte, von Mutterlust und Kinderlachen, von tief innerlichem deutschen Wesen, nur äußerlich paßte. Er sah zu den hellen Fenstern empor. Sie standen weit geöffnet. Leise regte die Herbstluft die Spitzenvorhänge.

Professor Linde klingelte.

Walter öffnete ihm freudestrahlend. Breitschultrig und blond stand er vor ihm, Hermanns Ebenbild.

Sie betraten die behagliche Wohndiele, und der Primaner erzählte, sein Vater habe eben einen Anfall gehabt, ließe aber den Professor, den er von seinem Ruhebett aus durch den Garten kommen gesehen, um seinen Besuch bitten. Die Mutter sei mit Magna in die Stadt gefahren, werde jedoch bald zurückkehren.

Während sie noch sprachen, klang der silberne Ton einer Handglocke.

»Das ist Vater!« rief Walter, »verzeihen Sie, Herr Professor, ich bin gleich wieder da!«

Er eilte in das nächste Zimmer.

Nach wenigen Minuten kehrte er zurück. »Vater läßt sehr bitten!«

Er schlug einen Perser zurück. Ein Kaminfeuer beleuchtete matt den schönen Raum. Flackernd huschte der rote Schein über die Bilder alter Meister und die hohen geschnitzten Schränke.

Aber das Erste, was Siegfried Linde sah, was ihm mit erschütternder Wirklichkeit entgegentrat, war ein wachsgelber eingefallener Kopf, dessen scharf geschnittene Züge sich wie eine Totenmaske von der dunklen Täfelung hoben.

Einen Augenblick schaute er wie gebannt auf das zerstörte Antlitz. Dann trat er an das Ruhebett.

Und während er die abgemagerte Hand in der seinen hielt, ließ ihn der Gedanke, der ihn durch die letzten Stunden begleitet, nicht mehr los: ›Morgen hätt es zu spät sein können! Gott sei Dank, daß ich ging!‹

*

Stunden waren verstrichen. Der Mond stieg über den Wäldern auf. Träumend lag das Haus unter den goldgelben Bäumen. Über die weißen Mauern huschten die Schatten leise wehender Zweige. Oben, wo der wilde Wein die Fenster umrankte, leuchtete eine grüne Gelehrtenlampe junger Weisheit. Und ringsum fallendes Laub und die welkende Schönheit später Rosen, über die mondhellen Wiesen kam der Festzug der Nacht.

Da ging in dem hellen Hause die Tür. Auf die breiten Stufen fiel der Riesenschatten eines brennenden Lüsters. Man sah die Gestalten drinnen, als sei es Tag. Den Mann, die Hand auf der Klinke, und eine hohe Frauengestalt. Sie hielt das Gesicht in den Händen verborgen und weinte leise. In gedämpftem Ton sprach der Mann auf sie ein. Dann ging er. Drinnen ward der Riegel vorgeschoben. Ein eilender Schritt verklang. Schwerfällig, als habe ihn einer auf den Kopf geschlagen, ging der Mann durch den Garten.

Er merkte es nicht, daß ein Wetter heraufzog, daß dunkle Wolken den Mond verbargen, wie ein Träumender schritt er den Kiesweg entlang. An der Gartenpforte blieb er stehen und wandte sich um. Sein Blick ging über des Freundes Haus: es lag im Schatten.

Da nickte er still vor sich hin, als könnt's nicht anders sein.

Denn Siegfried Linde wußte seit einigen Stunden, daß dies Haus ein abgrundtiefes dunkles Geheimnis barg.

Einer, der sich zur letzten Reise rüstete, hatte es scheidend dem Starken aufs Herz gelegt.

Nun trug er seine Bürde heim.


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