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Es war Karin Maria den ganzen Abend, nachdem Baron Stjerne abgefahren war, so eigentümlich und beklommen zu Mute; es war ein wahres Wunder, daß niemand es bemerkte.
Aber Beate war, nachdem sie sich entrüstet darüber ausgesprochen hatte, daß Karin Maria »in diesem Grade ein Wesen aus dem Freier mache«, vollständig von der Garnierung eines alten Sommerhuts, den sie droben in der Rumpelkammer gefunden hatte, in Anspruch genommen. Der Hut war wenigstens zehn Jahre alt, aber er konnte wieder »ganz wie neu« werden, versicherte sie, und sie hatte deshalb für nichts andres Auge und Ohr. Joachim aber ging in der letzten Zeit immer wie im Traume umher und marterte sein Gehirn mit allen möglichen kühnen und himmelstürmenden Plänen, so daß auch er weder »hörte noch sah«. Die Majorin untersuchte ihren Leinenschrank und bereitete sich auf die große Sommerwäsche vor; sie dachte an nichts andres als an Leintücher, Servietten und Handtücher, an ganze und mangelhafte Dutzende und hatte keinen Gedanken für etwas andres.
Gegen Abend beschloß Karin Maria, zu Mamsell Fiken zu gehen und mit ihr zu sprechen; bei ihr suchten die Mädchen immer Trost, wenn etwas »los war«. Sie hatten alle miteinander das Gefühl, daß niemand anders auf der Welt sie besser verstand, als Mamsell Fiken, sie, die ihnen lange, ehe Mama es für notwendig gehalten, um ihre eigenen spärlichen Groschen die ersten Puppen auf dem Jahrmarkt in Röinge gekauft hatte; sie, die sie in den Masern so treulich verpflegt hatte, mit wahrer Engelsgeduld ihren Katechismus und die Fabeln von La Fontaine überhört, ihnen ihre Kleider zugehakt, ihre Hüte aufgesetzt und die ersten schwierigen Neujahrs- und Geburtstagswünsche diktiert hatte – immer und unabänderlich schließend: »Mit Hochachtung und Zuneigung verbleibe ich«, ihnen auch verbotene Spukgeschichten erzählt und Sirupbrote gegeben hatte, was auch verboten war. Sie schalten zwar oft über Mamsell Fiken und lachten über sie, aber wenn etwas vorgefallen war, dann war es doch immer wieder die »niedere Hütte«, zu der sie ihre Zuflucht nahmen. Denn ganz gewiß war Mamsell Fiken eine »Jammerbase«, wie Mama sie stets zu nennen pflegte; aber ihre Armut, ihre Abhängigkeit von dem oft launenhaften Wohlwollen andrer Menschen, ihre prekäre Stellung auf der Grenze zwischen »feinen und gewöhnlichen Leuten«, selbst ihr hartnäckiger Kampf um die Erhaltung der »niederen Hütte«, alles dies zusammen hatte bei Mamsell Fiken eine genaue Menschenkenntnis, eine gewisse Schlauheit und Entschlossenheit entwickelt, so daß selbst die gnädige Frau Majorin, mit all ihrem großen Selbstbewußtsein und ihrem anerkannt praktischen Sinn, sie nicht selten um Rat anging. Die jungen Mädchen thaten es ohnedies, wie schon gesagt, immer, und nicht am wenigsten Karin Maria, die doch sonst nicht »klein« von sich dachte.
Karin Maria brauchte nicht weit zu gehen. Vom Garten aus entdeckte sie sogleich Mamsell Fiken, die, ihren gestärkten Hut tief übers Gesicht hereingezogen, drunten auf der Wiese spazieren ging und Blumen und Gräser pflückte. Karin Maria wußte, daß sie im Juni immer Vergißmeinnicht, Zittergras und andre Pflänzchen sammelte, die sie dann sorgfältig preßte und trocknete und mit vieler Kunst auf Glückwunschkarten und zu Kränzchen um Silhouetten verwendete. Diese hübschen, etwas sentimentalen Arbeiten, mit einem Rahmen von Goldpapier umgeben, wurden von den feineren Bauernmädchen, unter dem Namen Erinnerungsblätter, gerne gekauft und trugen der guten Mamsell Fiken manches sehr willkommene Geldstück ein.
Karin Maria begrüßte sie und begann auch Vergißmeinnicht zu pflücken; sie leitete das Gespräch mit einigen ganz alltäglichen Bemerkungen über die Heuernte, die bevorstehende große Wäsche u. s. w. ein. Als sie genügend Blumen gesammelt hatten, setzten sie sich nebeneinander auf die verfallene Holzbrücke des Baches und ließen die Beine über das Wasser hinunterhängen.
Drüben auf dem Weg hörten sie Joachim und einige der Knechte mit den Pferden vorüberkommen, die zur Tränke geführt wurden, ehe es Nacht wurde. Sie ritten alle ohne Sattel, jeder noch auf beiden Seiten ein Handpferd führend. Nun bogen sie in einen sandigen, ausgetretenen Seitenweg ein und trieben dann die Pferde weit hinein zwischen die Steine in dem seichten Bache. Joachim sah die beiden dort auf der Brücke und grüßte sie lachend, während er fortfuhr, mit den Knechten zu reden, die nun auf seine Aufforderung plötzlich einen Gesang anstimmten. Gerade gegenüber, über den Wäldern von Marieholm, ging die Sonne als eine große, rote Scheibe unter.
»Es ist merkwürdig, wie gut sich der Herr Lieutenant hier oben bei dem Göinger Volke befindet,« sagte Mamsell Fiken mit ihrer leisen, ein wenig schleppenden Stimme und eigentümlichen Aussprache, während sie ihren schon fertigen Strauß noch mit Erdbeerblättern umgab.
»Ach, das ist ganz natürlich, er ist ja selbst ein Göing und wird wohl auch hier immer seine Heimat haben.«
»Aber wenn man in Stockholm war und zu Hof kam …«
»Ach! Er hat gewiß nicht viel vom Hof gesehen!« sagte Karin Maria, offenherzig lachend. »Auf alle Fälle glaube ich nicht, daß er ihn vermißt!«
»Nein, das kommt eben darauf an, wo man sein Herz hat,« seufzte Mamsell Fiken bedeutungsvoll.
Karin Maria segnete in ihrem Herzen Mamsell Fiken, weil diese so gerade auf das Thema lossteuerte, über das sie sprechen wollte. Sie sagte nun sehr ernst, aber ohne ihre Augen von ihren Blumen zu erheben: »Liebe Mamsell Fiken, ich habe gerade etwas gehört, etwas von Agnete, das mir sehr viel zu denken gibt …« Sie stockte unentschlossen.
»Aber, liebe Karin Maria,« Mamsell Fiken zitterte beinahe vor Interesse und Neugierde. »Lieber Himmel, was ist es denn? Sagen Sie mir's doch nur!«
Karin Maria bedachte sich nun nicht länger. »Baron Stjerne ist ja diesen Nachmittag hier gewesen,« begann sie.
»Ja, ich sah … ich sah die Herrschaften im Garten spazieren gehen.«
»Da war es gerade,« sagte Karin Maria errötend. Sie begriff es eigentlich selbst nicht, warum sie errötete, denn sie hatte doch wahrhaftig keinen Grund dazu! »Er deutete mir an, ich faßte es wenigstens auf diese Weise auf, er gebe … er gebe … nach reiflicher Ueberlegung seine Ansprüche auf Agnete auf. Aber ich weiß nicht, ich kann nicht entscheiden, ob ich das Recht habe, es Agnete oder die andern wissen zu lassen. Er hat mir ja keinen Auftrag dazu gegeben …«
Sie sah Mamsell Fiken fragend an und fuhr dann noch zögernder fort: »Ich habe natürlich ein wenig Angst, es Mama mitzuteilen, das werden Sie wohl verstehen, nicht wahr? Sie könnte es vielleicht als eine Beleidigung auffassen, gegen unsre Familie, meine ich, weil er es ist, der abbricht. Und da ich weiß, daß Baron Stjerne Papa und Mama sehr verehrt, so …« Karin Maria schwieg verwirrt. »Ich weiß wahrhaftig nicht, was ich thun soll!« schloß sie ratlos.
»Ich glaube wirklich nicht, daß Sie es Mama gleich sagen sollen,« bemerkte Mamsell Fiken vorsichtig. »Der Einzige, der es ihr auf ganz natürliche Weise mitteilen kann, ist der Herr Lieutenant … er soll mit Baron Stjerne sprechen.«
»Aber dann fürchte ich, Baron Stjerne, der aus reinem Edelmut, aus bloßer Güte, Agnete sozusagen freigibt, könnte es als eine Art Uebermut von seiten Joachims auffassen, wie eine Art Zwang, wenn er …«
»Nicht, wenn der Herr Lieutenant sich klug dabei benimmt. Und wenn er das hört, so wird er so überglücklich sein, daß wir ihn wohl dazu bringen können, den steifen Nacken ein wenig zu beugen.«
Karin Maria blickte vertrauensvoll und fast bewundernd auf Mamsell Fiken. »Sie meinen also, ich solle zuerst mit meinem Vetter sprechen?«
»Wenn ich Ihnen raten darf, Karin Maria,« sagte Mamsell Fiken, immer demütiger werdend, je mehr sie festen Grund unter den Füßen fühlte, »dann würde ich es gleich thun, ehe die gnädige Frau etwas davon hört. Wir können ihn ja rufen.«
»Ach ja! Das wäre gewiß das Beste!« rief Karin Maria erleichtert aus. »Dann könnten Sie auch dabei sein …«
Mamsell Fiken nahm schnell ihr großes Umschlagetuch ab und winkte damit eifrig dem jungen Skytte.
»Wollen Sie etwas von mir?« rief er vom Pferd aus über die Wiese herüber.
»Ja!« rief Karin Maria mit großer Bestimmtheit. »Kann nicht Troels deine Pferde nehmen?«
Joachim schüttelte den Kopf. Er winkte dem Stalljungen Hans, der barfuß, die Finger im Munde, den ganzen Weg hinter seinen geliebten Tieren hergetrottet war, und machte ihn glückselig, indem er ihm nicht allein seine Pferde anvertraute, sondern auch noch einen Groschen zuwarf. Dann eilte er hurtig über die Wiese, und mit einem gleichgültigen: »Was ist denn eigentlich los?« warf er sich, so lang er war, gerade vor der Brücke ins hohe Gras. Karin Maria und Mamsell Fiken zogen verschämt schnell die Beine herauf.
»Ach, meine Damen, genieren Sie sich nicht!« rief er lachend. » Parole d'honneur! ich sehe wirklich nur die Sohlen Ihrer niedlichen Schuhe!«
»Vetter Joachim!« sagte Karin Maria streng und strich energisch ihre Kleider zurecht. »Wenn du nur wüßtest, welch ernsthafte Dinge wir mit dir zu besprechen haben!«
Joachim erhob sich schnell auf den Ellbogen. »Hast du etwas von Agnete gehört?« fragte er unruhig.
Karin Maria machte eine verneinende Gebärde und erzählte ihm dann den Hauptinhalt ihres Gesprächs mit Stjerne, ungefähr auf dieselbe Weise, wie vorhin Mamsell Fiken.
Der junge Skytte hatte sich erhoben. Er stand jetzt gerade vor der Brücke, an den äußersten Brückenpfosten gelehnt, und betrachtete eifrig und aufmerksam seine Cousine.
»Aber … aber ich verstehe nicht! … Er, der sonst so stiernackig wie der T… selbst ist … es muß ihn etwas beeinflußt haben!«
Joachim dachte jetzt an seinen nächtlichen Besuch in Kristianstad. Eine Woche war seither vergangen, und er hatte sich Vorwürfe darüber gemacht, daß er den guten Ruf seiner geliebten Agnete so unbedacht aufs Spiel gesetzt hatte. Er fürchtete jetzt sofort, es könnte ihn jemand bei ihr gesehen und es auf eine Art ausgelegt haben, die … Es überlief ihn heiß und kalt bei dem Gedanken, Nils Olof könne von irgend einer Seite Wind von der Sache bekommen haben.
»Ihn beeinflußt?« wiederholte Karin Maria und errötete tief. »Ja … es wäre ja möglich, daß die alte Freifrau es gethan hat; sie ist ja, wie du weißt, von Anfang an gegen den Heiratsplan gewesen …«
»Dann hätte sie wahrhaftig ihren Einfluß ein wenig früher anwenden können!« rief Joachim.
»Aber Joachim! Ist es wirklich möglich, daß du solch eine Noblesse, wie jetzt Stjerne zeigt, nicht zu würdigen verstehst?« rief Karin Maria beleidigt.
»Ich müßte zuerst wissen, was dahinter steckt,« sagte Joachim ungewöhnlich mißtrauisch; der Gedanke an seinen Besuch und sein letztes aufgeregtes Gespräch mit dem »Freier« spukte noch immer in seinem Kopf. »Es kommt mir so unnatürlich vor, daß jemand so mir nichts dir nichts Agnete aufgeben kann. Das stimmt gar nicht mit dem überein, was er mir früher zu verstehen gegeben hat.«
Joachim war nicht Menschenkenner genug, um einzusehen, daß bei einem Menschen mit solch einem Temperament wie den Stjernes oftmals dem ersten heftigen Aufbrausen, dem ersten kräftigen Widerspruch eine träge Mutlosigkeit folgt, eine schwermütige Unlust, noch irgend eine Anstrengung zu machen, von der man doch nicht hoffen darf, daß sie mit Erfolg gekrönt werde.
Joachim wurde durch Widerstand angespornt, Stjerne entmutigt, das war das ganze Geheimnis, über das der junge Skytte nun nachgrübelte, ohne es begreifen zu können.
Aber Mamsell Fiken, mit ihrer gründlichen, wenn auch vielleicht ihr selbst nicht ganz bewußten Menschenkenntnis, sie verstand es, sie wußte nur nicht, wie sie es ausdrücken sollte. Sie sah Joachim zweifelnd an und sagte auf ihre ruhige, wohlwollende Weise: »Ich meine doch, der Herr Lieutenant sollte noch einmal mit dem Baron sprechen. Die Herren würden sich dann doch vielleicht verständigen. Und da er selbst zu Karin Maria gesagt hat, er sei geneigt, den Platz abzutreten …«
»Man muß mir auf höfliche Weise den Platz abtreten, wenn ich ihn mit Ehren einnehmen soll!« rief Joachim mit seinem leichtgekränkten Ehrgefühl heftig aus.
Karin Maria nahm vorsichtig ihre Röcke zusammen, erhob sich und sagte: »Lieber Vetter, du kannst doch wohl nicht verlangen, Nils Olof Stjerne soll dir Agnete auf einem silbernen Präsentierteller anbieten und dich bitten, sie freundlich anzunehmen … du mußt dich damit begnügen, wenn er Papa des gegebenen Worts entbindet und dir den Weg frei gibt …«
Joachim lachte; er war plötzlich wieder guter Laune; er fing die Cousine und Mamsell Fiken galant in seinen Armen auf, als sie von der Brücke auf die Wiese hinuntersprangen, um den kürzeren Weg durch den Garten zu nehmen. Dann sagte er gutmütig: »Du hast recht, Karin Maria. Ich dachte nur gerade an etwas, das …« Er unterbrach sich hastig. »Gebe Gott, daß du recht hast.«
»Das habe ich immer!« antwortete Karin Maria mit großem Selbstgefühl.