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Am Tage, ehe man die Gäste erwartete, waren die Dienstmädchen gegen Abend eifrig beschäftigt, das Fremdenzimmer in stand zu setzen, während die Töchter die Betten bezogen und zwar unter der Oberaufsicht der Majorin selbst. Sie wollte ganz sicher sein, daß Kissen und Laken richtig aufgelegt und daß die besten Kopfkissenbezüge mit den noch von ihrer Aussteuer herstammenden echten Spitzen und den blauseidenen Besätzen recht sorgfältig und in die Augen fallend auf den von ihr angegebenen Bettstellen geordnet wurden. Da fuhr plötzlich ein Wagen mit zwei Herren auf den Hof. Agnete sah sie zuerst durch das große Fenster der Fremdenstube, und ohne den Besuch zu verkündigen oder irgend ein Wort zu sagen, schlich sie sich in demselben Augenblick rasch zur Thür hinaus und eilte Hals über Kopf hinauf auf den Boden.
Gleich darauf kam die Köchin ins Fremdenzimmer und bat die gnädige Frau, doch rasch herunterzukommen, weil der Herr Baron von Marieholm und noch ein andrer Herr schon auf dem Flur seien.
Die Majorin gab hastig noch ein paar Anweisungen, schickte nach dem Major und dem Lieutenant Skytte und verschwand dann in der Staatsstube, die aus Sparsamkeitsrücksichten leider nicht geheizt war.
Gleich darauf trat sie freundlich lächelnd, mit ihrem neuesten Kopfputz auf dem Haar, den sie aber in der Eile ein wenig schief aufgesetzt hatte, in den Saal, um die Gäste zu begrüßen. Die beiden Herren standen, ihrer wartend, noch immer neben dem einen Klapptisch und betrachteten, dem Zimmer den Rücken kehrend, mit großer Aufmerksamkeit einen hoch oben an der Wand hängenden, äußerst undeutlichen Kupferstich, der die Schlacht von Breitenfeld darstellte.
Rasch wandten sie sich um, als die Majorin eintrat, verbeugten sich wiederholt nach damaliger Sitte, während die Majorin tausendmal um Entschuldigung bat, weil niemand zu ihrem Empfang bereit gewesen war.
Mit sehr umständlichen Worten erklärte ihr dann der Baron, er und sein Freund seien einige Tage in Kristianstad gewesen, um irgendwo noch einen Rest Futter für das Vieh aufzutreiben, denn wie gewöhnlich sei sein eigener Vorrat jetzt im Frühjahr zu Ende gegangen. Er erlaube sich daher, jetzt nach seiner Rückkehr in Munkeboda einen kleinen Besuch zu machen und, wenn es den Herrschaften nicht allzuviel Mühe mache, den Abend hier zu bleiben.
Die Majorin antwortete darauf sehr artig, bei so lieben Gästen könne natürlich gar keine Rede von Mühe sein, und sie drehte dabei in Gedanken schon drei ihrer besten Hähne den Hals um, während sie zu gleicher Zeit überlegte, was sie wohl von dem morgigen Festessen für heute verwenden könnte, ohne daß man die Verminderung gewahr würde.
Jetzt kam der Major selbst in steifgestärkten Vatermördern und zum voraus schon in guter Laune über die Aussicht auf eine Whistpartie und einen besonders starken Rumpunsch zum Abendtrunk.
Während die Majorin wieder verschwand, um rasch im Arbeitszimmer des Herrn einheizen zu lassen – von dem Salon konnte natürlich keine Rede sein – unterhielten sich die drei Herren über den Futtermangel und die Nachtfröste und die Schwierigkeiten einer guten Aussaat.
Baron Nils Olof Stjerne von Marieholm – der »Freier«, wie ihn Joachim nannte – war ein großer, breitgebauter Herr von ungefähr vierzig Jahren, mit einer hohen, etwas kahlen Stirne, blondem Haar, vollen runden Wangen und großen, hervorstehenden blauen Augen. Er wurde im allgemeinen für hübsch gehalten; das Gesicht erinnerte im ganzen genommen ein wenig an die Bilder von Gustav Adolf, aber der schwerfällige und etwas melancholische Eindruck seiner ganzen Erscheinung that ihm Eintrag. Trotzdem aber war er, selbst wenn man seinen Rang und das Ansehen des alten Geschlechts der Stjerne gar nicht ins Auge faßte, durchaus kein zu verachtender Freier für ein so junges und schönes Mädchen wie Agnete Skytte.
So hatte auch Joachim, als er kurz darauf eintrat und die Herren begrüßte, eigentlich das Gefühl, daß seine Abneigung gegen den Baron und das ganze Heiratsprojekt im Grunde ungerechtfertigt und unvernünftig sei. Er hatte Olof Stjerne, während er in Kristianstad in Garnison lag, mehreremal getroffen und ihn damals für einen recht ehrenwerten und harmlosen, wenn auch etwas langweiligen Gesellschafter angesehen. Warum in aller Welt hat nun aber dieses dicke Ungeheuer seine Augen gerade auf Agnete geworfen! dachte er, indem ihn sein alter Widerwille, den er von Anfang an gegen den Lieblingsplan seiner Tante gehabt hatte, aufs neue ergriff. Er schüttelte dem Gast jedoch dabei herzlich die Hand und fragte, wie es ihm bei diesem verwünschten Aprilwetter gehe.
Neben dem Baron saß sein guter Freund und beständiger Gesellschafter, Figge Wallqvist. Er war ein Herr von ungefähr sechzig Jahren, klein, mager, runzlig, mit ungewöhnlich wohlerhaltenem schwarzem Haar und einer großen römischen Nase, die seinem ganzen Gesicht einen etwas vornehm anspruchsvollen Ausdruck verlieh. Wahrscheinlich stand diese äußerst aristokratische Nase in Verbindung mit seinem Anspruch auf nahe Verwandtschaft mit einem schwedischen König – Figge Wallqvist galt nämlich mit ziemlicher Sicherheit für einen Enkel des Großherzogs Friedrich von Hessen. Außer der Nase und dem Namen Friedrich hatte er von seinem fürstlichen Großvater auch noch eine geschmeidige Klugheit und eine prahlerische, grobkörnige Lustigkeit geerbt, die ihn überall zum Liebling der Herrengesellschaften machten. Dieser illegitime Königssprößling schwärmte und lebte für das, was er nach einigen großen Gläsern Punsch immer feierlich »die Legitimitätsidee« oder »das Recht des Bluts« nannte. Und wie er sprach, so lebte auch Figge Wallqvist. Er hatte seiner Zeit bei der Staatsumwälzung und den darauffolgenden Unruhen zu dem legitimen Gustav IV. Adolf gehalten und seither – auch aus Schwärmerei für die Legitimitätsidee – als Freiwilliger unter Bernadotte an dem Feldzug der Alliierten gegen den »korsischen Usurpator«, wie man immer den Kaiser der Franzosen nannte, teilgenommen. Er war bei der Einnahme von Paris gewesen und hatte zu seiner großen Freude den Fall der Vendômesäule selbst mit angesehen. Außer diesen inneren und äußeren fürstlichen Eigenschaften hatte der arme Figge aber nichts weiter von seinem glorreichen Vater geerbt und lebte daher meist auf Kosten seiner Freunde, die ihn zum Dank für seine »Lustigkeit« und seinen reichen Vorrat an Frauenzimmer- und andern Geschichten monate- und jahrelang als Gesellschafter bei sich behielten. Sein eigentliches Hauptquartier hatte er aber in den letzten Jahren auf Marieholm gehabt, wo Nils Olof Stjerne, der sich einsam fühlte und der despotischen Herrschaft seiner Mutter, der alten verwitweten Freiherrin, herzlich müde war, einen gewissen Trost in der Teilnahme und der großen Lebenserfahrung des alten Figge fand.
Karin Maria trat nun herein und verneigte sich weltgewandt vor den beiden Herren, indem sie zugleich dem Papa mitteilte, das »Comptoir« (das Arbeitszimmer des Herrn) sei nun in Ordnung und geheizt, im Fall die Herren vor dem Abendbrot noch eine Partie spielen wollten.
Baron Stjerne hatte sich erwartungsvoll umgesehen, als sich die Thür öffnete. Aber als Karin Maria eintrat, drehte er einen Augenblick wie enttäuscht den Kopf auf die Seite. Es war nun so lange her, volle sechs Wochen, seit er das letzte Mal auf Munkeboda war, und während dieser ganzen Zeit hatte er Agnete nicht ein einziges Mal gesehen. Figge, der, wie gesagt, in dem Geruch stand, sich auf die Frauen zu verstehen, hatte ihm nämlich lebhaft geraten, sich einige Zeit lang fernzuhalten, »um die Zeit und die Sehnsucht wirken zu lassen« …
Nachdem sie dann einige Höflichkeitsreden mit der ältesten Tochter gewechselt hatten, wanderten die Herren in das Comptoir; in der Stimme Karin Marias hatte nämlich ein heimlicher Befehl gelegen, den alle sehr gut verstanden. Nur Joachim blieb zurück.
»Willst du nicht auch mitgehen?« fragte Karin Maria ein wenig ungeduldig. Sie wollte sofort mit dem Tischdecken beginnen, das heute abend ihr oblag.
»Nein … Wo ist …« er wollte sagen: Agnete, veränderte aber unwillkürlich seine Frage, als er Karin Marias forschendem Blick begegnete, und sagte dafür: »Wo ist Beate?«
»Sie ist droben und kleidet sich um,« antwortete Karin Maria kurz. Dann fügte sie ein wenig spöttisch hinzu, als Joachim immer noch zögerte: »Weißt du vielleicht, wo Agnete ist? Sie ist nämlich nirgends zu finden.«
»Nein!« sagte Joachim lachend. Er war plötzlich wieder sehr guter Laune, wie erleichtert, daß sie wenigstens sich nicht für den »Freier« schmückte. »Aber wenn du willst, will ich mein Bestes thun, um sie zu finden.«
Vor der Thür begegnete er Mamsell Fiken, die, wie gewöhnlich, die Gäste gerochen hatte. Er gab ihr kurzen Bescheid, wo Karin Maria zu finden sei, und eilte dann schnell die Treppe hinauf.
Einen Augenblick hielt er vor dem Zimmer der Schwestern an und lauschte, ob er nicht am Ende doch Stimmen darin vernehmen würde, aber Beate schien wirklich allein zu sein. Dann öffnete er aufs Geratewohl, wie von einem sicheren Instinkt getrieben, die Thür zu der sogenannten »äußeren Rumpelkammer«, wo die Majorin allerlei Gerümpel und außer Gebrauch gestellte Gegenstände aufhob.
Das erste, was er da drinnen in der bleichen, kalten Frühjahrsbeleuchtung erblickte, war richtig Agnete. Sie saß auf einem alten Schlitten, auf den die Zahl 1700 gemalt war, zusammengekauert und wie eine Schnecke gekrümmt; sie hatte sich in eine Pelzdecke gewickelt und vertrieb sich die Zeit mit dem Lesen eines alten, zerfetzten Buches, das sie zufälligerweise hier oben gefunden hatte. Als sie Vetter Joachim erblickte, errötete sie tief und erhob sich rasch, um ihren Zufluchtsort zu verlassen.
Er kletterte über einige alte im Wege stehende Kisten, stieß im Vorbeigehen mit dem Kopf an ein paar Talglichter, die in langen Reihen an Schnüren zum Bleichen an der Decke hingen, und erreichte endlich das auf diese Weise verbarrikadierte Mädchen.
»Aber Agnete« – er dämpfte unwillkürlich seine Stimme, indem er sich ohne weiteres auf den Rand des Schlittens setzte, den sie noch nicht verlassen hatte – »du wirst dich hier oben zu Tode erkälten!«
»O nei…n,« antwortete Agnete zögernd, aber sie zitterte dabei in ihrem dünnen Kleide und in ihren unbekleideten Armen vor Kälte. »Ich … wollte hier nur etwas suchen …«
»Sie sind jetzt drin im Comptoir und kommen vor dem Nachtessen nicht wieder zum Vorschein,« sagte Joachim, gerade auf die Sache losgehend und sie bedeutungsvoll anblickend.
Agnete kräuselte die Lippen und sah gerade vor sich hin. Sie rührte sich nicht.
»Agnete!« Joachim beugte sich vor, und seine Stimme klang noch gedämpfter als vorher. »Wenn du ihn aber nun durchaus nicht haben willst, so …«
»Ich kann nicht!« flüsterte Agnete leidenschaftlich, ohne den Vetter anzusehen. »Ich laufe davon oder nehme Gift, wenn Mama mich zwingen will!«
»Niemand darf dich zwingen!« murmelte er empört und griff in dem Halbdunkel nach ihrer Hand, die er, ohne recht zu wissen, was er that, innig drückte. »Wie kannst du nur denken, daß es jemand wagen würde?«
»Ach, wenn er nur eine von den andern gewählt hätte!« flüsterte Agnete mutlos. »Mama möchte es so schrecklich gern! An ihrem Geburtstag im Sommer soll es ernst werden, hat sie gesagt.«
»Niemals!« rief Joachim heftig, »niemals, so lange ich lebe, soll Nils Olof dich bekommen!«
Ein plötzliches Gefühl der Erleichterung zog bei diesen Worten durch die Seele Agnetes. Sie fühlte, nun hatte sie jemand, dem sie sich anvertrauen konnte. Sie hatte zwar den Schmerz, der in seinen Worten und in seinem Ton lag, nur halb verstanden, aber sie erbebte doch darüber im tiefsten Herzen, und plötzlich war es um ihre Selbstbeherrschung geschehen, und das Gesicht auf die Pelzdecke gesenkt, fing sie laut zu schluchzen an. Joachim beugte sich über sie, tröstend und zärtlich; sie erhob den Kopf, und ihre Blicke trafen sich in dem Halbdunkel des Raumes.
»Ich schwöre dir, Agnete, daß wenn du jemals … jemals … eine Hilfe … du verstehst …« Er flüsterte es undeutlich und verwirrt mit stockender Stimme. »Dir wenigstens soll das Glück zu teil werden, der Stimme des Herzens folgen zu dürfen!«
Beates Mitteilung von »dem andern« tauchte wohl noch hie und da, wenn auch nur sehr schwach, in Joachims Gemüt auf.
Sein gesunder Menschenverstand sagte ihm nämlich ganz deutlich, daß die ängstliche, romantisch und dazu etwas spöttisch angelegte Agnete in dieser Einöde nicht so leicht einen halbwegs passenden Gegenstand für ihre Liebe finden könne. Aber dazwischen hinein, besonders wenn er melancholisch aufgelegt war, beschäftigten sich seine Gedanken doch immer wieder mit diesem »Friedensstörer«, wie er ihn in seinem Herzen zu nennen pflegte.
Agnete wagte es nicht, des Vetters Edelmut näher zu prüfen, sie senkte den Kopf nur noch tiefer hinunter. Joachim betrachtete sie zuerst verwundert, und dann … plötzlich sah er – wagte er zu sehen – etwas ganz andres in ihrem tiefen Erröten.
Oder … oder … Sollte sich Beate getäuscht haben? »Gibst du denn nicht einem andern den Vorzug, der …« fragte er hastig, noch immer halb eifersüchtig trotz aller Vernunftgründe.
»Ich!« murmelte Agnete verwirrt, »einen andern vorziehen? Wer in aller Welt sollte denn das sein?«
»Da hast du recht!« rief Joachim übermütig. »Wer sollte es denn sein?«
Ihre Blicke begegneten sich aufs neue; der Agnetes war schüchtern, hatte aber doch einen schelmisch lächelnden und etwas zärtlichen Ausdruck, und der Joachims – ja, er blickte in diesem Augenblick tief in die unschuldigen Augen seiner Cousine und las darin die ganze Wahrheit. Dann lächelte auch er und zwar noch schelmischer als Agnete, die nun etwas verlegen das Gesicht abwandte.
Plötzlich stieß Agnete einen leichten Schrei aus – ihre Augen richteten sich fest auf die Kammerthür, die mit geisterhafter Lautlosigkeit von außen geöffnet wurde. Gottlob, es war nur Beate!
»Seid ihr hier?« fragte Beate. Ihre Stimme klang leise, aber im höchsten Grade verwundert. »Ich konnte gar nicht begreifen, was hier oben auf dem Boden raschelte und flüsterte.«
Joachim wandte sich jetzt auch um, ohne Agnetes Hand loszulassen, die er unter dem Fell festhielt.
»Agnete sitzt hier oben und fürchtet sich vor dem ›Freier‹,« flüsterte er mit einer unterdrückt jubelnden, knabenhaften Ausgelassenheit, die zwar Beate, aber merkwürdigerweise Agnete nicht im geringsten verletzte.
»Wie du nur darüber scherzen kannst!« schalt ihn die teilnehmende Beate entrüstet. »Stjerne selbst ginge ja schließlich noch an, obgleich er schrecklich dick und entsetzlich langweilig ist; aber du solltest nur einmal die alte Freifrau sehen!«
Agnete hatte ihre Hand sachte aus der Joachims gezogen. Sie wickelte sich jetzt aus der Pelzdecke heraus und stand etwas unentschlossen da, ohne zu wagen, ihn anzusehen oder an ihm vorbeizukommen. Er bemerkte es und erhob sich rasch.
»Aber du mußt auf alle Fälle hineingehen und dich ein wenig herrichten, Agnete,« mahnte die praktische Beate. »Wie zerzaust dein Haar ist! Und Mama würde es dir nie verzeihen, wenn du nicht wenigstens das ›Veilchenblaue‹ anzögest.«
Das »Veilchenblaue« nannte man scherzweise in der Familie Agnetes ganz verschossenes Musselinkleid. Beate selbst prangte in einem großgemusterten roten Kleide und duftete nach Lavendelwasser.
»Ja, das muß ich wohl,« sagte Agnete ungewöhnlich nachgiebig, indem sie still an Joachim vorüberging, ohne ihn anzublicken.
Als der junge Skytte nach diesem Zwischenspiel mit Agnete endlich zu den Herren ins Comptoir kam, wurde er von Onkel Niklas mit Vorwürfen empfangen, weil er sich der Pflicht des »vierten Mannes« entzogen habe. Der alte Figge aber sagte, den letzten Stich aufhebend, in schleppendem Ton und mit schon etwas lallender Zunge, indem er mit seinen rotumränderten Augen aufblickte: »Nicht so streng, Bruder Niklas, nicht so streng! … Man ist jung, man ist Kavalier! Nicht wahr, Herr Lieutenant? Man hat nicht umsonst drei schöne Cousinen …«
»Dummes Zeug!« unterbrach ihn der alte Niklas ärgerlich, denn er hatte heute Pech.
Aber Figge Wallqvist kümmerte sich darum nicht. Er stach Niklas' Buben mit seinem König und fuhr dann in demselben Tone fort: »Welcher der drei Grazien – wenn man so unbescheiden sein darf, zu fragen – hat denn der Herr Lieutenant den Apfel zuerkannt?« Und als Joachim, neben dem Spieltisch stehend, ein verächtliches und ärgerliches Schweigen beobachtete, fügte er noch hinzu: »Oder ist es vielleicht irgend eine Nymphe der niedrigeren Regionen? … Vernünftig, mein Sohn, sehr vernünftig! … Da erreicht man in der Regel das, was man erreichen will … und mit weit weniger Zeitverlust.«
»Skytte ist auch bekannt dafür, daß er in solch zarten Angelegenheiten keine Zeit verliert,« fiel Olof Stjerne ungewöhnlich lebhaft ein, mit einer sehr durchsichtigen Anspielung auf das verhängnisvolle Stockholmer Abenteuer.
Alle lachten laut auf in dem behaglichen Gefühl der Kameradschaft und gegenseitigen weltmännischen Vertraulichkeit. Joachim kam sich jetzt plötzlich unendlich affektiert und dumm vor, weil er sich vorhin über den alten Figge geärgert hatte.
Er dankte nun für den guten Rat in ebenso scherzhafter Weise, wie er gegeben worden war, trank Brüderschaft mit dem Alten, und da die Unterhaltung auf die Politik überzugehen schien, that er sein Möglichstes, um sie vollends darauf hinzuleiten.
Figge Wallqvist machte dabei ein paar sehr grimmige Ausfälle gegen die herrschende Dynastie, die – ungeachtet des gemeinsamen Feldzugs gegen den »korsischen Usurpator« – wegen ihres Mangels an Legitimität niemals seinen ganzen Beifall gewann.
Joachim, der wie die ganze damalige schwedische Jugend sich um den König sehr wenig kümmerte, sondern seine ganze Hoffnung auf den Kronprinzen setzte, ergriff eifrig das Wort und verteidigte mit großer Wärme die »in der Freiheit geborene Kraft und Thätigkeit«. Der alte Figge aber schüttelte den Kopf und spuckte einmal über das andre verächtlich seinen Kautabak aus. »Dummes Zeug!« sagte er. »Das hilft, meiner Treu, gar nichts, in Freiheit geboren zu sein, dessen können sich alle unechten Kinder auch rühmen. Nein, auf was es in solch einer Stellung ankommt, das ist die Autorität – die legitime Autorität. Das geheimnisvolle, aber unbestrittene Recht des Blutes ist es, auf das es einzig und allein ankommt.«
»Recht! Recht!« rief Joachim hitzig. »Man wird in unsrer Zeit weder zum Recht, noch zur Macht geboren; derjenige, welcher die Macht dazu hat, erobert sich beides miteinander!«
Das sonst so ruhige Blut des Barons Olof Stjerne fing nun auch an, sich zu erhitzen; er fühlte sich im Namen der gesellschaftlichen Ordnung, der Ritterschaft und des Adels beleidigt.
»Er ist ja ein Jakobiner, ein Vollblutjakobiner!« rief er zornig und wandte sich dabei an seinen künftigen Schwiegervater.
Der alte Niklas Skytte klappte nachdenklich den Deckel seiner Schnupftabakdose auf und zu. Bei den derben Worten seines Neffen fühlte er unwillkürlich das heiße aufrührerische »Schnapphahnblut« seines Geschlechts lebhafter in seinen Adern rinnen. Er wollte Stjerne nicht verletzen, der natürlich, ja natürlich, recht hatte, aber – Er klopfte Joachim beinahe zärtlich auf die Schulter, getrieben von dieser heimlichen Geschlechtssympathie, die sich sozusagen magnetisch mitteilt und auch aufgefaßt wird; und ohne sich um des Barons Entrüstung zu kümmern, sagte er besänftigend und mit einem Versuch, das Ganze in einen Scherz zu drehen: »Ja, gewiß ist er ein Jakobiner! Das liegt in unsrer Familie! Ich bin selbst auch einer gewesen, und zwar ein rechter! Damals im Jahre 1789 vor vierzig Jahren, und mein alter Vater war auch einer Anno 1772. Er lernte es allerdings niemals, sich mit denen auszusöhnen, die die Macht besaßen. Aber sonst …« er nahm eine Prise, »das geht vorüber. Das geht gewöhnlich vorüber!«
»Nicht bei mir!« beteuerte Joachim jetzt in vollem Ernst. »Wohl weiß ich, daß wir jetzt im schwedischen Reich bis über die Ohren in Heuchelei und Feigheit drin stecken, aber …«
»Halt! Halt! mein junger Freund!« Der alte Figge erhob sich feierlich, und ehe sie sich's versahen, waren sie plötzlich alle mitten drin in einer politischen Kannegießerei, in der die Zänkereien aller Stände während der unruhigen zwanziger Jahre wieder auftauchten.
Das Abendbrot, das infolge der großen Mühe, die das Einfangen, Töten und Rupfen der Hühner gemacht hatte, viel zu spät auf den Tisch kam, war nicht besonders gemütlich. Die Herren hatten, mit Ausnahme Joachims, der mehr geredet als getrunken hatte, und Olof Stjernes, der wie ein Ochs trinken konnte, durch die reichliche Versorgung im Comptoir schon einen etwas schweren Kopf, und die Majorin war schlechter Laune, weil es so spät geworden war, und auch die Mädchen waren sehr schweigsam, denn die Gegenwart des »Freiers« wirkte immer niederschlagend auf alle miteinander. Sie hielten sich dicht bei einander, und weder Nils Olof Stjerne, der sich den ganzen Abend aufrichtig danach gesehnt hatte, seine Auserwählte zu sehen, noch Joachim, der Agnete mit eifersüchtigen Augen bewachte, gelang es, ein einziges Wort an sie zu richten. Sie saß bei Tisch zwischen Beate und Karin Maria und schlug den ganzen Abend kaum ein einziges Mal die Augen auf.
Die Majorin war jedoch durchaus nicht unzufrieden mit dem Benehmen ihrer Tochter. Es ziemte sich für ein junges Mädchen, in solchen Sachen » retirée« zu sein. Außerdem hielt sie dies auch für das klügste Verfahren, so lange die Verlobung noch nicht endgültig veröffentlicht war.
Am nächsten Morgen in der Frühe fuhren der Freier und Figge Wallqvist nach Hause. Eine kühle Einladung, den Tag über noch dazubleiben – in Anbetracht des verführerischen Fräuleins Susen, das heute erwartet wurde, fand es die Majorin nicht klug, sehr dringend zum Dableiben aufzufordern – wurde höflich abgelehnt. Stjerne versuchte es noch einmal, einen Blick von Agnete zu erhaschen, aber es gelang ihm abermals nicht. In dem nebligen Aprilmorgen stand sie auf der Hausstaffel und verneigte sich vor ihm mit noch immer niedergeschlagenen Augen, während er mutlos und in schlechter Laune die Zügel ergriff und auf die Pferde einhieb.