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Am nächsten Morgen, während die Gäste noch schliefen und der feierliche Frühstückstisch beim Schein des Lichts gedeckt wurde, sah Joachim beim Herunterkommen Agnete mit einem Tuch um die Schultern am Flurfenster stehen und ihren Hut aufsetzen.
Er fuhr zusammen; er hatte nicht ein Wort mehr mit ihr gewechselt, seit er sie am Abend zuvor auf der dunklen Treppe in seinen Armen gehalten hatte. Als sie einige Zeit nachher wieder in den Salon kam, gerade als die Gesellschaft am Aufbrechen war, konnte er nicht einen einzigen Blick von ihr auffangen, und sie hatte ihm nur mit all den andern flüchtig und beinahe unhörbar gute Nacht gesagt.
Er näherte sich ihr ein wenig zögernd; sie hatte die Augen niedergeschlagen und schien ihn nicht zu bemerken.
»Gehst du aus? … so früh am Morgen? …« Das war alles, was er, sonderbar verwirrt, herausbringen konnte.
Sie sah ihn nicht an, während sie ihre blauen Fausthandschuhe anzog.
»Ja, ich soll schnell vor dem Frühstück zu Nils Mäns Gunilla gehen und sie zum Schafscheren bestellen; Mama hat es befohlen.«
Joachim öffnete die Hausthür, und ohne ein Wort zu sagen, nahm er seine Mütze und ging mit ihr.
Schweigend gingen sie nebeneinander her. Der Sonnenschein glitzerte auf den hellgrünen Wiesen und auf dem Walde, der anfing, eine rotbraune Färbung anzunehmen. Die Kälte saß noch immer in der Erde, und die tiefen Wagengeleise auf den Wegen waren an dem frühen Morgen mit einer spröden Eiskruste bedeckt, die bei jedem Schritt knisternd zersprang und einbrach.
Immer noch sprach keines ein Wort. Plötzlich, wie von einer inneren Eingebung getrieben, neigte sich Joachim zu Agnete herunter und sah ihr ins Gesicht. In ihren Augen standen große Thränen, die am Herabfallen waren.
»Aber Agnete,« sagte er, »warum in aller Welt …« Er nahm ihre Hand, die schlaff an ihrer Seite herunterhing. »Agnete, sag mir nur um Gottes willen, warum du weinst,« fragte er noch einmal.
»Weil … weil …« schluchzte sie, »weil du nicht ein einziges Wort mit mir sprichst.«
»Aber Agnete,« begann Joachim erregt, »ich gehe ja hier neben dir und bin ganz glücklich, daß ich überhaupt neben dir gehen und schweigen darf, mein Liebling!« Hier drückte er zärtlich die kleine Hand in dem Fausthandschuh. »Was könnte ich auch sagen, das gut genug wäre?«
Agnete schwieg unter ihrem breitrandigen Hut. Von ihrem ganzen Gesicht sah er nur einige widerspenstige Haarlocken und die Nase – eine kleine, runde Nasenspitze, die etwas trotzig aussah.
Und mit dem merkwürdigen Verständnis zwischen zwei Liebenden erriet er sofort, über was sie nachgrübelte.
»Du willst – du willst, ich soll dir jetzt das sagen – was – was ich gestern abend nicht gesagt habe?«
Agnete richtete sich ein wenig auf, mit einer Bewegung, die ihm zu verstehen zu geben schien, daß das jetzt ganz gleichgültig sei. Aber Joachim ließ sich von dieser erheuchelten Gleichgültigkeit nicht täuschen; lachend beugte er sich vor und zog ihren Arm in den seinen.
»Mein liebes Mädchen, das ist ja schon alles gesagt,« mit einem Kuß, wollte er hinzufügen, als es ihm einfiel, daß er sie ja noch gar nicht richtig geküßt hatte, nichts weiter, als auf die Wange und die Hand. Er lächelte, blieb dann stehen, und indem er ihre Hand erhob und sie an die Augen drückte, murmelte er einmal ums andre, leise und leidenschaftlich: »Ich liebe dich! Aber ich liebe dich ja …«
Jetzt erhob sie das Gesicht zu ihm, errötend und mit bebenden Lippen. Ihr Blick ruhte in dem seinigen: warm, zärtlich, in unverhohlener, vollkommener Hingebung.
Da schlang er seine Arme innig um sie, neigte sich nieder und drückte seine Lippen auf ihre zarte Wange – sie war frisch und ein wenig feucht von der kühlen Morgenluft – und auf ihre weichen, halbgeöffneten Lippen, die sich verschämt unter seinen langen Küssen schlossen.
Keines dachte daran, sich zuerst vorsichtig umzusehen, ob sie auch wirklich allein wären. Aber das war auch nicht nötig; auf dem steinigen, holperigen, gefrorenen Weg, der sich gewunden zwischen den Heidehügeln und Ackerstücken dahinzog, befand sich so früh am Tag keine Seele unterwegs.
»Und du machst dir wirklich etwas aus mir armem, sündigem Teufel?« fragte Joachim demütig, obgleich vollkommen überflüssig, nur um es sich noch einmal von ihr versichern zu lassen.
»Ich werde mir niemals etwas aus einem andern machen, in meinem ganzen Leben nicht,« murmelte Agnete schmerzlich, indem sie plötzlich, wie von ihrer eigenen Heftigkeit erschreckt, die Augen schloß.
»Und Stjerne?« fragte er übermütig, geradezu triumphierend. Aber in der nächsten Sekunde bereute er bitter, diesen Namen ausgesprochen zu haben. Ueber Agnetes Gesicht glitt ein solch schmerzlicher Ausdruck, daß sie für einen Augenblick beinahe unkenntlich wurde.
»Agnete! Agnete!« flüsterte er zärtlich. »Du fürchtest dich doch nicht vor ihm? Was könnte er dir jetzt noch anhaben, jetzt?«
»Mama!« schluchzte sie nun verzweiflungsvoll. »Du weißt nicht, wie schauderhaft entschlossen Mama ist, wenn sie nun einmal ihr Wort gegeben hat.«
»Und du könntest wirklich daran denken, ihr nachzugeben?« rief er heftig.
Agnete sah auf. »Nein,« sagte sie leise, aber so deutlich, daß es beinahe scharf klang. »Nein, niemals!«
»Meinst du nicht, es wäre am besten,« begann er nach einer kurzen Pause zögernd, »wenn ich nach Marieholm hinüberritte und mit Stjerne spräche, ehe Tante Charlotte … Wir brauchen es ja nicht sofort Tante Charlotte mitzuteilen,« fügte er leiser, halb überredend hinzu.
»O ja!« rief Agnete erleichtert, »sprich zuerst mit Stjerne! Wenn du ihm sagst, daß ich nicht will, daß ich geradezu nicht kann … dann muß er es natürlich aufgeben!« Sie blickte ihn ängstlich an. »Glaubst du nicht auch?«
»Sag mir, Agnete,« – Joachim hielt mitten auf einem Hügel an und blickte ihr ernst in die Augen – »bist du ganz sicher, daß er sich etwas aus dir macht, ich meine, aus dir selbst, aus deiner Liebe, Agnete? Hat er es dir jemals deutlich angedeutet und von seinen Gefühlen für dich gesprochen?«
Agnete schwieg eine Weile, dann sagte sie leise: »Ja.«
»Du sagst das so sonderbar, Agnete!« rief er, plötzlich beunruhigt, jeden kleinen Wechsel in ihrer Stimme empfindend.
»Ja, weil … weil … Ich kann es nicht ertragen, nur daran zu denken,« stöhnte sie leidenschaftlich.
»Sag mir nun alles!« drang er noch ebenso heftig, beinahe ängstlich in sie. »Komm, erzähl' mir die ganze Geschichte!«
»Ach, da ist nicht viel zu erzählen!« Beinahe instinktiv versuchte sie, ihre Stimme zu beherrschen, um den Eindruck ihrer Worte wieder zu verwischen. »Es war auf dem Ball in Käsnäs, letzte Weihnachten. Sie hatten viel getrunken, und dann, beim allerletzten Tanz kam er und engagierte mich. Ich wagte nicht, nein zu sagen.«
»War er betrunken?« fragte Joachim, direkt auf die Sache losgehend. »Das kann ich kaum glauben, der Kerl verträgt ja alles!«
»Ich weiß nicht genau, ob er betrunken war,« sagte Agnete nachdenklich, »aber ganz nüchtern war er auf jeden Fall auch nicht, obgleich er mich viel sicherer führte, als mancher von den andern Tänzern.«
Joachim faßte Agnete fester ums Handgelenk. Zum erstenmal fühlte er, welch eine empörende Unsitte es doch eigentlich war, daß ein junges Mädchen, wie es überall der Brauch war, mit dem ersten besten halbbetrunkenen Herrn, dem es gefiel, sie aufzufordern, tanzen mußte; und wer war an solch einem Weihnachtsball nicht halb oder ganz betrunken?
»Und während wir tanzten,« fuhr Agnete mit leiserer Stimme ein wenig stockend, wie von den Erinnerungen gequält fort, »sah er mich immerfort an. Und plötzlich, ohne daß ich es hätte ahnen oder hindern können, neigte er sich über mich und flüsterte … etwas … und …« hier wurde sie blutrot, »und ergriff mein Ohr, als ob er mich beißen wollte …«
»So ein ver…« Joachim stieß einen Fluch hervor. » Was sagte er?«
»Ach, das weiß ich nicht mehr so genau …«
Agnete sah verlegen vor sich hin, erschrocken und doch auch ein wenig geschmeichelt, weil es ihm so nahe ging. »Ich war ganz außer mir, so verblüfft und entsetzt war ich. Er sagte etwas davon, wie süß ich sei, er könnte mich auf der Stelle aufessen … Es war vielleicht nicht so gefährlich, er war natürlich betrunken … aber er erschreckte mich – o, wie seine Augen glühten … Sonst ist er ja immer so nett und höflich …!«
»Er ist ein roher, liederlicher Gesell, ja das ist er!« rief Joachim ganz blaß vor Wut darüber, daß seine feine, kleine Agnete solch einer unverschämt brutalen Liebeserklärung ausgesetzt gewesen war, und noch dazu einer solchen, wie sie ein Kavalier kaum einer Straßendirne zu bieten gewagt hätte. Aus ihrem unterbrochenen und verlegenen Bericht schloß er mit seiner Erfahrung weit mehr, als sie in ihrer Unschuld begriffen und geahnt hatte. »Um seiner Ehre willen nehme ich an, daß er betrunken war, sonst wäre solch ein Betragen einem anständigen Mädchen aus guter Familie gegenüber mehr als unverzeihlich. Aber du kannst dich darauf verlassen, ich werde den Tölpel zwingen, dich und auch mich um Verzeihung zu bitten!«
»Nein!« rief Agnete, nun doch aufs äußerste erschreckt darüber, daß sie Ursache zu einem Skandal oder Streit werden sollte. »Du darfst die dumme Geschichte gar nicht vor ihm berühren! Ich verbiete es dir, hörst du, ich springe vor lauter Scham ins Wasser, wenn er erfährt, daß ich mich noch daran erinnere und doch noch ganz wie sonst mit ihm zusammentreffe! Aber was hätte ich denn thun sollen?« Sie wandte sich an ihn. »Mama konnte ich doch nichts davon sagen, da schämte ich mich zu sehr davor. Und dann warb er ja gleich nachher um mich,« schloß sie ein wenig unzusammenhängend.
»Du meinst vielleicht, er habe es deshalb gethan,« fragte Joachim spöttisch, »um seine Unverschämtheit wieder gut zu machen?«
»Nein!« sagte Agnete ärgerlich. »Ich glaube wirklich, daß er … daß er … in mich verliebt ist,« kam es endlich entschieden heraus.
Und als Joachim nicht antwortete, fügte sie schüchtern, etwas altklug hinzu: »Das merkt man schon. Ich meine, man fühlt es immer selbst, wenn ein Herr …«
Sie verstummte, von Joachims lachendem Blick beleidigt, und warf den Kopf zurück.
»Du glaubst natürlich, daß sich noch nie einer in mich verliebt hat!« sagte sie verdrießlich und ein wenig spitzig.
»Weiß Gott! Ich glaube gerade das Gegenteil! Ich,« er zog sie versöhnend in seine Arme und flüsterte: »ich bin ja selbst ganz närrisch in dich verliebt!«
Agnete hatte ihren Auftrag an Nils Mäns Gunilla wegen der Schafschur vollständig vergessen; sie entdeckte nun plötzlich zu ihrem Schrecken, daß sie schon lange an dem Seitenpfad vorbeigegangen waren, der über die Heide nach der Hütte führte. Sie machte sich hastig und beinahe unfreundlich von Joachim los.
»Um Gottes willen, Joachim!« rief sie bekümmert und hatte es auf einmal schrecklich eilig. »Vor allem mach, daß du nach Hause kommst, denn du mußt vor mir daheim sein! Was sollen denn nur Fagerhjelms und Mama denken! Und Susen …« konnte sie sich nicht enthalten noch hinzuzufügen, indem sie sich zum Gehen wandte.
»Du bist aber doch der allergrößte Hasenfuß, den es gibt!« murmelte er unwillig und ließ sie schnell los.
»Hasenfuß!« Sie warf den Kopf zurück und sah ihn mit ihren herrlichen braunen Augen voll an. »Du sollst sehen, ob ich ein Hasenfuß bin, wenn es einmal darauf ankommt!«