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Zweites Kapitel.

Droben in dem nördlichen Giebelzimmer befand sich Joachim Skytte und packte seinen Koffer aus. Bengta, das Stubenmädchen, hatte ihm geholfen, das Weißzeug in den Schubladen der Kommode unterzubringen und die Kleider in den Schrank zu hängen, aber jetzt hatte er sie mit freundlichem Dank entlassen, weil er, wie er sagte, das Uebrige lieber selbst in Ordnung brachte. Es war doch immer eine Beschäftigung! Bei dem flackernden Schein des Buchenholzfeuers im Kamin und dem einsamen Talglicht auf der Kommode nahm er jetzt aus dem großen Lederkoffer seine Bücher heraus, eins nach dem andern, und stellte sie sorgfältig auf den an der Wand hängenden Bücherständer.

Da standen nun » Corinne« und » La Nouvelle Heloïse«, ein paar Romane von Walter Scott und einige Tragödien von Voltaire neben Schillers »Räubern« und Ehrenwärds »Italienischer Reise«. Dann noch einige ältere schwedische Bücher, und von den neueren »Die Frithjofsage«, sowie einige Hefte von »Iduna« und dem »Poetischen Kalender«, endlich auch noch einige stark zerlesene »Erste Oden« von Victor Hugo. Im ganzen war es eine ganz ansehnliche Büchersammlung für einen fünfundzwanzigjährigen Artillerielieutenant, der durchaus nicht eine litterarische Größe sein wollte und noch niemals die Grenzen seines Landes überschritten hatte.

Er überlas zerstreut die Titel der Bücher und strich oft langsam mit der Hand über den Einband, ehe er sie an ihren Platz stellte, auf jene unbewußt zärtliche Weise, mit der echte Bücherfreunde stets ihre Bücher zu behandeln pflegen. Dann packte er ein altmodisches, kunstvoll eingerichtetes Schreibpult aus, das einstens einem andern Joachim Skytte gehört hatte; es trug auf dem Deckel die Buchstaben J. S. und die Jahreszahl 1788; er öffnete es und ordnete das Schreibgerät auf dem Tisch vor dem Fenster.

Jetzt war aber, leider Gottes, nichts mehr zu thun. Er sammelte noch das umherliegende Packpapier, legte es sorgfältig wieder in den Koffer und begann dann in dem langen Zimmer auf und ab zu gehen.

Ach du lieber Himmel! Hier mußte man also den schönen, langen Frühling und den Sommer und vielleicht auch noch den nächsten Winter zubringen! Und das nur eines verrückten Einfalls wegen, um einer übermütigen Laune willen! Was hatte er denn mit der Liebsten des Obersten zu thun? Frauenzimmer gab es genug in Stockholm, und die »rote Lotte« war in seinen Augen nicht ein bißchen besser als die andern. Aber sie hatte sich nun einmal in ihn vergafft … Lieutenant Skytte lachte unwillkürlich bei der Erinnerung an das brillante Zechgelage draußen auf dem Gut des Stallmeisters, wo er, trotz Oberst Staalkulas eifersüchtiger Gegenwart, die zufällige, aber recht leidenschaftliche Zuneigung der roten Lotte gewonnen hatte. Und dann hatte er natürlich der übermütigsten Lust nicht widerstehen können, dem Alten einen Possen zu spielen. Erhitzt und verwirrt vom Wein und verstohlenen Küssen, hatte er das Mädel in den Schlitten gepackt und war den andern voraus davongefahren, hatte am ersten besten Wirtshaus angehalten, war dort zwei ganze Tage geblieben, bis der Oberst, rasend wie ein gereizter Stier, sie aufgespürt und gefunden hatte. Darauf hatte das berüchtigte Duell ohne Zeugen stattgefunden, das heißt eine einfache Schlägerei, nichts weiter! Er hatte zwar von Anfang an alles gethan, um ihr auszuweichen, aber der andre hatte ihn schließlich mit der drohend erhobenen Reitpeitsche dazu gezwungen. Joachim runzelte jetzt hier in der Einsamkeit die Stirne, wenn er daran dachte. Natürlich war es abscheulich, einen alten Mann zu prügeln, aber ruhig dastehen und wie ein Schulbube die Streiche in Empfang nehmen, das konnte man doch wahrhaftig auch nicht! Und wenn er nur wenigstens nachher den Mund gehalten hätte! Staalkula hätte schon um seiner selbst willen die Geschichte totgeschwiegen, aber erzürnt und aufgebracht wie er war, hatte Joachim der Versuchung nicht widerstehen können, sondern vor den Kameraden damit geprahlt, wie er auf zweifache Weise seinem Vorgesetzten ein »Horn« auf die Stirne gesetzt habe. Endlich hatten der Kronprinz und andre hohe Offiziere von der Geschichte gehört. Aus Rücksicht auf den alten Staalkula, der ja auch keine Lorbeeren dabei geerntet hatte, hütete man sich zwar, die Sache vor das Kriegsgericht zu bringen, aber des guten Beispiels und der Disziplin wegen, und weil die Geschichte in Offizierskreisen allzu ruchbar geworden war, hielt man es doch für angezeigt, Lieutenant Skytte bis auf weiteres seines Dienstes zu entheben.

Joachim fragte sich, ob die Mädchen wohl wüßten, warum »Vetter Joachim«, der doch erst vor kurzem von Kristianstad nach Stockholm versetzt worden war, die Hauptstadt so plötzlich wieder hatte verlassen müssen und nun keine andre Zuflucht hatte, als das alte Erb- und Stammgut der Familie Skytte, Munkeboda? Natürlich wußten sie es! Tante Charlotte hatte eine solch interessante Geschichte wohl nicht für sich behalten können, und Karin Maria, die mit verschiedenen jungen Mädchen in Stockholm in Briefwechsel stand, hatte doch gewiß alles längst haarklein erfahren! Mit den Daumen in den Westentaschen hielt er plötzlich mitten in der Stube an und starrte mit zusammengezogenen Brauen scharf ins Licht. Unwillig, ärgerlich über sich selbst war er, ja über sich selbst und über andre! Dann lachte er auf einmal vor sich hin; Agnetes braune, unschuldige Augen waren plötzlich vor ihm aufgetaucht, wie sie, weit aufgerissen, mit dem Ausdruck des höchsten Entsetzens über seine schrecklichen Thaten ihn anstarrten …

Am nächsten Morgen erwachte er erst sehr spät, vollständig von der Reise ausgeruht und in besserer Laune. Während er sich ankleidete und sein lockiges Haar vor dem kleinen Spiegel auf der Kommode ordnete, blickte er nicht mehr so düster auf sein Dasein; und als er bei einem Blick durchs Fenster Karin Maria entdeckte, die hoch und schlank in ihrem rotgewürfelten Kleid mit einem Shawl über den Schultern, aber mit unbedecktem Kopf trotz der Kälte an der Küchenstaffel die Hühner fütterte, da begannen sich in seinem Herzen mildere Gefühle zu regen, und er fühlte sich mit der Aussicht, einige Zeit in Munkeboda zu verbringen, mehr ausgesöhnt, als tags zuvor.

Er zog noch einmal die »Vatermörder« zurecht, steckte eine goldene Nadel in das hochgeschlungene Halstuch, ergriff sein buntseidenes Taschentuch und eilte die Treppe hinunter.

Drin im Saal, wie die Wohnstube genannt wurde, saß Tante Charlotte wie gewöhnlich am Mittelfenster zwischen den Hyazinthen. Der Frühstückstisch war gedeckt – aber absichtlich nur mit einem Couvert. Als Joachim sich verbeugte und ziemlich verlegen anfing sich wegen seines langen Schlafs zu entschuldigen, erhob sich die Majorin und rief durch die nach der Küche führende Thür: »Bodil, wärme den Bierkäse und bringe das Frühstück! Jetzt ist der Lieutenant da!«

Darauf vertiefte sie sich aufs neue in ihre Strickerei, und Joachim hatte das Gefühl, als ob er bei ihrem mißbilligenden, ja vorwurfsvollen Schweigen zu einem zehnjährigen Jungen zusammenschrumpfe.

Als Bodil mit einem über und über roten Gesicht das Auftragebrett mit Bierkäse, Spickaal und gerösteten Kartoffeln hereinbrachte, sagte die Tante, ohne jedoch die Augen von ihrer Arbeit zu erheben: »Du mußt unsre ländlichen Gewohnheiten entschuldigen, lieber Neffe: aber bei uns steht das Frühstück pünktlich um sieben Uhr auf dem Tisch.«

»Liebe Tante Charlotte, du kannst versichert sein, daß ich mich von jetzt an präzis um sieben Uhr einfinden werde,« lautete die demütige Antwort.

Die Majorin wurde durch diese artige Willfährigkeit des Neffen etwas milder gestimmt. Sie fragte ihn daher gnädig, wie er geschlafen habe, und sprach dann davon, wie unangenehm es sei, daß sich in der blauen Stube immer wieder Ratten zeigten, obgleich sie schon alles Mögliche versucht und sowohl Königskerzen als auch Arsenikkörner in die Löcher gesteckt habe.

Nach dem Frühstück trieb sich Joachim ziemlich einsam im Hof herum, der ihm jetzt im hellen Sonnenschein wie ausgestorben vorkam. Die Knechte waren im Wald und holten Brennholz und Reisig, denn man mußte sich beeilen und die Zeit benutzen, solange der gefrorene Moorboden noch befahrbar war, und in der Küche waren die Mädchen noch mit dem Zurichten des Mittagessens beschäftigt, das für den ganzen Haushalt, für die Herrschaft wie für das Gesinde, Punkt halb zwölf Uhr auf dem Tisch stehen mußte. Die einzige, die ihm einige Aufmerksamkeit schenkte, war seine alte Bekannte, Bengta, das Stubenmädchen. Sie saß dort drüben am Küchenfenster und zerrieb mit einer Kanonenkugel Senf in einer irdenen Schüssel. Die Schüssel hielt sie zwischen den Knieen fest und wiegte dabei beständig den Oberkörper hin und her. Als er schon den Hof verlassen hatte, hörte er sie noch mit schleppender Stimme das Volkslied singen von der Jungfrau, der

»Ein wogendes Schiff voller Grafen«

begegnete; zugleich aber verdrehte sich Bengta beinahe den Hals, um ihm, trotz ihrer unbequemen Stellung, nachsehen zu können. Etwas aufgemuntert durch diese Aufmerksamkeit, die einzige, die ihm bis jetzt zu teil geworden, setzte er sein stillschweigendes, aber eifriges Suchen nach den Töchtern des Hauses fort. Sie schienen geradezu in die Erde versunken zu sein, bis er zuletzt, als er aufs Geratewohl in das Brauhaus hineingehen wollte, Beate erblickte, die an dem Fenster neben der Brauhausthür sich von ihrem Webstuhl vorbeugte und ihm freundlich zunickte.

In der Dunkelheit des Brauhauses mußte er erst noch eine Weile nach der Thürklinke zur Webestube suchen, dann trat er ein.

Ein helles Torffeuer brannte in dem breiten eisernen Ofen, an dessen Vorderseite in erhabener Arbeit ein gräßliches, etwas undeutliches Schlachtenbild prangte. Die Sonne schien freundlich durch das Fenster mit den etwas grünlichen Fensterscheiben; Beate saß an dem danebenstehenden Webstuhl, erhob sich aber jetzt, um den Vetter zu begrüßen.

»Wie behaglich ist es hier!« rief Joachim unwillkürlich. Er war sich während der letzten halben Stunde ganz verloren vorgekommen. »Hat meine Fräulein Cousine wohl etwas dagegen, wenn ich ein wenig hier bleibe?«

Beate räumte willig die Spulen und Schiffchen von dem einzigen noch im Raume vorhandenen Holzstuhl und bat ihn freundlich, Platz zu nehmen.

Im Anfang ging die Unterhaltung nur schleppend, denn Beate war ein wenig schüchtern und fürchtete auch, Mama könnte möglicherweise kommen und sehen, wie faul sie sei. Aber es ging doch nicht an, daß sie immerfort ihr Webschiffchen hin und her warf und den Webstuhl schlug, während sie sich mit dem Vetter unterhielt. Erst als er ganz zufälligerweise erzählte, er habe Tante Charlotte drüben auf der Bleichwiese gesehen, wo sie das Auslegen des neuen Gewebes überwachte, wurde sie lebhafter.

Sie sprachen von der Umgegend, die Joachim seit seiner Kindheit nur selten mehr gesehen hatte, und er erkundigte sich, welchen Verkehr man eigentlich hier mit andern Familien habe.

Beate nannte pflichtschuldigst den Pfarrer und den Landrichter, »aber sie wohnen so weit weg,« seufzte sie dabei. »Und dann,« fuhr sie zögernd, wie etwas ängstlich fort, »Baron Stjerne auf Marieholm.«

»Nils Olof Stjerne?« fragte Joachim aufmerksam geworden. Es hatte wie ein heimlicher Vorbehalt durch ihre Stimme geklungen, der offenbar etwas Besonderes bedeutete und sein Interesse erweckte.

»Ja …« Beate ließ ihren Fuß auf dem Tritt des Webstuhls auf und ab schaukeln und betrachtete mit niedergeschlagenen Augen das Webschiffchen in ihrer Hand.

»Nun …?« forschte Joachim aufmunternd. Es war ihm ganz klar, sie hatte etwas auf dem Herzen, das sie gerne sagen wollte.

»Er kommt sehr oft hierher,« fuhr sie in demselben Tone fort.

»So–o …?« Joachims Augen wurden immer lebhafter fragend.

Beate beugte sich ein wenig über den Webstuhl vor und sagte mit leiser Stimme, beinahe flüsternd: »Er ist mit Agnete so gut wie verlobt.«

»Nein!« rief Joachim laut, zwar nicht gerade mißtrauisch, aber verblüfft.

Beate nickte zur Bekräftigung ganz entschieden, indem sie zugleich hastig das Webschiffchen zwischen den Zettel warf, den Tritt trat und anschlug.

Joachim erhob sich und lehnte sich an den Webstuhl. »Aber sie ist ja noch ein Kind im Vergleich zu ihm,« sagte er mißbilligend.

»Mama will es,« setzte Beate ihre Eröffnungen fort, ganz froh, jemand zu haben, mit dem sie plaudern konnte; »aber es wäre ihr noch lieber gewesen, wenn es sich um Karin Maria gehandelt hätte.«

»Weil sie älter ist?«

»Ja natürlich … und sie ist auch verständiger. Mama hat große Angst, Agnete würde die alte Freiherrin auf Marieholm nicht richtig zu behandeln verstehen.«

Joachim Skytte schwieg. Er versuchte es, sich die kleine Cousine Agnete als die Gattin des dicken vierzigjährigen Nils Olof Stjerne vorzustellen, und ihm selbst unbewußt zog ein Ausdruck von Widerwillen über sein Gesicht.

»Aber« – Beates Stimme wurde wieder leiser – »es nützt durchaus nichts, daß Mama es so will, denn sie bringt Agnete doch ihr Lebtag nicht dazu, ja zu sagen.«

»Nicht?« Joachims Interesse war aufs neue erweckt. »Warum denn nicht? Freiherrin auf Marieholm! Das scheint mir doch gerade für Agnete zu passen – sie sieht ja aus wie eine Prinzessin,« fügte er langsamer, wie mit sich selbst redend, hinzu.

Beate antwortete nicht. Sie setzte eine neue Spule ins Schiffchen und preßte die Lippen zusammen, was deutlicher als alle Worte sagte, daß sie noch viel mehr wußte, daß aber keine Macht der Welt sie dazu bringen würde, es zu verraten.

»Warum denn?« beharrte Joachim immer neugieriger.

Beates fester Entschluß begann schnell zu schwanken.

»Wenn du mir versprichst, nichts zu sagen, keinem Menschen, hörst du …« Sie sah ihn ernst an.

»Nein, keiner lebenden Seele! So wahr mir Gott helfe!« beteuerte er feierlich.

Jetzt konnte Beate ihr Geheimnis nicht länger zurückhalten. Sie beugte sich vor und flüsterte schnell: »Nein, denn ich glaube ganz bestimmt, Agnete liebt einen andern!«

»Wen denn?« rief Joachim energisch. »Weißt du nicht, wen?«

»Nein, das weiß ich wahrhaftig nicht,« bekannte Beate verzagt, »und ich kann es auch unmöglich herausbringen. Aber jemand muß es sein, denn seit wir am Geburtstage bei Tante Brita auf Käsnäs tanzten, ist sie nicht mehr wie früher gegen Stjerne und will ihn gar nicht mehr sehen.«

Da fiel ein Schatten auf Beates weißes Gewebe. Auf den Fensterscheiben erklang ein lustiges Trommeln von außen, und Agnetes reizendes Gesichtchen, von einem wollenen Tuch eingerahmt, lugte herein.

»Sag nichts, Vetter Joachim – um Gottes willen!« flüsterte Beate. »Die Schwestern würden mir niemals verzeihen …«

Agnete riß die Thür sperrangelweit auf. Sie nahm das Tuch ab und faßte mit beiden Händen nach ihrem Haar, ohne Joachim, der im Schatten am Webstuhl lehnte sogleich zu bemerken.

»Vetter Joachim!« rief sie erstaunt, als sie ihn plötzlich erblickte. »Guten Morgen!« sagte sie, sich vor ihm verneigend. »Was, du bist hier?«

»Ja, Beate und ich haben schon in früher Morgenstunde philosophiert,« sagte er ungeniert, während er sie begrüßte.

»Worüber?« fragte Agnete verwundert und sah ihn mit ihren klaren, braunen Augen neugierig an, ohne die Arme von ihrer Frisur, die am Herunterfallen war, sinken zu lassen.

»Ach … über den Ehestand, über die Frauen und über die Liebe und dergleichen. Nicht wahr, Beate?« neckte er die Cousine, die ihm, Agnete den Rücken bietend, mit zusammengezogenen Augenbrauen geheimnisvoll befehlende Zeichen machte.

»Ueber die Liebe …?« wiederholte Agnete langsam wie unwillkürlich. »Ich wundere mich sehr …«

Sie sagte nichts weiter, aber sie errötete unter Joachims fragendem, forschendem Blick. Dann setzte sie sich schnell an den mitten in der Stube stehenden Spinnrocken und begann die halbvolle Spule fertig zu spinnen. Beates Augen begegneten bedeutungsvoll, beinahe triumphierend denen Joachims.

»Da ist nichts zu verwundern,« sagte Joachim langsam nach einer Pause und mit einem Ausdruck, den die Mädchen, wenn sie das Wort überhaupt gekannt und verstanden hätten, »cynisch« genannt haben würden. Jetzt fanden sie ihn nur überlegen und meinten auch noch, er stehe ihm gut. »Das wird mein Cousinchen mit der Zeit alles noch kennen lernen – wenn es sich verheiratet.«

Agnete sah scheu von ihrer Spule auf. Wie prächtig sah er doch aus in dem braunen Tuchrock, der ihm wie angegossen saß, in der hohen, bunten Weste und dem feinen Kragen über dem seidenen Halstuch! Ihr Blick sank herab auf die ebenso gut sitzenden eleganten Beinkleider und die schönen, glänzenden Stiefel.

»Gott weiß,« fragte sie sich unwillkürlich, »ob er im Sinn hat, sich jeden Tag so fein anzuziehen!«

Joachim fing ihren Blick auf; ihre offene, unverhohlene Bewunderung schmeichelte seiner Eitelkeit und versetzte ihn sofort in gute Laune.

»Wenn man sich verheiratet!« begann Beate ungläubig, mit verächtlicher Betonung. »Nein, wenn man es nicht vorher lernt, so lernt man es nachher auch nicht.«

Joachim brach in lautes Gelächter aus. Er merkte, daß die Ansichten über den Ehestand, die seinen Cousinen von ihrer Mutter beigebracht wurden, nicht sehr romantischer Natur waren.

»Man kann sich aber doch denken,« sagte er lustig und freundlich belehrend, »daß ein Mädchen sich mit dem verheiratet, den sie liebt.« Er sprach zu Beate, aber er sah Agnete dabei an, die ihren Kopf nur noch tiefer über das schnurrende Spinnrad senkte.

Beate ließ ein verächtliches Räuspern hören. »Das kommt nie vor, kaum einmal in den Romanen.«

Die unwillige und cynische Stimmung, die den jungen Skytte vorhin ergriffen hatte, als er von der beabsichtigten Heirat zwischen Agnete und Baron Stjerne hörte, schlug nun plötzlich ins Gegenteil um. Er fühlte sich auf einmal, dem grundsätzlichen Zweifel Beates entgegengesetzt, wieder von dem schwärmerischen Glauben an eine wirkliche, echte, wahre Allmacht der Liebe ergriffen; einem Glauben, den er bei den meisten seiner Lieblingsdichter gefunden hatte und den er in Gesellschaft seiner jugendlichen Kameraden so oft mit warmen, begeisterten Worten hatte preisen hören. So lange er sich erinnern konnte, hatte dieser Glaube an die Frau, an »das ewig Weibliche« einen tiefen Eindruck auf sein leicht bewegliches Herz gemacht. An den Webstuhl gelehnt, den einen Arm um den Nacken gelegt und den Kopf etwas zurückgebeugt, begann er eifrig und ernsthaft seine Ansichten zu entwickeln, das Glück der Liebe und deren alleinseligmachenden Einfluß auf das Leben zu preisen. Seine dunkelblauen Augen strahlten unter der jugendlich glatten, weißen Stirne, über die das braune Haar lockig herabfiel, und der tiefe Einschnitt seines runden, bartlosen Kinns wurde gleichsam noch tiefer – beweglich und ausdrucksvoll bei seinen beredten Worten. Beate hatte das Weben schon lange aufgegeben. Sie spielte mit dem Schiffchen, den Kopf gedankenvoll auf das weiße Musselinhalstuch heruntergeneigt, ohne es zu wagen, dem Vetter gerade ins Gesicht zu sehen, während Agnete mit der Hand auf dem Spinnrocken, leicht vorgeneigt, mit halbgeöffnetem Mund und weit offenen Augen jede Empfindung seines Gesichts beobachtete. Zuerst war es Joachims Absicht gewesen, Beate davon zu überzeugen, daß das Glück der Liebe auch im Ehestand zu finden, ja eigentlich dort erst recht zu Hause sei; aber nachher kam er, je länger er sprach, von seinen eigenen Worten berauscht, immer weiter ab von seinem Gegenstand; er sprach jetzt nur noch von der Liebe im allgemeinen und von der Liebe des Mannes zum Weibe, frei von allen Banden und Gesetzen. Die Namen, die er dabei anführte, Julie und St. Preux, Frithjof und Ingeborg, sowie der jubelnde Ausruf Eigils von Oehlenschläger:

»Ich habe meine Helga, höret es, ihr Säle« u. s. w.

sie bewiesen freilich an und für sich nichts für das Glück im Ehestand, aber das merkten die Mädchen nicht, gerade wie er hatten auch sie schon lange den Ausgangspunkt vergessen. Er sprach ja wie ein Buch, wie ein wahres Gedicht, und außerdem sprach er von der Liebe – das war ihnen genug.

Dieser leidenschaftliche Vortrag vom Recht des Herzens hatte das Eis zwischen ihnen vollständig gebrochen; sie kamen sich nun schon wie alte Bekannte vor, und jetzt floß das »Du« ganz vertraulich von ihren Lippen, gerade wie bei Geschwistern. An den geliebten Frithjof anknüpfend, kam die Unterhaltung auf die Litteratur im allgemeinen; alle waren begeistert von der vor kurzem erschienenen nationalen Dichtung, aber von ausländischen Büchern kannten die Mädchen nicht viel mehr als ihre alten französischen Schulbücher. Die » contes« und die französischen Tragödien, die der Mama gehörten, waren meist eingeschlossen und wurden nur zur Uebung der Sprache in Auswahl und unter Aufsicht laut vorgelesen. Joachim erzählte ihnen von den deutschen Romantikern und trug ihnen einzelne Abschnitte aus »Don Carlos« und den »Räubern« vor; freilich mehr zu seinem eigenen Vergnügen als zu dem der Cousinen, denn sie verstanden nur sehr unvollkommen deutsch. Zu Mamas Zeit war es nicht Mode gewesen, deutsch zu lernen; aber französisch hatten sie, wie »aller besseren Leute Kinder«, beinahe zugleich mit ihrer Muttersprache gelernt. Als nun Joachim sah, daß sie trotz allem guten Willen seine Bewunderung für Karl Moor und Marquis Posa nicht teilen konnten, unterbrach er sich plötzlich selbst und rief: »Aber dann ist da noch ein Franzose, Namens Viktor Hugo. Er ist noch ganz jung, kaum älter als ich; aber ihr könnt glauben, der kann dichten!«

Und in der alten Webstube von Munkeboda, in der so viele tausend Ellen von Leinwand und Wergtuch von den Frauen, Fräulein und Dienstmädchen bei dem Ton von geistlichen Liedern und ernsten Volksliedern gewebt worden waren, begann nun der junge Skytte seinen Cousinen die ihnen ganz neue europäische Romantik vorzutragen.

» Nous parlons des héros, du ciel, des chevaliers,« scholl es klang- und ausdrucksvoll schon im Brauhause der Frau Majorin entgegen, die ganz bestürzt einen Augenblick anhielt, ehe sie die Thüre zur Webstube öffnete. Und als sie eintrat, sah sie ihre beiden jüngsten Töchter am hellen Vormittag, die Hände lässig in den Schoß gelegt, mit roten Wangen und Thränen in den Augen dasitzen, während der Herr Neffe mit gerunzelten Augenbrauen und theatralisch ausgestrecktem Arm mitten im Zimmer stand.

Wahrhaftig, eine neue Zeit war auf Munkeboda angebrochen Auch hier hatte das vierte Jahrzehnt des Jahrhunderts begonnen!



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