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Ulrich und Friedrich hatten sich an ihren spanischen Gefährten, der ihnen mehr Freund als Diener gewesen war, so sehr gewöhnt, daß ihnen der Gedanke schwer fiel, nunmehr ihre Reise allein fortsetzen zu müssen, wenn sie auch die Gefahren nicht scheuten, denen sie entgegengingen. So fuhren sie stundenlang dahin, ihren Gedanken nachhängend, nach und nach jedoch nahm die Landschaft an beiden Seiten des Flusses, namentlich aber am rechten Ufer einen so großartig wilden Charakter an, daß ihre Aufmerksamkeit völlig davon gefesselt wurde und sie sich in lebhaften Ausrufen der Überraschung ergingen, einander auf ihre Beobachtungen aufmerksam machend.
Sie hatten geglaubt, den Urwald genügend kennen gelernt zu haben; nun aber sahen sie, daß er ihnen noch eine Fülle des Neuen zu offenbaren hatte. Die Urwälder, die sie bisher durchquert hatten, waren sozusagen zivilisiert gegen die Wildnis, durch die der Apure seine Fluten wälzt.
Das rechte Ufer zeigte sich von einem etwa anderthalb Meter hohen Gebüsch gesäumt, das meist aus kastanienblättriger Sauso bestand und so gleichmäßig sich hinzog, daß man glauben konnte, eine regelrecht beschnittene Hecke vor sich zu haben. Dahinter erhob sich der majestätische Wald in geheimnisvollem Dunkel, durchleuchtet von der Pracht farbenreicher Riesenblüten. Die Palmen waren, im Gegensatz zu den Wäldern der Llanos, hier äußerst selten.
Durch die Sausohecke hatten die Tiere des Waldes sich zahllose Durchgänge gebrochen, und hier konnte man die riesigen Jaguare, den Tapir, die Pekarischweine ihren Durst löschen sehen, sowie eine Menge unseren Freunden noch unbekannter Geschöpfe von den seltsamsten Gestaltungen mit drohendem Aussehen und funkelnden Augen. Nur langsam und zögernd wichen sie zurück, wenn das Schiff näherkam, so daß man sie aus geringer Entfernung mit Muße betrachten konnte.
»Das ist wie im Paradies!« rief Friedrich entzückt aus. »Diese Pracht einer wilden erhabenen Natur und darin das Leben und Weben aller Arten von Vögeln und Vierfüßlern, die kaum eine Scheu vor dem Menschen zeigen! Und dabei sind es größtenteils Wundertiere der jungfräulichen Wildnis, die man bei uns in keiner Tierbude, in keinem zoologischen Garten, ja, kaum in einem Museum zu sehen bekommt!«
»Ja,« sagte Ulrich, »bezaubernd ist dieses Schauspiel wohl, solange wir es vom sicheren Boot aus betrachten können; wenn wir uns aber bald mitten hindurch wagen sollen, wird es uns auch seine unheimliche und bedenkliche Seite zeigen.«
»O! Nur keine Angst! Du wirst sehen, wie herrlich es ist, den Gefahren in nächster Nähe zu trotzen; ich freue mich schon darauf.«
Der Reiz dieser niegesehenen, stets abwechslungsreichen Bilder verlor nichts von seiner Anziehungskraft, auch als die Fahrt durch die Wildnis schon mehrere Tage gedauert hatte. Hier und da sah man aus den Baumwipfeln herabhängend das Haupt einer Riesenschlange sich hoch in den Lüften wiegen; manchmal dehnte sich ein flacher Strand vor dem Gebüsche aus, da lagen dann ganze Herden ungeheurer Krokodile, regungslos mit weitaufgesperrten Kinnladen, als erwarteten sie, wie echte Schlaraffen, daß ihre Opfer ihnen von selber hineinspazierten. Auch der Strom selbst wimmelte von diesen gewaltigen Amphibien, und zwar waren es keine Kaimane, sondern echte, dem Nil- und Gangeskrokodil ähnliche Krokodile. Manche dieser Riesenechsen maßen zwischen sieben und acht Meter Länge.
Nicht selten sah man auf dem Wasser sich ganze Rudel von Wasserschweinen, Chiguire genannt, umhertummeln. Diese armen, wehrlosen Geschöpfe von der Größe unserer Hausschweine wurden in großer Zahl von den Krokodilen verschlungen – ein gräßlicher Anblick! Oft retteten sie sich dadurch, daß sie rasch umwendeten und in entgegengesetzter Richtung dem Ufer zu schwammen. Ihr unheimlicher Verfolger konnte im Wasser, namentlich gegen die Strömung, die Bewegung des Umkehrens nur langsam ausführen, während sie ihm am Lande leichter gelingt; dadurch entkam manches der geängsteten Chiguiren ans Ufer, freilich oft nur, um dort die Beute eines Tigers zu werden. Einzig die außerordentlich rasche Vermehrung der Wasserschweine erklärt es, daß sie, trotz aller ihrer furchtbaren Feinde zu Wasser und zu Lande, noch so zahlreich sind.
Merkwürdigerweise bemerkte man oftmals die harmlosen Geschöpfe am Ufer, wie sie sich furchtlos um ein träges Krokodil herumtrieben, wahrscheinlich, weil sie wußten, daß das Krokodil des Apure und Orinoko auf dem Lande niemals angreift, wenn es nicht gereizt wird.
Unheimlich klang das Rauschen der Panzerschuppen, wenn sich ein Krokodil am Ufer bewegte. Nicht selten sah man kleine schneeweiße Reiher auf den Amphibien sorglos umherspazieren.
Am zweiten Tage fuhr das Schiff an einer Insel vorbei, die einen wunderbar prächtigen Anblick bot, da Tausende von Flamingo, rosenfarbigen Löffelgänsen, Reihern und Wasservögeln in buntestem Farbenspiel sie belebten. Man meinte, sie könnten sich kaum regen, so dicht gedrängt standen diese Vögel. Dies war die Isla de Aves, die Vogelinsel, von der schon Humboldt berichtet.
Am Morgen des 1. Novembers sah man über dem Urwald im Süden die Granitfelsen von Curiquima, den »Zuckerhut« von Caycara und die Cerros del Tirano emporragen; das Schiff lief gegen Mittag in den Orinoko ein, und da es seine östliche Fahrt hinunter nach Ciudad de Bolivar, dem früheren Angostura, fortsetzte, wurden Ulrich und Friedrich mit ihrem Gepäck und den drei Maultieren ans Ufer gebracht; denn ihre Reise ging in entgegengesetzter Richtung, den Orinoko hinauf, zunächst südwestwärts, später fast geradeswegs gegen Süden.
Es war doch ein eigentümliches Gefühl für unsere Freunde, als sie sich nun ganz allein, wie ausgesetzt, im Urwalde befanden: ein rechter Trost waren ihnen ihre drei Maultiere und der zahme Brüllaffe. Sie sahen dem Schiffe nach, bis es bei einer Biegung dem Auge entschwand; dann aber schüttelten sie alle trüben Gedanken ab: sie waren doch wenigstens zu zweit, und es galt die Auffindung des geliebten Vaters. »Vorwärts!« hieß die Losung unentwegt.