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In der Nähe einer reizend gelegenen größeren Stadt des Schwabenlandes befindet sich auf halber Höhe eines Hügels ein prächtiges Landhaus inmitten eines parkähnlichen, terrassenförmig angelegten Gartens.
In einem der geräumigen Zimmer des schloßartigen Baues saßen an einem trüben und nebligen Novemberabend drei Personen um einen Tisch, der durch eine große Hängelampe hell erleuchtet war: ein stattlicher Mann von etwa vierzig Jahren und zwei Knaben, die etwa sechzehn und siebzehn Jahre zählten. Es herrschte Stille in dem Raume, der geschmackvoll und behaglich, aber keineswegs üppig eingerichtet war. Der ältere Herr, dessen energisches und doch freundlich mildes Antlitz von einem üppigen braunen Vollbart umrahmt war, las in einem in portugiesischer Sprache geschriebenen, reich illustrierten Prachtwerk über Brasilien. Seine Söhne waren offenbar mit der Erledigung ihrer Schularbeiten beschäftigt. Der größere zeigte die edle Gesichtsbildung des Vaters; alle seine Bewegungen verrieten ein äußerst lebhaftes Wesen, und wenn er schrieb, flog die Feder nur so über das Papier hin, während sie doch feste, markige Schriftzüge hervorbrachte. Dagegen schien ihm die Arbeit Schwierigkeiten zu machen: nur kurze Zeit hielt das rasche Schreiben an, dann folgte jedesmal wieder eine längere Pause, in der der Jüngling teils angestrengt nachzudenken, teils gar nicht mehr bei der Sache zu sein schien. Dann ließ er die Blicke umherschweifen, trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem Tische herum, sprang auch wohl auf und blickte hinaus in die nebelverschleierte Landschaft, aus der Hunderte von Lichtern verschwommen heraufglänzten.
»Ulrich!« rief der Vater, als sein Ältester wieder einmal in die Nacht hinausblickte, »so bleibe doch bei der Arbeit! Man muß immer ganz bei seiner Sache sein; dann wird sie rasch gefördert und hat alle Aussicht auf gutes Gelingen.«
»Ach! Papa, das langweilige Aufsatzschreiben ist eben gar nicht mein Fall.«
»Aber es ist nun deine augenblickliche Pflicht,« erwiderte der Vater. »Was sein muß, muß sein! Dein unstetes Wesen macht dir die Arbeit nur langweiliger und zieht sie in die Länge: je gesammelter du schaffst, um so rascher wirst du dich deinen andern, angenehmeren Beschäftigungen zuwenden können.«
»Ich weiß aber gar nicht, wo ich die Gedanken herbringen soll!«
»Jedenfalls aus deinem Kopf und nicht etwa von draußen,« meinte der Vater lächelnd.
Ulrich setzte sich wieder, besann sich noch eine Weile und brachte dann den Aufsatz rasch zum Schluß.
Sein jüngerer Bruder Friedrich hatte unterdessen emsig gearbeitet. Er schien ganz anders geartet und glich auch äußerlich wenig dem kräftig gebauten Ulrich; er hatte etwas viel Weicheres und dabei ungemein Liebliches in seinem Gesicht: das war so ein blonder Raffaelkopf, von krausen Locken umwallt, den man nicht anschauen kann, ohne ihn zu lieben. Und wenn einen vollends die hellen, klugen und etwas träumerischen Augen ansahen, da mußte ihr kindlich liebenswürdiger Blick die Herzen gefangennehmen. Friedrich schaute aber nicht auf, ehe er nicht seine Übersetzung vollendet hatte. Diese machte ihm offenbar nicht die geringsten Schwierigkeiten, und nur selten schlug er einmal sein dickes Wörterbuch auf; meist schrieb er die griechischen Sätze in bestem Deutsch nieder, so gewandt, als handle es sich gar nicht um eine Übertragung aus einer fremden, toten Sprache, sondern um eine bloße Abschrift.
»Papa!« sagte Friedrich, als er mit der Arbeit zu Ende war, »die Sage erzählt vom König Midas, daß er alles, was er berührte, in Gold verwandelte: hängt diese Sage am Ende mit der Sage vom Steine der Weisen zusammen?«
»Eine Ähnlichkeit besteht wohl,« meinte der Vater bedächtig, »sollte doch der Stein der Weisen auch unedle Metalle in Gold verwandeln können. Aber der Stein der Weisen ist eigentlich nicht der Gegenstand einer Sage, sondern der Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen gewesen.«
Ulrich lächelte: »Aber, Papa! Die Forschungen der Alchimisten, diese abergläubischen und törichten Verirrungen, wirst du doch nicht ›wissenschaftlich‹ nennen?!«
»Gewiß, mein Sohn! Die Alchimisten haben wohl mannigfache Versuche angestellt, aber sie arbeiteten nicht ins Blaue hinein; sie besaßen oft geradezu großartige Kenntnisse und studierten Werke, deren geheimnisvollen Stil die Gelehrten von heute gar nicht mehr verstehen.«
»Aber das war doch lauter Blödsinn!« meinte Ulrich.
»Oho! Wer weiß, ob ein fortgeschritteneres Geschlecht in hundert Jahren vielleicht nicht ebenso abfällig über das urteilt, was wir jetzt als die ernsteste Wissenschaftlichkeit verehren? Vergiß nicht, daß wir die ganze Chemie in erster Linie den Alchimisten des Mittelalters und der Neuzeit zu verdanken haben.«
»Jawohl! Aber das ist doch mehr Zufall: das lag gar nicht in ihrem Streben; sie suchten unmögliche Dinge und machten dabei ungesucht wertvolle Entdeckungen.«
»Was ist unmöglich?« fragte der Vater ernst. »Unmöglich nennen wir das, was nach dem heutigen Stande unserer Erfahrungen noch nicht erwiesenermaßen vorgekommen ist und mit unserer gegenwärtigen Kenntnis der Naturgesetze unvereinbar erscheint. Aber denke stets daran, daß wir die Naturgesetze eben nur aus ihren beobachteten Wirkungen heraus erkennen können: wir erkennen also nie das Naturgesetz selbst, sondern nur seine Äußerungen. Darum muß auch die Wissenschaft jederzeit gewärtig sein, daß neue Beobachtungen ihre bisherigen Anschauungen über ein Naturgesetz völlig umwälzen können. Man hält die Naturgesetze für ewig und unabänderlich, ohne es freilich beweisen zu können; jedenfalls aber wechselt die menschliche Erkenntnis der Naturgesetze. Daher werden auch immer wieder neue Naturgesetze, das heißt solche, die uns bisher unbekannt waren, entdeckt, und ebenso ist es auch möglich, daß bisher für feststehend angesehene Gesetze als unhaltbar aufgegeben werden müssen: in der Wissenschaft ist fast alles Hypothese, das heißt Vermutung, und wenig unumstößliche Gewißheit.«
»So glaubst du, daß wirklich der Stein der Weisen gefunden werden könnte?« forschte Friedrich mit leuchtenden Augen.
»Für unmöglich halte ich es nicht.«
»Aber daran glaubt doch heutzutage niemand mehr!« fiel Ulrich ungläubig ein.
»Das hat gar nichts zu bedeuten!« entgegnete der Vater. »Man schüttet gar zu oft das Kind mit dem Bade aus: wie lange Zeit wurden die Pygmäen ins Reich der Fabel verwiesen, bis man solche Zwergvölker jetzt in Mittelafrika entdeckte, wo sie auf den ältesten Weltkarten verzeichnet sind; wie hat man über Herodots Leichtgläubigkeit und Marko Polos Aufschneidereien gespottet, bis Hieroglyphen und Keilinschriften, sowie neuere Entdeckungen den fabelhaften Berichten des einen und des andern recht gaben. Der Vogel Roch ist bereits kein phantastisches Märchengebilde mehr: man weiß jetzt, daß solche Riesenvögel bis vor kurzem noch auf Madagaskar hausten, ja es ist sogar möglich, daß sie heute noch nicht ganz ausgestorben sind, wenn man den Madagassen Glauben schenken darf, – und warum sollten sie schwindeln? Aber der Mensch hat die Sucht, allem ein ungläubiges Lächeln entgegenzusetzen, was irgend über seine bisherigen Wissensgrenzen geht; die große Masse der Halbgebildeten glaubt zu sehr an das Erschöpfende ihres Wissens.«
»Und nicht wahr,« fiel Friedrich ein, »Lindwürmer und Drachen hat es auch gegeben?«
»In der Tat treten die Berichte über das Vorkommen solch schrecklicher Ungeheuer noch bis in das Mittelalter hinein so zahlreich und so bestimmt auf, daß es sehr unwissenschaftlich wäre, sie einfach damit abzutun, daß man sie für Übertreibungen oder gar Ausgeburten der Phantasie erklärte. Warum sollten nicht vereinzelte Saurier, Pterodaktylen und dergleichen Ungetüme sich bis in geschichtliche Zeiten hinein erhalten haben? Oder gar Brontosaurier, deren Knochenüberreste so fabelhaft groß sind, daß anfangs kein europäischer Gelehrter den amerikanischen Berichten über solche Funde Glauben schenkte. Jedenfalls läßt sich nicht beweisen, daß solche Drachen nicht in einzelnen Exemplaren noch zu unserer Vorväter Zeiten lebten.«
»Das alles hat aber doch nichts mit dem Stein der Weisen zu tun!« warf Ulrich hartnäckig ein.
»Nein,« meinte der Vater, »die Alchimisten hegten die Überzeugung, ein Pulver finden zu können, das unedle Metalle in Silber und Gold zu verwandeln vermöge. Später erklärte die Wissenschaft und die aufgeklärte Welt der Gebildeten diesen Gedanken für eine Utopie, das heißt für ein Hirngespinst; heutzutage aber sind wir so weit vorgeschritten, daß wir wieder an die Möglichkeit einer solchen Verwandlung glauben dürfen. Bisher hielt man nämlich die Edelmetalle für Elemente, was so viel bedeutet, wie einfache, nicht zusammengesetzte und daher auch nicht zerlegbare Stoffe. Nun beginnt man zu erkennen, daß diese ›Elemente‹ eben doch auch aus verschiedenen Stoffen zusammengesetzt sind, so daß man durch Vereinigung ihrer Bestandteile unter den richtigen Bedingungen diese Elemente ebensogut künstlich darstellen könnte, wie man durch Verbindung von Kupfer und Zinn Bronze darstellt. Es ist immer kindisch, im vornherein etwas für unmöglich zu erklären: wer hätte vor hundert Jahren nicht gespottet, wenn man ihm von Telegraphen, Phonographen, Röntgenstrahlen und dergleichen vorphantasiert hätte? Man hätte das unbedingt in das Reich der Unmöglichkeit verwiesen. Napoleon I. wollte den Erfinder des Dampfschiffs in eine Irrenanstalt gesperrt wissen, so unsinnig erschienen ihm seine Pläne. Gelehrte Männer erklärten noch vor nicht langer Zeit, eine Setzmaschine erfinden zu wollen, sei eine verrückte Idee, denn der menschliche Geist lasse sich durch keinen Mechanismus ersetzen; das Flugproblem und das lenkbare Luftschiff waren bis vor kurzem noch Wahngebilde, an deren Möglichkeit fast niemand glauben wollte; jetzt sieht es damit schon ganz anders aus. Macht man nicht auch aussichtvolle Versuche, echte Diamanten auf künstlichem Wege herzustellen? Warum sollte man nicht dasselbe für die edlen Metalle erreichen? Ja, der durchaus glaubwürdige niederländische Gelehrte J. B. van Helmont erklärte schon im 17. Jahrhundert von Unbekannten eine geringe Menge des Steines der Weisen erhalten zu haben, mit dem er aus Quecksilber reines Gold dargestellt habe; es ist also nicht einmal unmöglich, daß einzelne Leute schon früher im Besitz des sorgfältig gehüteten Geheimnisses waren.«
»Mich nimmt es nur wunder,« sagte Friedrich nachdenklich, »daß unsere so weit fortgeschrittene Chemie die künstliche Herstellung der Metalle noch nicht zuwege bringt.«
»Es hat dies eben seine besonderen Schwierigkeiten,« erklärte der Vater. »Erstens kennt man die Zusammensetzung der sogenannten ›Elemente‹ noch nicht; sodann, wenn einem auch alle einzelnen Bestandteile einer Materie bekannt sind, so läßt sich aus ihnen doch nicht der betreffende Stoff zusammensetzen, wenn man nicht genau die Kräfte und die Umstände, kurzum die Bedingungen kennt, unter denen die fraglichen Bestandteile vereinigt werden müssen. Gerade diese Nebenumstände spielen oft die entscheidende Rolle, wie die Darstellungsversuche von Diamanten lehren. Auch davon scheinen die Alchimisten eine Ahnung gehabt zu haben; denn es ging unter ihnen die Kunde, die gesuchte Verwandlung bringe eine bedeutende Gewichtsvermehrung mit sich, so daß das gewonnene Gold viel mehr wiege, als die gemischten Bestandteile. Das würde darauf hinweisen, daß die Mischung unter Umständen erfolgen würde, bei denen ein unsichtbarer, vielleicht gasiger Stoff ganz von selber in die Mischung eindränge. Doch, gottlob! wir suchen den Stein der Weisen nicht und würden seiner Entdeckung auch keinen großen Wert beilegen. Ein ewiger Friede wäre für die Menschheit ein ungleich größeres Gut als unermeßliche Schätze Goldes, ganz abgesehen davon, daß eine künstliche Herstellung dieses begehrten Metalls es alsbald derart entwerten müßte, daß der ganze Vorteil verloren ginge. Immerhin hätte die Entdeckung insofern einen Wert, als das Gold ein schönes und nicht rostendes Metall ist. Ließe es sich billig beschaffen, so würde man zum Beispiel mit Vorliebe Denkmäler und dergleichen aus gediegenem Golde herstellen.«
»Aber,« wandte Ulrich ein, »der Stein der Weisen sollte doch auch vor Krankheit und Alter und gar vor dem Tode schützen?«
»Freilich! Die Alchimisten suchten in ihm auch das Lebenselixir. Das ist nun etwas, was mir selber unmöglich scheint: alle Krankheiten wird man nie aus der Welt schaffen, und gegen den Tod ist nun einmal kein Kraut gewachsen. Darum nannte man die Leute, die behaupteten, ein Lebenselixir zu besitzen, mit Recht Quacksalber. Das heißt, ursprünglich hatte dieser Name den schlimmen Beigeschmack nicht, wie heute: das Wort ›quack‹ oder ›queck‹, englisch ›quick‹, bedeutete das Lebhafte, Lebendige, weshalb › argentum vivum‹ (lebendiges Silber) auch mit ›Quecksilber‹ übersetzt wurde. Die Quacksalbe ist also die Lebenssalbe; vielleicht spielte auch bei ihr das Quecksilber eine Rolle, wie beim Goldmachen. Aber die Quacksalben erwiesen sich als Schwindel, und somit wurde der Name des Quacksalbers oder des Händlers mit Lebenselixiren, Lebenssalben und Lebenswasser zur Bezeichnung für einen Kurpfuscher.«
»Ob es wohl wirklich unmöglich wäre, ein echtes Lebenselixir herzustellen?« meinte Friedrich träumerisch. »Das war doch gewiß wert, daß man Jahrhunderte hindurch darnach suchte! Ja, das wäre der Stein der Weisen! Darnach zu suchen, dürfte man wohl seine Lebenszeit opfern: wie viel törichter ist doch das Streben so vieler Menschen ihr ganzes Leben hindurch! Keine Krankheit mehr, und leben solange man will ... Wieviel Glückliche könnte man damit machen!«
»Gewiß!« sagte der Vater zustimmend. »Aber das liegt nun einmal außerhalb der Weltordnung.« Friedrich seufzte; sein sinnendes Auge ließ aber erkennen, daß er dennoch vom Stein der Weisen träumte und ihn vielleicht nicht so ganz ins Reich der unerreichbaren Wunder verwies.