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16. Eine unerwartete Wendung

Auf Manuels Schreckensruf hin wandten sich beide Knaben um und sahen allerdings etwa dreihundert Reiter dahersprengen; aber alsbald rief auch Manuel in plötzlich verändertem, jauchzendem Ton: »Gute Mutter Gottes! Wir sind gerettet, gerettet, das sind ja Regierungstruppen! Es lebe Präsident Castro!« Schon der erste Ruf hatte die Angreifer stutzig gemacht; denn wenn er seinem Inhalte nach auch eher ermutigend für sie sein mußte, so konnten sie sich doch nicht denken, wer ihnen plötzlich zu Hilfe eile. Der zweite Ruf jedoch erfüllte sie mit jähem Entsetzen, und schneller, als sie emporgeklettert waren, stürzten sie nun hinab, um ihre Rosse wieder zu besteigen und womöglich den Feinden zu entkommen.

Aber bereits schlugen wieder die Kugeln von oben her in die Reihen der Gäule, und die wenigen Soldaten, die zur Bewachung der Tiere zurückgeblieben waren, jagten davon, erschreckt durch Manuels Ausruf und das plötzliche Zurückweichen ihrer Kameraden; den Fliehenden schlossen sich die ledigen Pferde in rasendem Galopp an, so daß keiner der unten anlangenden Rebellen sich mehr beritten machen konnte. Was half ihnen alles Fluchen, alle »Caramba« und »Carajo« über die ungetreuen, allzu eiligen Kameraden. Von diesen selber kamen nur wenige davon, weil Ulrich alsbald die Pferde der Davonreitenden aufs Korn genommen hatte und noch viele davon niederstreckte.

Schon waren die Regierungstruppen auf dem Platze und umzingelten die verzweifelten Feinde, die keinen Ausweg sahen und sich ergaben. Der Anführer der Sieger ließ sich den gefangenen General vorführen. »Ihr habt einen heißen Kampf gehabt?« fragte er. »Die Llanos ringsum sind mit Pferdeleichen bedeckt!«

»In der Tat, Exzellenz, Eure besten Schützen haben sich auf dem Islote verschanzt, und wir machen seit zwei Stunden vergebliche Versuche, ihnen beizukommen. Jetzt aber wäre es uns gelungen, wenn nicht das Unglück Euch herbeigeführt hätte.«

»Ich sah aber nur tote und verwundete Pferde: hattet ihr sonst keine Verluste?«

»Nein! unser Glück war es, daß die dort oben nur nach den Gäulen schossen; ich weiß wahrhaftig nicht, warum? denn ihre Kugeln sind unfehlbar; ich schätze, daß sie uns in zwei Stunden achtzig der schönsten Renner zuschanden geknallt haben, zuzeiten fiel ein halbes Dutzend in einer Minute. Hätten sie in ähnlicher Weise in uns selber hineingepfeffert, wir hätten schon längst den Angriff aufgegeben, obgleich wir uns vor keinem Teufel fürchten. Aber ich bin der Ansicht, daß es jetzt auch manchem der Unsern schlecht gegangen wäre, nachdem wir ihnen ernstlich auf den Leib rückten.«

»Wieviel Mann sind wohl dort oben verschanzt? Hm! Es scheint wenig Platz zu sein – höchstens für zwanzig bis dreißig, wenn sie recht eng aufeinander stehen. Drei Köpfe sehe ich über die Brüstung ragen. Werden auch große Verluste gehabt haben!«

»Das will ich meinen, Exzellenz! Caramba! wir haben ihnen einigemal so einen Kugelregen hinaufgesandt, der blutig unter ihnen aufgeräumt haben muß, wenn sie einigermaßen dicht standen; denn die Brüstung hat Lücken genug, durch die die Geschosse dringen konnten, und sie bietet nur für einzelne wenige vollkommene Deckung.«

»Und wieviel, sagt Ihr, waren droben?«

»Das mögt Ihr selber sehen! Don Jose, der Mestize, sprach von einem Dutzend; aber er ist ein Lügner und erwiesener Verräter: drei bis vier Dutzend müssen es gewesen sein; sollte mich aber wundern, wenn mehr als der vierte Teil von ihnen noch am Leben ist.«

»Nun, wir werden ja sehen!« meinte der Feldherr und ließ den Gefangenen abführen. Dann rief er nach dem Hügel hinauf: »Sennores, Kameraden, wer ihr auch seid, ihr habt euch wacker gehalten gegen eine Übermacht, gestattet, daß wir euch mit Ehren von eurer Festung abholen.«

»Wer als Freund kommt, ist uns willkommen!« rief Ulrich hinab.

Der General der Regierungstruppen hielt die Helden für würdig, daß er sie in eigener Person aufsuche und beglückwünsche. Auch war er neugierig, den so gut verteidigten Posten samt seinen Verteidigern, Toten und Verwundeten in Augenschein zu nehmen. Er fand bald den bequemsten Weg zum Aufstieg heraus und erkletterte mit einiger Mühe den Felsen in Begleitung eines Adjutanten und zweier Offiziere.

Weit riß er die Augen auf, als er, oben angekommen, über den Steinwall schaute und nur drei Maultiere und drei Mann erblickte, von welch letzteren zwei fast noch Knaben zu nennen waren, obgleich ihre pulverdampfgeschwärzten Gesichter einen männlich kühnen Ausdruck hatten.

»He!« rief der General verblüfft. »Wo zum Kuckuck sind eure Genossen hin verschwunden? Wollten sie nicht meine Ankunft abwarten?« Und er sah auf allen Seiten am Felsen hinab, konnte aber nirgends etwas von den Gesuchten erblicken.

»Wir sind noch alle hier oben,« sagte Friedrich, den das unverhohlene Staunen des alten Kriegers belustigte.

»Ja, wo ist aber denn euer Anführer?« stammelte der General.

»Einen eigentlichen Anführer haben wir nicht,« erwiderte Ulrich; »doch mag mein Bruder als solcher gelten, denn sein Befehl, nur auf die Pferde zu schießen, wurde ziemlich ausnahmslos befolgt.«

»O nein!« lehnte Friedrich ab. »Als Anführer kann nur mein Bruder Ulrich in Betracht kommen, als der ältere, mutigere und kriegerischere von uns. Wenn es auf mich angekommen wäre, so hätten wir uns wohl überhaupt nicht gewehrt; ich habe auch auf die Pferde nur mit großer Selbstüberwindung schießen können.«

Der General schüttelte immer wieder den Kopf: »Wo haben Sie denn nur Ihre Verwundeten und Toten untergebracht?« und dabei schien es, als wolle er den Felsengrund ringsum mit seinen Adlerblicken durchbohren, um irgend eine verborgene Höhlung zu entdecken.

»Verwundete und Tote?« sagte Ulrich lachend. »Gottlob! das hat es bei uns nicht gegeben; wie Sie sehen, wir sind alle gesund und munter.«

Nun brach auch der General in ein herzliches Gelächter aus: »Bravo, junge Herren! Der Scherz ist köstlich, und es ist Ihnen wirklich gelungen, meine Neugier aufs höchste zu reizen; aber nun lassen Sie es genug sein und führen Sie mich an den Ort, wo sich die Helden verborgen halten, die mit Ihnen diesen Platz so glänzend verteidigt haben; es drängt mich, Ihnen allen meine große Bewunderung auszusprechen, und wahrlich, Sie werden einer Erfrischung bedürfen, da Sie stundenlang alle Kräfte in Anspannung halten mußten: ich bitte Sie alle, mir als meine Gäste nach Nueva Valencia zu folgen, da mit Ihrer Hilfe die Umgegend von den Rebellen gesäubert ist.«

Der Adjutant und die beiden Offiziere, die sich entfernt hatten, in der Hoffnung, den geheimen Schlupfwinkel, dessen Vorhandensein auch ihnen feststand, mit strategischem Scharfblick ausfindig zu machen, kamen in diesem Augenblick ganz ratlos zurück: »Exzellenz!« sagte der erstere, »der Felsen ist so kahl wie Methusalems Schädel und zeigt nirgends die Spur eines Versteckes.«

»Das vermute ich auch,« bemerkte Friedrich. »Uns, die wir vor kaum drei Stunden diesen Platz zum erstenmal betraten, ist jedenfalls nichts dergleichen bekannt. Wir hätten uns wohl kaum solche Mühe gegeben, diese Brustwehr zu errichten, wenn wir einen solch unauffindbaren Schlupfwinkel gekannt hätten, wie Ihr ihn anzunehmen beliebt.«

»Ihr wollt doch damit nicht sagen, daß ihr drei ganz allein eine feindliche Armee drei Stunden lang aufgehalten habt?« fragte nun der General, starr vor Verwunderung.

»Wenn man zweihundert Mann in Venezuela eine ›Armee‹ nennt, so möchte ich Eure Frage bejahen.«

Der General sah verdutzt von einem zum andern, stets in der Meinung, es müßte ihm eine glaubwürdigere Aufklärung werden; da nahm Manuel das Wort.

»Es ist die reine Wahrheit, Euer Exzellenz; oder um noch genauer zu reden, diese beiden jungen Herren, die Ihnen auf tausend Schritt Entfernung jedes Haar einzeln vom Kopf schießen würden, falls Euer Exzellenz noch einige Haare besäßen, haben allein das Wunder vollbracht; denn was mich anbelangt, wahrhaftig, ich fing erst an, die Gäule zu treffen, während ich auf die Reiter zielte, als sie schon so nahe heran waren, daß meine Schießerei nichts mehr helfen konnte.«

»Santa Maria!« rief nun der General ganz außer sich. »Muß man sechzig Jahre alt werden, um Wunder zu erleben?! Ich bin ein alter General und habe manche Schlacht gewonnen, aber so etwas habe ich weder erlebt noch gehört. Ja, bis zu dieser Stunde hätte ich dergleichen nie für möglich gehalten. Verzeihen Sie mir daher meine Zweifel, sie gereichen Ihrem Heldenmut und Ihrer Gewandtheit zu um so größerer Ehre. Caramba! was sind das für Menschen, denen es überhaupt beifallen kann, zu zweit oder dritt einer solchen Übermacht Trotz zu bieten und dabei noch das Leben ihrer Angreifer zu schonen! Wenn wir das erzählen, so glaubt es uns niemand! Jetzt erst begreife ich's so recht, wie die Buren einer zehn- oder zwanzigfachen Übermacht so lange standhalten können; es ist doch etwas Großartiges um eine solche Schießkunst, alle Hochachtung!«

Auch die begleitenden Offiziere hielten nicht mit ihrer Bewunderung zurück, und unsere Freunde wurden im Triumph den Hügel hinabgeführt.

Mit scheuen Blicken sahen die Soldaten unten die Ankömmlinge an, als ihnen die Sachlage mitgeteilt wurde; dann aber brachen sie in wildjauchzende Hochrufe aus. Am meisten jedoch zeigten sich die gefangenen Rebellen verblüfft, als sie sahen, aus wem die Besatzung des Islote bestand, deren Kugeln ihnen solchen Schrecken eingejagt hatten und schuld an ihrer heutigen Niederlage geworden waren.


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