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Über der leeren, weißen Fläche hing kupferrot die Scheibe der Sonne, die keine Wärme gab und nur fahles Licht aussandte. Das Land wölbte sich auf der linken Seite zu einem niedrigen Hügel. Hier und dort reckte ein verkrüppelter Baum seine kahlen Aste in die regungslos stille Luft.
Ein scheckiges Pferd trug seinen Herrn Schritt für Schritt, ohne Weg dahin. Der Reiter atmete schwer. Er hatte die Arme um den Hals des Tieres geschlungen, seine Augen waren geschlossen, auf der niederhangenden Schulter hatte sich das Band verschoben, langsam träufelte Blut hinab. Jeder Tropfen bohrte sich in den Schnee; soweit das Auge sah, zeichnete eine schmale rote Spur den Weg, den Tristan gekommen war. Nah hinter dem Pferde schlich ein verhungerter kleiner Fuchs. Er leckte gierig das Blut aus dem Schnee.
Das Pferd Bigrat spähte nach allen Seiten aus. Es schien zu fühlen, daß seinem Herrn die Sinne schwanden, und es suchte Rettung für ihn. Hatte ihm doch Isolde die Beschwörung ins Ohr gesungen: Tristan nicht zu verlassen, solange es aufrecht stehen konnte. Bigrat zog achtsam die Luft ein, aber kein Wind regte sich und keine Hilfe kam ihm entgegen. Alles war leer; weiß und ohne Ende starrte die Fläche. Nur ein großschnabeliger Raubvogel flog übers Land. In der kalten Luft klangen seine Schwingen, als schlügen sie Glas.
Der Reiter sank langsam hinab. Seine Hände tasteten an der Brust des Tieres, dann an den Beinen. Sein linker Fuß war schon aus dem Bügel geglitten, der rechte hing noch fest. Jetzt griffen die Hände in den Schnee, sie faßten den Mantel und zogen ihn an sich. Aber noch immer lag der rechte Fuß im Steigreif. Bigrat blieb stehen. Wäre er weiter gegangen, er hätte seinen Herrn nach sich geschleift.
Der Reiter lag halb auf seinem Mantel im Schnee, das Gesicht nach abwärts gewandt. Er schlief oder war ohnmächtig geworden. Sein Blut floß nicht mehr, denn das gerötete Unterkleid hatte sich eng an die Schulter gepreßt. Lauernd schlich der Fuchs hinter dem Rücken Bigrats näher, seine gefräßigen Blicke zogen ihn wie zwei Seile heran. Er hoffte seinem Hunger ein Ende. Aber ein Schlag vom Hinterhuf des Pferdes scheuchte ihn wieder davon, auf den Hügel, gierig nach Nahrung und doch in Furcht vor dem stärkeren Tier.
Durch die Bewegung des Pferdes war Tristans Fuß aus dem Bügel geglitten. Er lag jetzt unbeweglich da. Bigrat wandte sich, schnob ins Gesicht seines Herrn und leckte ihm die Wangen. Tristan schlug einen schwachen Blick auf: Lichter Schimmer war rings um ihn – weiße Rosen erblühten in sommerlicher Pracht, ein leuchtendes, duftendes Meer weißer Rosen – es war Isoldes Garten. Und ein Ruf klang an sein Ohr; die Nachtigallen fingen ihn und trugen ihn übers Land – Isoldes Scheidegruß ...
Tristan schlief ein.
Bigrat hob den Kopf und stieß mit aller seiner Kraft ein langes, lautes Wiehern aus. Seinen Nüstern entströmte dichter Dampf, und die roten Augen sahen hilfeheischend in die Ferne. Aber nichts Lebendiges war im Umkreis als der bräunliche Fuchs auf dem Hügel. Die Sonne, die schon tief stand, legte einen fahlroten Schein voll Todestraurigkeit über das graue Land.
Das Pferd wandte sich und galoppierte der Anhöhe zu. Es sprang über den gefrorenen Schnee bis auf den Kamm des Hügels, und der Fuchs entfloh. Bigrat erhob ein Schreien voll von Angst. Es klang fast wie der Ruf eines Menschen in Todesnot. Der schwere Leib bebte. Dann blickte das Pferd zurück. Der kleine Fuchs hatte sich zu Tristan hingeschlichen und schnüffelte in frecher Nähe. Mit großen, wilden Sätzen sprengte es hinab, jagte dem Fuchse nach, erreichte ihn und stampfte den aufbellenden tief in den Schnee hinein, bis er verschwunden war.
Der Scheck schrie wieder laut und schlug mit dem langen buschigen Schweif gegen seine Flanken. Aber nur zwei Dohlen flogen krächzend auf. Bigrat ging langsam zu Tristan. Er leckte ihm die Wangen, aber die Augen öffneten sich nicht mehr.
Das Pferd begann jämmerlich zu winseln und stellte sich wie zum Schutze quer über seinen Herrn. So blieb es regungslos. Isoldes Zauber war in ihm. Es würde nicht länger leben als Tristan.
Die Sonne versank und bläuliche Schatten krochen über den Schnee. Sie schlichen auf lautlosen Füßen daher wie Späher des Todes, die ihm seine Beute weisen. Sie trugen erstarrende Kälte durchs Land.
Zwei Männer erschienen auf der Anhöhe, dort, wo Bigrat geschrien hatte. Sie mochten das ledige Tier gesehen haben und gedachten es einzufangen. Sie stiegen herab und fanden den vornehmen Reiter im Schnee liegen. Sie betasteten ihn und wandten ihn um und sahen das Blut auf Harnisch und Kleid. Es schien noch Leben in ihm zu sein. »Greif zu!« sagte der Alte, und sie hoben Tristan aufs Pferd. Der Bauer bedeckte ihn mit seinem Mantel und stützte ihn, daß er nicht niederfalle. Der Junge ergriff den Zaum des Pferdes und führte es den Hügel hinauf, dann durchs Gehölze zu ihrer Hütte. Hier wurde der Bewußtlose nahe dem Feuer auf ein Strohlager gebettet. Vater, Mutter und Sohn standen ratlos um ihn. Sie wußten nicht, ob der Mann noch einmal das Aug aufschlagen würde. Mit begehrlichen Blicken sah der junge Bauer das reiche, golddurchwirkte Gewand und das neue Schwert an. Die Alten lösten mühsam die Stahlschuhe von Tristans erstarrten Füßen, entkleideten ihn und legten ein feuchtes Tuch auf die Wunde in der Schulter; dann breiteten sie ein Bärenfell über ihn aus. Sein Gesicht war weiß, aber der Atem ging noch schwach durch die Lippen.
Es war Jels, der Mann Jovelins, des Königs von Karke, der den siechen Tristan in seinem Haus geborgen hatte. Der Kranke lag bis in die späte Nacht unbeweglich da. Schon glaubten die Leute, es sei zu Ende mit ihm. Da wurde er unruhig und sprach Worte vor sich hin, die einer fremden Sprache anzugehören schienen. Seine Stirne begann zu glühen. Die Frau bot ihm einen Trunk Wassers, den er gierig hinabschlürfte. Dabei öffnete er groß die Augen. Sie brannten in Fieber und sahen wirr umher. Er fiel wieder aufs Lager und murmelte mancherlei, was niemand verstand. Aber ein Name kehrte in seinen Reden wieder, der hieß: Isolde.
Nun war die schöne Tochter König Jovelins, Kaherdins jungfräuliche Schwester, Isolde genannt. Wegen ihrer wunderbaren weißen Hände hieß sie weit und breit Iseult as blanches mains. Als die alte Frau diesen Namen aus Tristans Mund vernahm, da meinte sie, es wäre die Tochter des Königs, von der Tristan sprach, und er sei auf dem Wege zu ihr verwundet worden. Der junge Jels machte sich am Morgen auf und ging ins Schloß nach Arundele, das wenig mehr als zwei Wegstunden entfernt war; der tiefe Schnee aber hielt ihn zurück und es dauerte vier Stunden, bis er hinkam. Er erzählte von dem fremden Manne, der in schwerer Krankheit läge und nach der Herrin riefe. Isolde horchte hoch auf. Einundzwanzig Jahre war sie alt geworden, und noch keinem hatte sie ihre Liebe geschenkt, obwohl mancher danach begehrt hätte. Sie war spröd und stolz, aber innerlich von süßen Träumen voll. Die Neugierde kam über sie, da ihr in öder Winterszeit von einem fremden, vornehmen Manne gesagt wurde, der nach ihr seufzte. Isolde war ein kluges Mädchen, klüger als manche Alte, und in der heilenden Kraft der Kräuter und Steine so wohl erfahren, wie es nur eine sein konnte, die vom Meister Merlin selbst alle Geheimnisse erlernt hatte. Als junges Kind war sie seine Schülerin gewesen, und der Weise, der schon hundertundzehn Jahre alt war, da er auf Arundele seinen Tod erwartete, aber noch klaren Geistes, hatte das aufwachsende Mägdlein so sehr geliebt, daß er nichts vor ihr verbarg, was sie wissen durfte, ohne an der Seele Schaden zu nehmen. Einem reinen Kind hatte er die Weisheit seines Alters schenken wollen. In der Nacht seines Todes wurde aber ein seltsames Harfensingen in den Sternen gehört; denn Merlin war der weiseste aller Menschen gewesen.
»Wir wollen sehen, wer es ist!« sprach Isolde zu ihrem Bruder, dem jungen Kaherdin, der sie sehr liebte und stets nach ihrem Willen tat. »Vielleicht, daß ich ihn heilen kann!« Und sie hüllte sich in warme Pelze und stieg mit ihrer Freundin, der kleinen munteren Alienor, in eine Sänfte, vergaß auch nicht des Schreines, in welchem die besten Heilmittel verschlossen waren. Kaherdin ritt mit drei Knechten an ihrer Seite.
Als sie zur Hütte kamen, lag Tristan in wilden Fieberträumen. Er warf das Fell von sich und sprang auf, um nach seinen Waffen zu suchen. »Der Morholt!« schrie er. »Sein Schwert ist vergiftet! Er kämpft mit Tücke!« Die Männer, die ihn halten wollten, schleuderte Tristan in die Ecke. Aber bald fiel er wieder aufs Bett und lag regungslos mit geschlossenen Augen. Die Glut schwand, sein Gesicht war bleich wie die Felsenwildnis des Hochlandes.
Isolde trat ein. Sie nahm einen Trank aus dem Kästchen und wollte ihn dem schwer Atmenden einflößen. Da schlug Tristan das Auge auf, in dem Verwirrung brannte – Isoldes Hand zitterte; sie vergoß auf seine Brust, was er hätte trinken sollen. Dieses glühende Auge hatte sie erschreckt. Sie erhob sich, ganz von Röte übergossen, und griff wiederum nach dem Gefäß. Alienor wollte ihr helfen, aber schweigend beugte sich die Königin nieder. Sie meisterte ihre Aufregung, und Tristan schluckte den heilenden Trank. Sein Auge war wieder geschlossen; er stammelte: »Isolde! ... Rächst du dich?« In seinem fiebernden Geiste wurden Bilder aus früherer Zeit lebendig, da er wund in Irland gelegen hatte und durch die Pflege der Königin vom Tode genesen war. Er murmelte: »Der Morholt ist tot ... ich bin es ... ich leugne es nicht.«
Isolde mit den weißen Händen hörte ihren Namen und sah voll Staunen und Schreck auf Tristan nieder. Wie kam es, daß dieser schöne, kranke Mann ihren Namen wußte? Ein Geheimnis barg sich da. War er aus fernem Land gekommen, sie zu freien? In dieser Stunde senkte die Liebe zu Tristan in ihr Herz eine Wurzel ein, die immer tiefer dringen sollte und immer neue Fasern trieb, bis das Herz der Königin ganz durchwachsen war von dieser Liebe.
Isolde entnahm ihrem Kästchen Linnen und Salbe und pflegte mit Sorgfalt der Wunde. Tristan sank in tiefen Schlaf. Das Fieber schien geschwunden. Isolde hatte alle Männer aus dem Raum gewiesen und saß mit Alienor unbeweglich neben dem Lager. Sie war in einer Verwirrung, die sie nicht begreifen konnte. Sie fürchtete, daß der Kranke wieder das Auge öffnen könnte, und ersehnte doch heimlich, noch einmal hineinzuschauen.
Kaherdin hatte Tristans Kleider und sein Pferd gemustert und sah, daß es ein Herr von hohem Stande sein mußte, der da krank lag. Er trat vor die Hütte, zog von seines Jagdfalken Kopf die Lederkappe, band den Vogel los und warf ihn in die Luft. Das Federspiel stieg hoch hinauf, kreiste einmal über Kaherdin und schoß dann dem heimatlichen Hause zu, die baldige Rückkehr zu künden. Die beiden Goldschellen an seinen Füßen klangen hell durch die kalte Luft.
Tristan wurde zu Isoldes Sänfte getragen, und die Königin bettete ihn, so gut es ging. Sie aber ritt zusammen mit Alienor auf ihres Bruders Pferd durch den bitteren Frost. Nie hatte das zarte Königskind so lange die Kälte des Winters und den fallenden Schnee erduldet. Allein sie achtete dessen nicht und legte ihren Mantel aus weichem Grauwerk auf den Kranken. Die kleine Alienor kauerte sich vor Isolde wie eine Katze zusammen und weinte Tränen über den schmerzenden Frost. Isolde ritt neben der Sänfte. Ängstlich spähte sie durchs Fenster und frohlockte, daß Tristan schlief. Die Kunst Merlins würde ihn retten. Noch nie war sie ihrem Meister so dankbar gewesen wie an diesem Tage.