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Gefion war nach Berlin zurückgereist. Ihre Wohnung kam ihr ganz fremd vor. Sie versuchte zu arbeiten. Vergeblich. Sie hielt es in ihrem zweizimmrigen Junggesellinnenheim nicht mehr aus. Von allen Wänden starrte sie das zur Fratze entstellte Gesicht Michaels an. War sie denn noch gebunden? Mord löst jede Verlobung. Selbst wenn sie in wahnwitziger Treue ihm noch anhangen würde, nur um sich zu beweisen, daß sie der echten Liebe fähig sei, hatte das doch seinen tieferen Sinn verloren, denn die heutigen strengen Gesetze würden einen Mörder auslöschen. Sollte es aber nur Totschlag sein, so würde die Strafe hierfür im Verein mit der für die Bilderfälschung viele, viele Jahre Gefängnis, wenn nicht gar Zuchthaus bedeuten.

Jene Stunde in Rüsternort, da sie innerlich und äußerlich versteinte, hatte doch eigentlich alles schon entschieden. Wie gleichgültig ist man im Grunde gegenüber den Qualen anderer Menschen, von denen man im Leben oder auf der Bühne hört, von denen man in Romanen liest, dachte sie und wunderte sich über die Schutzmauern, die der Selbsterhaltungstrieb um das Einzelwesen zog.

Jetzt nur nicht allein sein! Zu einem Menschen sich flüchten. Dies war so eine Stunde, wo man eine Mutter brauchte, haben müßte.

Sie rief bei ihrem Vater an, sie wollte für ein paar Tage zu ihm ziehen. Am Telephon hörte sie, daß er mit dem jungen Professor von Holleben verreist sei, in zwei Tagen werde er zurückerwartet. Müde legte sie den Hörer auf die Gabel, die sich gleichgültig senkte und damit jedesmal eine Verbindung trennte, die eben noch bestanden hatte.

Es klingelte an ihrer Flurtür. Sie verspürte keine Lust, zu öffnen, verhielt sich ganz still. Da klingelte es ein zweites Mal. Leise, bescheiden, und brach schnell ab, wie um Entschuldigung bittend; So klingelte nur Kollege Wöhrmann. Es war wie ein Zeichen, das besagen wollte: Du machst niemand Unrechtem auf. Ich bin's nur, der Kollege Wöhrmann, der dich von ferne verehrt und dich nicht mehr zu lieben wagt, seit du es ihm verboten hast.

Wenn sie noch eine einzige Sekunde zögerte, dann würde er gehen, leise, ein wenig gedrückt und voller Bedauern, daß er nun nicht über den wundervollen Kupferstich von Fragonard oder Dumoulin, den er gerade entdeckt hatte, in gedämpfter Begeisterung mit ihr plaudern konnte. –

Ein Mensch.

Sie rannte zur Tür, riß sie auf und rief den schon die Stufen Hinabsteigenden zurück.

Es war ein Ton in ihrer Stimme, der dem unglücklichen Mann alles Blut zum Herzen rinnen ließ. Dann jagte es wieder durch seine Adern. Er lief eilends, fast wie ein Student, die Treppen hinauf.

Gefion schlang ihren Arm um seine Schulter und führte ihn ins Zimmer. Dann legte sie ihren Kopf an seine Brust und beichtete ihm ihre Liebe zu einem andern.

Kollege Wöhrmann hielt ganz still.

 

Die Heide stand im Reif. Der Altweibersommer spann zierliche Fäden, die wie Christkindshaar in der rötlichen Abendsonne glitzerten. Heideschulmeister Uve ging schweren Schrittes auf den alten Harms zu und schüttelte ihm stumm die Hand. Sein Herz war voller Sorge. Ihn schmerzte die rotumränderte Anklage gegen Michel Wendhusen, die an der Gemeindetafel hing; der Mann, den er verehrt und geliebt hatte, den er noch liebte, sollte ein Mörder sein?! Der Mann, der eine große Einmaligkeit in seinem Leben gewesen war und der ihm so wunderlich viel von der bunten Welt da draußen, die Uve nicht mochte, von der er aber gern hörte, erzählt hatte, der ihm oft sein Künstlerherz ausgeschüttet. Das vergaß er ihm nie. Der seine Dichtungen geliebt und helfend kritisiert hatte. Uve war tieftraurig. Harms und er sprachen gedämpft von den Läufen der Welt und den Irrungen des Menschenherzens.

Uve blieb stehen und schaute über all das silberne Geflimmer. Die Schleppe Gottes nannte der Volksmund die reifüberspielten Spinnenfäden des Altweibersommers, ein schönes Wort, das ihm unendlich wohltat. In seinen Kummer hinein hörte er den alten Schäfer sprechen.

»Schulmeister, in deinem Herzen weißt du es längst wie ich auch: der Wendhusen ist kein Mörder. Er hat das nicht getan. Und was dein Herz weiß, das stimmt. Ich sage dir, der Mann war doch kein Schauspieler. Er war ein Ehrlicher. All die Leute hier, die ihn jetzt schlechtmachen, werden es auch bald zu hören kriegen, daß ein anderer den Mord begangen hat.« Damit reichte er ihm feierlich die Hand, in die der tief erfreut aufblickende Uve nur zu gern einschlug. Der alte Harms irrt nicht in solchen hellsichtigen Augenblicken, das wußte er. Mochte er sonst auch manchmal greisenhaften Unsinn brabbeln.

Freudig bewegt schritten die beiden dem Kruge zu.

 

Charlott von Rentmeister war zu Ute gekommen, deren junges Herz ratlos vor dem Gräßlichen stand, das ihrem Abgott nachgesagt wurde. Und wenn sie auch seit einiger Zeit innerlich etwas von ihm abgerückt war, ausmerzen ließ sich so eine erste Liebe nicht mit Stumpf und Stiel. Schlimm für ein junges Menschenkind, wenn eine erschütternde Enttäuschung am Eintritt in das reifende Leben steht. Solch ein Begebnis kann leicht ein Dasein zeitlebens überschatten und Hemmschuh bei künftigen Glücksmöglichkeiten sein, ja, so etwas konnte einen Menschen auf eine schiefe Bahn treiben. Darum war Hellfriede gekommen. Versöhnlich hüllte ihr Wesen Ute unmerklich ein. Dann begann die Freundin leise zu sprechen. Erzählte, wie sie den Mann gesehen, ihm gegenübergestanden habe. Dieser Mann sei bestimmt kein Mörder, sie glaube, er sei nur vor dem Verdacht, einer zu sein, geflohen.

Die klare Stimme Charlotts und ihre unerschütterliche Überzeugung lösten die Verhärtungen, die Utes Charakter gefährlich zu werden drohten, lockerten sie auf und ließen in das nur zu gern aufnahmebereite Ich des Mädchens den Samen des Vertrauens zu dem Schöpfergeist gleiten.

*

Fabricius sah der Einlieferung Michael Sprangers mit lebhafter Ungeduld entgegen. Inzwischen untersuchte die kriminalbiologische Abteilung die Familie der Sprangers und die des Barons Czerna, der ein falsches Alibi erbracht hatte, um nicht den Namen einer verheirateten Frau nennen zu müssen. Bei den Czernas ergab sich eigentlich gar nichts kriminell Belastendes. Anton selbst war während des Weltkriegs als Fähnrich in die Armee gekommen, hatte es bei dem Deutschmeisterregiment bald zum Leutnant gebracht, war mit der österreichischen Tapferkeitsmedaille und dem Orden der Eisernen Krone ausgezeichnet worden. Hatte dann während der Revolution und Inflation sein Vermögen verloren, arbeitete als Empfangschef in Hotels und Bars, wenn man das allerdings Arbeit nennen konnte, besser gesagt: er hatte zu tun gehabt mit den Alltäglichkeiten verschiedentlicher Gaststätten und mit schönen Frauen. Auch bei seinem zweiten Alibi drehte es sich um eine Frau.

»Wenn Sie mich für einen Giftmörder halten wollen, bitt schön, bedienen Sie sich meiner«, hatte er immer wieder gesagt, und das war alles, was man aus ihm herausbringen konnte.

Seine Vorfahren waren meist Staats- und Hofbeamte gewesen, keiner war gestrauchelt. Mütterlicherseits stammte er von ungarischem Grundbesitz, und auch in dieser Familie war nichts Ehrenrühriges vorgekommen. Eine kriminell erbliche Belastung ergab sich folglich nicht.

Anders bei der Familie Spranger. Michaels Vater war einmal in Untersuchungshaft gewesen. Dessen Vater hatte eine üble Geschichte mit schwerer Körperverletzung gehabt, die nur durch ein Wunder nicht zu einem Totschlag geworden, weil ein bedeutender Arzt in der Nähe gewesen war und den Schwerverletzten mit großer Kunst gerettet hatte. Daß dieser Großvater Michaels mit einer kleinen Geldstrafe davongekommen war, erschien heutigentags vielleicht verwunderlich. Es mußte in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ein seltsam gemütliches Recht in Sachsen-Altenburg geherrscht haben. Der Täter sollte schwerkrank gewesen sein, was das Volk aber nicht recht geglaubt hatte. Der Urgroßvater Michaels, der zugleich der Großvater des skrupellosen und skurrilen Gottwalt war, mußte ein toller Hecht gewesen sein. Der hatte in überseeischen Geschäften und, wie man ihm nachsagte, im Sklavenhandel viel Geld gemacht, eine abenteuerliche Irin geheiratet und war mit ihr gemeinsam bestrebt gewesen, durch Absonderlichkeiten die Mäuler seiner damals noch kleinen Vaterstadt Bremen in schnatterndem Gang zu halten. Dann war ihm wohl der Boden seiner Heimat zu heiß geworden, und er schien in der Ostindischen Kompanie untergetaucht zu sein. Er hatte von kühnen Seglerfahrten zwischen dem Pazifik und der Malaiischen Halbinsel allerlei kostbare Kuriositäten nach Hause geschickt, von denen in einer Erbstreitigkeit zwischen Michaels Vater und dessen Onkel Erich Spranger noch die Rede war. Auf jeden Fall mußte dieser Ur ein amüsanter Junge gewesen sein. Sein Ende hatte er, nach Familienerzählungen, in den Magen von Menschenfressern oder, wie eine mildere Version behauptete, in denen von Haien gefunden. Sein Vermögen sollte auf der Bank von England gelegen haben, jedoch die angestrengten Prozesse hatten kein klingendes Ergebnis erzielt. Der Magen des Merry Old England schien noch größer als der von braunen Menschenfressern oder von Haien gewesen zu sein. Eine direkt verbrecherische erbliche Belastung ergab sich nicht, eher eine abenteuerliche.

In der mütterlichen Familie Michaels riß die Tradition mit einer unehelichen Geburt bald ab. Doch war Frau Sprangers Vater allem Anschein nach ein biederer und musizierender Kaufmann gewesen.

Betrachtete Fabricius die beiden Stammbäume, so mußte er sich sagen, daß für die Tat des Giftmordes oder Totschlags an Kapsdorf wahrscheinlich nicht Czerna, sondern Spranger in Betracht kam. Dieser Michael war merkwürdigerweise im letzten Jahr des Weltkriegs erst eingestellt worden. Nahm man zu dem die Fälschungen, die als erwiesen angesehen werden konnten, so rundete sich das Bild und zeigte eine wenig vertrauenerweckende Persönlichkeit.

Michael wurde ihm vorgeführt. Die Spuren des abendlichen Handgemenges standen noch in seinem Gesicht. Es wirkte seltsam heldenhaft. Er trug den Kopf stolz und zeigte überhaupt eine vorbildliche Haltung. Die Art, wie er antwortete, hatte fast etwas von zuvorkommender Liebenswürdigkeit. Keine Frage konnte ihn aus der Fassung bringen. Er trug sich mit einer schlichten Würde, die günstig wirkte.

Selbst der erneute, harte Hinweis, daß er unter Anklage des Mordes stehe, verwirrte diesen Mann nicht. Fabricius geriet in ein gelindes Staunen. War das alles nur Maske, nur Schauspielerei? Dann allerdings war die Kunst seiner Beherrschung außergewöhnlich groß. Eine Haltung, die Sympathie einflößte.

Dieser Mann konnte einen Totschlag begehen, vielleicht. Aber würde er je einen Giftmord begangen haben? Fabricius sah von seinen Akten auf. Dieser Michael Spranger stand mit einem feierlichen Ernst vor ihm, in einer ungezwungen chevaleresken Haltung, die ein völlig unbelastetes Gemüt zeigte oder aber mit ungewöhnlichem Geschick vortäuschte. Eminent! Das Wort dürfte ihm nicht ohne Grund in seine Gedanken gekommen sein. Vorsicht! Dieser Mann hieß die Graue Eminenz als Merkmal besonderer Begabung.

»Wenn Sie ständig den Mord und sogar die Fälschungen leugnen, so schaden Sie sich nur. Das letztere ist geradezu töricht, denn diese sind erwiesen. Sie nehmen dadurch Ihrer Beteuerung, den Mord nicht begangen zu haben, allen Wert. Sehen Sie das nicht ein? Sie schweigen. Das muß ich Ihnen überlassen. Aber sagen Sie: wie wollen Sie erklären, daß Sie geflohen sind?«

»Das ist nur Zufall. Der Drang nach ungehemmter Freiheit. Ich wollte nicht in einer Liebe eingefangen sein. Ich floh vor einer Frau.«

»Und dazu mußten Sie sich verkleiden, umfrisieren, schminken, einen Schnurrbart kleben, Ihr Auto in die Elbe jagen, um Ihre Spur zu verwischen?«

»Das war ein Zufall. Die Steuerung war defekt. Ich sprang im letzten Augenblick aus dem Wagen, um mich zu retten.«

»Schön. Nehmen wir dies Ammenmärchen als Wahrheit. Aber warum kauften Sie in Hamburg einen Lastwagen, warum erwarben Sie durch Bestechung falsche Papiere, warum trugen Sie ein Vermögen bei sich? Nur um einer liebenden Frau zu entgehen? Spüren Sie nicht, daß Sie sich lächerlich machen mit solchen Behauptungen?« Warum entsprechen die Worte dieses Mannes so wenig seiner Haltung? dachte Fabricius. Da sah er in Michaels Augen und begriff, daß dieser mit seinen Gedanken ganz woanders war und dies Verhör anscheinend gar nicht ernst nahm. Er ließ Michael abführen, der ihm eine korrekte Verbeugung machte. Ist der Mann verrückt? fuhr es Fabricius durch den Sinn, geistesgestört? Wenn er nicht bald ein Geständnis ablegte, würde er Ihn auf seinen Geisteszustand untersuchen lassen.

Zunächst aber ließ Fabricius die Leiche des Kapsdorf nach der Oschatzer Allee bringen, was, da es Abend war, keinerlei Aufsehen erregte, ließ sie auf die Couch legen, so wie man sie gefunden hatte, kam dann aber auf einen sonderbaren Einfall. Er legte selbst die Bronzefigur auf den Boden, ließ die Leiche wieder von der Couch nehmen und am Boden so anbringen, daß die Schläfenwunde auf den gezackten unteren Rand der Figur zu liegen kam.

Dann wurde Michael herbeigeführt und plötzlich dem toten Kapsdorf gegenübergestellt. Sein Gesichtsausdruck wurde durch eine Blitzlichtaufnahme festgehalten. Sprangers Züge zeigten Bewegtheit, innerliche Anteilnahme, fast als ob er von einem alten Freunde Abschied nähme.

»Nun legen Sie ihn selbst wieder auf die Couch wie damals«, sagte Fabricius dicht an Michaels Ohr.

Spranger fuhr herum. Seine Augen waren aufgerissen. Er schaute den Kriminalrat erstaunt an. Dieser nickte befriedigt. Seine Assistenten sahen bewundernd zu ihm hinüber. Er hafte wieder einmal ins Schwarze getroffen. Der Blick, das Verlieren der Haltung und jener leise Ton, den der Täter ausgestoßen hatte, verrieten ihn nur allzu deutlich. Das Schuldbekenntnis war da, wenn es auch mit Worten noch nicht zugegeben wurde.

»Welches war Kapsdorfs letzter Ausspruch? Wie klagte er Sie an? Verwünschte er Sie?«

»›Die Schlinge zieht sich‹ ... Weiteres konnte er nicht mehr sagen. Es war Selbstmord, Herr Kriminalrat. Ich habe es nicht getan.«

»Und das sollen wir Ihnen glauben? Herr Spranger, erleichtern Sie Ihr Gewissen durch ein Geständnis. Wenn Sie die Tat nicht begangen hatten, warum wären Sie dann geflohen?« Der Mann wollte sich erneut aus der Schlinge ziehen. Schlinge? Das Wort des Sterbenden schien nicht erfunden zu sein. Haltung und Aussage wirkten überzeugend. War dieser Mann ein Schauspieler von ungewöhnlicher Begabung? Konnte er so gewandt sein, daß er sofort nach der kurzen Lüftung seines Unschuldsharnisches sich wieder so in die Gewalt bekam, daß er den offenherzig Aufrichtigen vollendet spielen konnte? Dann wäre er ein beachtlicher Gegner.

»Nochmals: Legen Sie den Toten so auf die Couch, wie Sie ihn neulich hingebettet haben!«

Man sah deutlich, wie Michael sich ekelte, die Leiche anzufassen, die trotz der Kühlhausaufbewahrung nach Verwesung roch. Er griff mit dem linken Arm unter den Körper, hob ihn leicht auf, als hätte der Tote kaum Gewicht, legte ihn gemessen auf das Lager. Die Leiche war steif. Er brauchte die Arme nicht in die damalige Haltung zu bringen, da sie darin schon verharrten. Michael richtete sich auf und spreizte die Finger, als wolle er die Ausströmung des Toten von sich abstreifen. Sonst zeigte er keinerlei Erregung.

Ein seltsamer Mensch. Fabricius hatte sich mehr von der Gegenüberstellung versprochen. »Mit welchem Gift haben Sie Kapsdorf getötet? In welchem Gefäß haben Sie es ihm gereicht?«

»Ich habe ihn nicht vergiftet. Die Polizei, aber nicht ich, weiß, womit Carl Kapsdorf getötet wurde. Wenn er an Gift starb, so wird er sich dies selbst gemischt haben.«

»Da das Gift nach Aussage der Polizeiärzte sofort nach dem Genuß die tödliche Wirkung hatte, so müssen Sie wissen, was und woraus er trank. Denn daß Sie bei seinem Tod zum mindesten dabeiwaren, daß Sie den Sterbenden auf die Couch legten, das haben Sie bereits zugegeben. Also?«

Michael überwand sichtbarlich eine Hemmung, starrte auf den Toten und sagte dann tonlos: »Er trank eine Tasse Tee.«

»Wo blieb die Tasse?« fiel Fabricius hart und barsch ein.

»Die Tasse? Ich habe nicht darauf geachtet. Der Teppich ist dick und weich, sie wird daraufgefallen sein.«

»Lügen Sie nicht. Sie haben die Tasse doch aufgehoben und ausgewaschen. Wahrscheinlich weggestellt oder mitgenommen. Denn, hören Sie gut zu, Herr Spranger, die Tasse wurde hier am Tatort nicht mehr vorgefunden, obwohl niemand als die Polizei nach dem Wachmann, der das Haus abschloß, den Ort betreten hat. Sagen Sie endlich die Wahrheit!«

»Die Tasse wollen Sie nicht gefunden haben? Das wäre doch merkwürdig. Sie wollen mir nur eine Falle stellen. Aber damit ist es nichts. Ich habe ihm das Gift nicht gegeben, und ich habe darum auch die Tasse nicht beseitigt.«

»Wie wollen Sie uns das beweisen?«

»Beweisen? Lächerlich. Ich bin fortgerannt. Ich wußte ja nicht, daß Kapsdorf an Gift starb. Ich dachte, es wäre ein Herzschlag, als er plötzlich zu Boden und auf die vorher umgestürzte Figur fiel. Ich erschrak heftig, als ich daran dachte, man würde mir an seinem Tod die Schuld geben. Es konnte aussehen wie Mord oder Totschlag. Als mir diese Vorstellung aufzuckte, hatte ich nur noch eine Idee: fliehen!«

»Wenn Sie unschuldig waren, – warum wollten Sie die Flucht ergreifen?«

»Das war doch das Natürliche. Sollte ich mich freiwillig in Verdacht bringen, mich in lange Verhandlungen verwickeln? Wer würde sich dem nicht entziehen?«

»Das Natürliche wäre gewesen, Sie hätten den Fall auf der nächsten Polizeistation angezeigt. Das ist in solchem Falle die normale Handlungsweise, und jeder anständige, unbescholtene Bürger hätte so gehandelt.«

»Meinen Sie?« Michael sah den Kriminalrat erstaunt an. Man merkte deutlich, daß ihm dieser Gedanke selbst jetzt nicht gekommen wäre.

Daraufhin antwortete Fabricius eindringlich: »Nur ein Mensch mit schlechtem Gewissen handelt so wie Sie. Nur ein solcher. Sie haben sich verraten. Gestehen Sie die Tat.«

»Ich habe nichts zu gestehen.« Damit richtete Spranger sich auf und sah auf die ihn umgebenden Polizeibeamten herab, die alle etwas kleiner waren als er.

»Wären Sie mit Kapsdorf nicht wegen der Bilderfälschungen verbunden gewesen, so hätten Sie kein schlechtes Gewissen gehabt. Das müssen Sie zugeben.«

Er wird sich hüten, dachten der Inspektor und der junge Kommissar. Aber zu ihrer Verwunderung erwiderte Spranger mit einer kleinen Verbeugung: »Hierin haben Sie recht, Herr Rat.«

»Also, dann geben Sie den Giftmord auch zu.«

»Ich habe Kapsdorf nicht vergiftet.« Michael machte eine gelangweilte Geste. Fabricius sah ein, daß er im Augenblick mit dem Mann nicht weiterkommen würde und ließ ihn in, das Untersuchungsgefängnis zurückbringen. In aller Ruhe begann er nun eine systematische Suche. Eigentlich wußte er nicht, was er zu finden erwartete, aber seine innere Stimme rief ihm, nicht lockerzulassen. Das Geheimnis dieses Mordes war für ihn noch ungeklärt, das Rätsel, das er hinter all dem Geschehen spürte, noch ungelöst. Im Gegensatz zu seinen Kollegen konnte er den Fall noch nicht als beendet ansehen.

Fabricius durchsuchte zunächst einmal das Privatkabinett des Toten, um seine Ungeduld und damit seinen Spürsinn zu stacheln und den berühmten sechsten Sinn eines großen Kriminalisten einzuschalten. – Bei seiner Suche in dem Privatkontor fand er, wie vorausgesehen, nichts von Belang. Ordnungsgemäße Rechnungen, üblicher Schriftwechsel, Verkaufsunterlagen, einige wenige Privatbriefe unbelastender Art, Steuererklärungen, die erstaunlich hoch waren. Was doch der reguläre Kunsthandel an sich schon einbrachte, verwunderlich! Was mußte der Kerl mit seinen Schiebungen und Fälschungen verdient haben!

Nach diesem Raum kam die Malerwerkstatt an die Reihe. Auch hier sollte sich nichts Verdächtiges finden lassen? Fabricius wurde unruhig wie ein Rennpferd vor dem Start. Schon wollte er, gelinde verzweifelt, den Raum verlassen, als er von einigen Kopien drittrangiger Art wie magisch angezogen wurde. Er griff mechanisch zu und nahm die größte der nur auf einen Rahmen gezogenen Leinwanden ab.

Zunächst war da nichts zu sehen. Die Wand war mit Rupfen bespannt. Schmale Leisten teilten die eintönig braune Fläche in angenehme Felder. Fabricius stand still. Dann klopfte er die Wand ab. Das Feld unter dem abgenommenen Rahmen gab Hohltöne. Er betrachtete, eine leise Aufregung feststellend, die Leisten rings um dieses Feld. In der linken oberen Ecke, die man gerade noch erreichen konnte, wenn man sich tüchtig reckte, war die Leiste anscheinend beschädigt. Das Eckstück hatte dunkle Flecke und hing ein bißchen lose, auch war es eine Winzigkeit schief. Fabricius reckte sich nochmals und drückte auf die schadhafte Stelle. Eine Tapetentür ging auf, schlug nach innen in einen dunklen, nicht großen, fensterlosen Raum. Bald fand der Kriminalrat den Lichtschalter. Die Beleuchtung flammte auf. Er stand in der Fälscherwerkstatt.

Da waren Farbreiben, Pflanzenreste, Destillierkolben, Retorten, Flaschen aller Art mit Tinkturen. Es konnte in einer Alchimistenküche kaum anders ausgesehen haben.

Fixative, Firnisse standen neben Schnelltrockenapparaten. Hier waren also durch Schnelltrocknen künstliche Sprünge in Malereien gemacht worden. Der Beweis für die Fälscherzentrale Kapsdorf war erbracht. Einen Schritt weiter, dachte Fabricius. Aber das Eigentliche habe ich noch nicht gefunden. Wo ist das versteckt?

In diesem Raum, der seine Geheimnisse unbefangen ausplauderte, war nichts mehr zu finden. Das spürte er. Fabricius sah sich noch einmal um. Dann verließ er die Fälscherwerkstatt, in der alle Vorarbeiten für die danebenliegende Malerwerkstatt ausgeführt wurden. Offenbar hatten hier aber nur Eingeweihte gemalt. Er rief vom Privatkontor die Kriminalzentrale an und gab Order, den Maler Ignaz Räscher, der in Untersuchungshaft saß, hierherzubringen, ebenso die Schwestern Mangelin und den Ladendiener Lehnsmann.

Dann suchte er weiter. Sein Eifer, ebenso seine innere, alles bewegende Unruhe waren keineswegs erlahmt, steigerten sich vielmehr von Viertelstunde zu Viertelstunde. Der Abstellraum, die Vorratskammer, das Aufenthaltszimmer, für das Personal wurden einer gründlichen Durchsuchung unterzogen. Vergeblich. Nur alltägliche und ordnungsgemäße Dinge sahen ihn an, mißbilligend, wie er meinte. Im Büro war auch alles hergebracht und ohne jede Absonderlichkeit. Diese Einwandfreiheit all der Dinge, Möbel, Sachen und Wände versetzte Fabricius in Fieber; es mußte noch etwas geben, etwas, das sich vor ihm verbarg.

Endlich fand er in dem großen, altmodischen Schreibfisch der Prokuristin Ottgebe Mangelin ein Geheimfach, wie das in alten sogenannten Zylinderbüros dieser Art vielfach vorhanden ist. Hier war es besonders gut getarnt gewesen. Das Fach enthielt Abmachungen mit Malern, Abrechnungen, Aufstellungen über Verkäufe von Fälschungen an große Privatgalerien des Auslands, eine erdrückende Fülle von Material. Das war gewiß interessant, aber es beleuchtete die Sachlage nicht neu, es ergänzte sie nur.

Einzig ein Heft, das Abrechnungen und Zahlungsvermerke an G. E., also zweifellos die Graue Eminenz, enthielt, war von Wert für die weiteren Vernehmungen Michael Sprangers. Hiermit konnte man ihm beweisen, daß er viele Fälschungen für Kapsdorf gemalt, daß er große Gelder dafür von ihm bekommen, daß die Beziehungen jahrelang gedauert hatten und daß der plötzliche Bruch, der Abbruch, aus Feindseligkeiten entstanden war. Feindseligkeiten sind der erste Schritt zu Totschlag und Mord. Vom Fälscher zum Giftmischer ist nur ein Schrift.

Aber das Eigentliche, das Entscheidende, das hier Irgendwo in diesen Räumen hockte und auf ihn wartete, ihn ansog, ihn bis ins Innerste beunruhigte, das hatte er noch nicht gefunden. Soviel war ihm klar.

Ein Beamter meldete sich mit Ignaz Räscher zur Stelle.

Der mickrig-schmächtige Maler machte einen verängstigten Eindruck. Er hatte Frau und drei kleine Kinder und kam sich immer irgendwie bejammernswert vor. Auch jetzt traten ihm gleich die Tränen in die Augen, als er, in die Malerwerkstatt geführt, bestätigen mußte, hier gearbeitet zu haben. Ein-, zweimal hatte er Bilder, alte Bilder, die er stets für echt gehalten, übermalt. Von Kapsdorf wurde er ausgenutzt und elend bezahlt. Der kleine Gauner, tat Fabricius fast leid. Er schreckte so bangbüxig zusammen, als sich auf des Kriminalrats Fingerdruck die Tapetentür öffnete und die noch beleuchtete Fälscherwerkstatt sich auftat. Voll Neugier sah Räscher hinein. Diese kleinformatige, unverhüllte Neugier war sein bestes Alibi. Dieser Mann hatte keine Fälschungen vorbereitet, keine ausgeführt und natürlich nicht Kapsdorf mit einer Bronzefigur erschlagen.

Inzwischen waren die Schwestern Mangelin erschienen, die man telephonisch beordert hatte. Sie ahnten nicht, daß ihr Weggang von zu Hause beobachtet, ihr Weg begleitet worden, noch gar, daß in ihrer Abwesenheit eine zweite Haussuchung bei ihnen stattfand, deren verblüffendes Ergebnis Fabricius bald erfahren sollte.

Die Mädchen wurden einzeln in das Privatkontor gerufen, wohin Fabricius die Ausbeute aus Ottgebes Schreibtisch gebracht hatte. Dieses alternde Mädchen machte einen einfachen, fast schlichten Eindruck; ihr Wesen war still, offen und freundlich. Fabricius sprach ihr seine Verwunderung über die belastenden Schriftstücke in ihrem Schreibtisch aus; auch wies er darauf hin, daß einige der Aufstellungen offenbar mit derselben Maschine geschrieben seien, mit der jener berüchtigte anonyme Brief an den Zolldirektor in Neuyork getippt wurde.

Ehrlich erstaunt fragte mit feiner Zurückhaltung Ottgebe Mangelin nach dem Geheimfach, wo es sei und wie man es öffne. Nein, sie habe nie eine Ahnung davon gehabt. All diese Schriftstücke seien ihr unbekannt, die müsse der Chef nach Büroschluß dort verborgen haben. Es sei eigentlich häßlich von ihm, so zu handeln, denn dadurch, das mußte er sich doch sagen, konnte sie eines Tages sehr in Verlegenheit versetzt werden. Nicht wahr? Es klang alles einfach und ehrlich.

Fabricius stimmte ihr bei. Das paßte zu seiner Theorie, daß dieser gerissene Fuchs sich ein Unschuldslamm als Versteckplatz gesucht. Doch durch alle weiteren Antworten Ottgebes schwang, ihr wohl völlig unbewußt, ein Unterton von Feindschaft a priori gegen den toten Kapsdorf, was dem bewährten Kriminalisten nicht entging. Aber das späte Mädchen sagte nichts direkt Feindliches oder Häßliches gegen den Ermordeten aus.

Fabricius entließ Ottgebe und rief deren Schwester Annette herein. Diese zeigte sich von Anfang an verstockt, gab nur mühsam unlustige Antworten, und bald fand der erfahrene Kriminalrat heraus, daß dieses Mädchen etwas verbarg, sei es ein großes Unglück oder ein Verbrechen. Er packte nun schärfer zu und verfing Annette in ein Kreuzverhör, indem er seinen soeben angekommenen Inspektor eine Reihe bestimmter Fragen tun ließ und seinerseits auf die Antworten stets rasch einhakte.

Aber auch das ließ nur einen immer schärfer hervortretenden Haß bei dem Mädchen erkennen, einen Haß nicht nur gegen die peinigenden Frager, sondern auch – gegen den ermordeten Kapsdorf. Welches nun eigentlich der Grund zu diesem sinnlos erscheinenden Haß war, das verschwieg das Mädchen. Daraufhin wurde Annette einem Beamten zu gesonderter Bewachung übergeben. Fabricius selbst begleitete sie vordem noch in die Fälscherwerkstatt, die sie zu seiner Verwunderung nicht kannte, was an ihrem Erstaunen deutlich sichtbar wurde.

Inspektor Ewers meldete nun dem Rat die Ergebnisse der Haussuchung, die nur in einem Punkte belastend war: eine uralte Sperber-Schreibmaschine mit Doppelschaltung war diesmal gefunden worden. Mit dieser Maschine war der anonyme Brief nach Neuyork getippt worden, sowie ein angefangener, verzweifelter Liebesbrief an einen jungen Mann, von dem aber weder Vorname noch sonst etwas genannt war.

Annette also war die Schreiberin, Annette die Mitschuldige Kapsdorfs. In der Tat, der Mensch lernt nie aus. Fabricius vernahm nun den inzwischen eingetroffenen Hausdiener Lehnsmann. Ein Mann, der offenbar wegen seiner minderbemittelten Geistigkeit und sonstigen Gutwilligkeit eingestellt worden war, einer, der die Ermordung seines immer freundlichen Chefs, der auch so nett mal 'ne offne Hand gehabt, ehrlich bedauerte. Das wäre ein anständiger Mann gewesen, beteuerte er.

Auf die Frage, wie sich die andern Angestellten zu dem Chef verhalten hätten, wußte er nichts Besonderes zu sagen. Mit dem Baron Czerna habe es bisweilen Krach gegeben, weil der immer unpünktlich war; der hatte es zu sehr mit die feinen Weiber«. Sonst aber wäre gegen den Baron nichts zu sagen gewesen.

Ob Czerna Schimpfreden auf Kapsdorf geführt habe?

»Nein, der nie. Dazu ist der zu gutmütig.« Drohreden und Flüche, oder wie man es nennen will, die habe nur die kleine Annette letztlich mehrfach ausgestoßen. Aber er wolle beileibe nichts gesagt haben.

Dies war nun bei einem polizeilichen Verhör, wo Mordverdacht auf jedem lag, der mit Kapsdorf irgendwie zu tun gehabt hatte, absolut unmöglich. Lehnsmann, in die Enge getrieben, gestand, daß er sogar einmal gesagt habe: »Lassen Sie das den Chef nicht hören. Der schmeißt Sie raus«, worauf Annette entgegnete: »Das wagt der ja gar nicht!«

Wäre Fabricius ein weniger ernster und gemessener Mensch gewesen, so würde er von seinem Sitz aufgefahren sein. Hier lag also wahrscheinlich ein Racheakt vor, und sein Gefühl, daß Michael Spranger vielleicht an dem Mord nicht schuldig sei, schien ihn nicht betrogen zu haben. Annette wird vorgeführt.

Sie ist bleich und sichtlich erregt. Sie versucht, sich zu fassen.

Fabricius tritt neben Lehnsmann und läßt ihn die gemachten Aussagen wiederholen. Erst starrt das junge Mädchen verzweifelt von einem zum andern, schluchzt fassungslos auf; dann schreit sie Lehnsmann ins Gesicht: »Pfui!«

Sie taumelt. Ein Stuhl muß ihr untergeschoben werden. Sie bricht darauf zusammen. Nichts ist aus ihr herauszubringen. Sie weint hemmungslos.

Fabricius läßt ihr Zeit. Dann setzt er sich zu ihr und dringt mit leiser Stimme in sie. Er ringt um ihr Vertrauen. Endlich blickt sie auf und in seine Augen. Diese Augen zeugen von einem aufrechten Menschen, von einem väterlichen, großen Charakter.

Plötzlich wirft Annette ihre Arme um seinen Hals. Sie vergißt, daß dieser Mann ein Kriminalrat, daß dies ein Verhör ist, daß es auf Leben und Tod geht.

»Er hat ... ich war so glücklich. Ich war mit Erich verlobt. Er ist Doktor. Wie glücklich ich war! Selig, wie nur ein Mensch sein kann. Dann hat mich dieser ... Teufel ... vergewaltigt. Ich habe um mein Leben, mein ganzes Glück gefleht; ich bin auf den Knien gelegen vor ihm, habe zu ihm gebetet wie zu Gott in der Kirche. Umsonst. Ohne Schonung hat er mir die Sachen vom Leibe gerissen. Es war – ach, ich kann's und kann's nicht sagen –« Ihre Stimme drohte zu ersticken.

Dann begriff sie wohl, wo sie war und wen sie umarmte. Sie riß sich los. »Polizei! Ach Gott, Polizei! Zu spät. Auf mein Schreien ist keiner gekommen. Hier, hier ... auf der ... Couch ... Tausendmal hat er den Tod verdient!«

Sie haben ihm das Gift gegeben, in einer Tasse Tee?«

Das war nicht das Furchtbarste. Kein Mensch kann das ertragen. Ich bin ausgelöscht seitdem, tot – seit, seit Erich mir geschrieben, daß ... daß er ein Mädchen, das sich schänden ließ, nicht lieben kann, daß er mich nie ... nie heiraten könnte. Kann denn ein Mensch so unbarmherzig sein? Sagen Sie, gibt es so etwas? Soviel Entsetzliches?!«

Fabricius drängte mit aller Macht sein aufwallendes Gefühl zurück. Es galt, die Wahrheit, den wirklichen Täter zu finden. »Und darum haben Sie Kapsdorf das Gift gegeben?«

»Gott hat ihn bestraft, den Schuft. Er hätte den grausamsten Tod verdient. Ich sage nichts weiter. Mit mir ist es aus. Mir ist ganz gleich, was mit mir geschieht. Lassen Sie mich fort von hier. Hier kann ich nicht länger sein. Verstehen Sie denn das nicht?« schrie sie Fabricius an.

Noch nie in seinem ganzen Berufsleben war es ihm so schwergefallen, seine Pflicht zu tun.

Er mußte Annette verhaften. Sie sah ihn an wie eine Irre. Stumm lieh sie sich wegführen.

»Nein! Nein!« gellte ihm das schrille Schreien der Schwester Ottgebe im Ohr, die voll Entsetzen Annette in dem Polizeiauto verschwinden sah.

Fabricius aber war, als habe er noch immer nicht das gefunden, was ihn hier anzog. Sinnend fuhr er zur Kriminalzentrale.

*

Obwohl Annette sozusagen ein Geständnis abgelegt hafte, durch das Michael Spranger entlastet wurde, konnte Kriminalrat Fabricius diesen merkwürdigen Verbrechertyp nicht aus seinen Gedanken bringen. Nie in seiner ganzen Laufbahn war ihm ein Mann begegnet, der ihn so gefesselt hatte. Er suchte sich Klarheit über den Charakter Michael Sprangers zu verschaffen. Was für ein Mensch war der? Kapsdorf hat ihn um das Geld für die Leda betrogen. Wahrscheinlich. Vielleicht daher der Streit. Daher der Mord. Aber Gift, und die verschwundene Tasse?

Die Annette Mangelin? Ja, gewiß. Man muß vorsichtig sein. Mußte solch ein Mädchen, ganz gleich ob sie als Täterin oder nur als Zeugin in Betracht kommen würde, mußte sie auch vor sich selbst, vor Selbstmord schützen. Hierdurch würde der ganze Fall unaufgeklärt bleiben und der Schuldige nicht zur Verantwortung gezogen werden können, was stets für das Ansehen der Justiz abträgig ist. Darum hatte die vorläufige Festnahme einen doppelten Sinn. In der Untersuchungshaft würde man dies leidenschaftliche, überaus erregte Mädchen davor zu schützen haben, daß es in irgendeiner Form Hand an sich legte. Fabricius gab die diesbezüglichen Anweisungen.

Aber dieser Spranger. Er hatte die Flucht ergriffen. Hatte sich zu tarnen versucht, war wie ein Wilder, ein Wahnsinniger, abenteuerlich durch Deutschland gerast hatte Verkleidungen und Wechsel in den Beförderungsarten mehrfach vorgenommen. Fühlte sich also schuldbewußt. Wollte sich der strafenden Gerechtigkeit mit allen Mitteln entziehen. Wirkte auf seiner Flucht sehr aufgeregt. Schlägt sich. Prügelt sich. Kämpft um sein Geld, zuletzt um sein Leben.

Dieser selbe Mann ist nach der Verhaftung hier bei der Einvernahme von einer vornehmen Ruhe, zeigt eine vorbildliche Haltung, gibt seine Fälschungen zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Wie ist das möglich? Wie reimt sich das zusammen?

Gewiß, viele Verbrecher wehren sich bis aufs Blut vor ihrer Verhaftung, und nachher sind sie still, abgespannt, ins Unabänderliche ergeben. Das kommt oft vor. Aber Spranger ... Diese fürstliche Haltung, das ruhige Eingeständnis seiner Fälschungen, dazu das Leugnen des Signierens, der Bezahlung und des Mordes.

Die Tür seines Zimmers öffnete sich, und Kriminalrat Fabricius begrüßte freundlich Michael Spranger, der hereingeführt wurde. Der Beamte bekam einen Wink, sich zurückzuziehen. Spranger sollte den Eindruck einer unkontrollierten, freien Unterhaltung haben. Das Gespräch wurde, für ihn unbemerkbar, durch Mikrophon abgehört und im Nebenzimmer protokolliert.

Fabricius lud Spranger ein, an einem kleinen Tisch Platz zu nehmen, und bot ihm Zigaretten an. Michael griff gern zu. Sie rauchten. Keiner sprach ein Wort. Michael schien dies nicht wahrzunehmen. Es wirkte, als wäre er mit seinen Gedanken, seinem ganzen Wesen weit fort.

Was beschäftigte diesen seltsamen Menschen, der ganz gewiß kein gewöhnlicher war? Was füllte ihn so aus? Fast wurde es dem gewandten und erfahrenen Kriminalisten schwer, einen Anfang zu finden. Er beschloß, den Mann da vor sich jäh aus seinen Träumereien zu reißen.

»Sie haben behauptet, von Kapsdorf nie Geld für Ihre Bilderfälschungen erhalten zu haben.« Dabei klappte Fabricius eine kleine Mappe auf und entnahm ihr die Aufstellung »G. E.«

Michael blieb ruhig, schaute still vor sich hin, ohne mit den Augenlidern zu flattern, was er sonst in Erregung stets tat. Schließlich zuckte er ruhig die Achseln. Fabricius reichte ihm die Aufstellung Kapsdorfs hinüber, höflich, fast liebenswürdig.

Michael griff zu, las das Blatt, gab es zurück. »Stimmt.«

Fabricius war wieder erstaunt. So einfach hatte er sich dies nicht gedacht. »Sie leugnen also nicht mehr, bezahlt worden zu sein für diese bewußten und beabsichtigten Fälschungen?«

»Nein.«

»Was haben Sie für die ›Leda mit dem Schwan‹ bekommen?«

Michael, der gerade wieder in seine träumerischen Gedanken versinken wollte, sah auf. »Für die Leda? Nichts. Ich habe das Bild erst gemalt, als ich die Geschäfte mit Kapsdorf aufgegeben hatte.«

Und warum haben Sie dann noch dieses sonderbare und ethisch keineswegs einwandfreie Bild gemalt?«

»Ja, warum ... Sie werden das nie begreifen. Niemals wird man das einem Beamten klarmachen können. Selbst wenn hinter dem Beamten tatsächlich ein Mensch steht. Nein, auch dann nicht. Warum? ... Nennen Sie es eine königliche Künstlerlaune.« Michael hatte dem Kriminalrat voll ins Gesicht gesehen, als er ihm diese Anerkennung sagte. Nun nahm er den Blick wieder weg und verlor sich in Sinnen. Ein sonderbarer Fall, wo der Angeklagte, ein Mann unter Mordverdacht, dem untersuchenden Kriminalisten seine menschliche Anerkennung ausspricht! mußte Fabricius denken.

»Das Ledabild habe ich Kapsdorf geschenkt. Geschenkt ohne Gegenwert. Ich will versuchen, Ihnen das verständlich zu machen. Weil es außer diesem Kapsdorf keinen Menschen gab, der die Kunst, die in diesem Malwerk zusammenwirken mußte, um es zu einer Vollendung zu führen, so würdigen konnte wie er. Darum. Wir haben an vielen Tagen Stunde um Stunde davorgesessen und immer neue kleine Schönheiten, neue Details entdeckt, haben immer wieder darüber gesprochen und waren unendlich verliebt in das Werk. Die Schönheit der Komposition, der Zusammenklang der Farben, die Zartheit der Linien und die Eleganz der Linienführung, das wundersame Helldunkel, dieses andersartige Helldunkel, das vor dem Rembrandtschen das Wolkige, das von innen Leuchtende leichter Schleierwolken voraus hat ... Ah, ein Meisterwerk. Ein Werk, um das es sich gelohnt hat zu leben. Wahrhaftigen Gotts! Wo und wann in Jahrhunderten werden Sie einen Menschen finden, der das nachzumachen, geschweige denn zu übertreffen vermöchte?«

Die Worte klangen keineswegs überheblich, und die Kriminalzentrale hatte inzwischen aus Amerika ausgezeichnete Photos der hervorragenden Arbeit erhalten. Ein ungewöhnlicher Mensch, dachte Fabricius. »Spranger! Wenn Sie dieses Bild nicht gemalt hätten, dann würde man Ihnen die Abkehr von dem alten Wege geglaubt und Sie milder beurteilt haben. Gerade dies neue Werk, mag es von Ihrem Standpunkt noch so meisterhaft und einmalig sein, schadet Ihnen in unsern Augen gewaltig. Es zeigt die ganze Gefahr, in die Sie die Mitwelt bringen können, wenn man Sie frei herumlaufen läßt. Warum haben Sie den Kapsdorf ermordet? Weswegen gerieten Sie in Streit?«

»Ich habe Kapsdorf nicht vergiftet. Ich habe ihn nicht niedergeschlagen. Ich habe ihn nur mit Recht einen Schurken und Wortbrecher genannt, und das hätte jeder getan. Sie auch. Er hatte mir auf Ehrenwort versprochen, die Bilder nie zu signieren und die Leda nicht zu verkaufen. Ich habe mich ständig geweigert, eine meiner Kopien zu signieren. Immer sollten diese Bilder klar als Kopien erkennbar sein. Allenfalls sollte man sie für Schule oder eine alte, unsignierte Kopie halten. Die anfangs erzielten Preise waren auch demgemäß gering. Die letzten Verkäufe gingen sprunghaft in die Höhe. Können Sie sich nicht vorstellen, daß ein Künstler, der immer Geld gebrauchen kann, sich nicht einfach über die Preiserhöhung freut, statt nun immer gleich zu fragen, aus welchem Grunde sie eingetreten ist? Durch Gottwalt Spranger bekam ich außerdem so viel Geld, daß ich mit Kapsdorf nicht mehr über die Verkäufe geredet habe, und er hat sich gehütet, mir etwas davon zu erzählen. Aber durch den Besuch der Ahnengalerie und den Skandal mit der Leda merkte ich nun plötzlich, daß Kapsdorf nachträglich statt meiner signiert hat. Als ich ihn zur Rede stellte, gestand er, daß er das immer getan habe. Aus gemeiner Geldgier. Ein erbärmlicher Kerl.«

Michael schwieg und kehrte wieder zu dem einen Gedanken zurück, der ihn ständig beschäftigte. Er verlor sich an die helle Erscheinung, das neue Licht am Styx, Hellfriede, das all sein Sinnen und Fühlen in Bann nahm.

Als ob er einer innern Stimme lauschte, einer flüchtigen Erscheinung, einer Vision nachsänne, dachte Fabricius. »Ich verstehe nicht, warum Sie dies verbrecherische Kopieren nicht unterließen. Sie haben doch Geld, viel Geld dafür genommen und sich strafbar gemacht. Sie brauchten das doch wahrhaftig nicht zu tun.«

»Warum? Haben Sie keine Freude an Ihrem Beruf? An den Erfolgen Ihrer Arbeit? Bin ich weniger berufen zu dem, was ich kann wie kein zweiter, als Sie zu Ihrer schädlingsvernichtenden Tätigkeit? All das Sonderbare, das Wilde, Große, das verwegen aus der Reihe tanzt, das löschen Sie aus. Erwürgen es langsam. Oder hetzen es zu Tode. Rauben ihm das Höchste, was der Mensch hat: Freiheit und Leben! Wie gering ist dagegen meine Schuld. Schuld? Nein, nicht Schuld. Ich tat, wozu die Natur mich schuf.« – »Sie verlieren sich, Herr Spranger. Kommen Sie zur Erde zurück.«

Michael beugte sich vor. »Was wissen Sie von dem Dämon, der einen packt, der einem im Nacken sitzt, der einen nicht losläßt, Tag für Tag und, was das entsetzlichste ist: Nacht für Nacht, so daß man aufschreckt, in Schweiß gebadet auffährt, den letzten wilden, verzweifelten Schrei des rasenden Traumes noch auf den Lippen und gellend im Ohr! Was wissen Sie, wie das bohrt und lockt, wie das treibt und quält, wie das fordert und heischt! Was sind die Schrecken der lächerlichen Hölle! Die Hölle ist hier, hier in meiner zermarterten Brust! Dort hat mich der grausame Dämon gepackt. Unwiderstehlich war die Lust, die Freude an einer unerhörten Könnerschaft. Die amerikanischen Sachverständigen haben es mir bestätigt: ein alles übertreffendes Meisterwerk hat der große Correggio gemalt! Sieghafte Freude. Ein berauschender Triumph! Aber ich habe mit meinem Dämon gekämpft. Ich habe dem Teufel meiner Seele Seligkeit versprochen, wenn er den Dämon von mir nähme, aber er ließ ihn mir im Nacken hocken. Nach jedem Verzweiflungskampf wurde er nur stärker, fand immer neue Methoden der Lockung. Der Trieb, die inneren Bilder, die Gesichte der Seele umzuschaffen in äußere, ließ nie locker, verlangte Befriedigung, hieß mich mit jagenden Pulsen arbeiten, gönnte mir keine Ruhe, riß mich aus dem Schlaf, brachte mich um jeden Frieden, bis ich, völlig ermattet, den letzten Pinselstrich getan. Anfangs habe ich nur kopiert. Dann hat mich der alte Spranger zu seiner vermaledeiten Galerie verführt, dann bekam der Kapsdorf mich in seine Klauen. Und welcher Geier gibt je eine Beute aus seinen Fängen? Aus dem Spiel war blutiger Ernst geworden. Einmal schon hatte ich es aufgegeben, habe aber dann doch den General von Spranger wie ein Porträt von Pesne gemalt, so gemalt, daß Kritiker und Kenner ihn für echt gehalten haben. Ein zweites Mal machte ich Schluß. Bin in die Heide gegangen. Habe geschrieben. Wäre losgekommen von dem Dämon, wenn der schriftstellerische Erfolg sich eingestellt hätte. Wenn das dichterische Können ebenso groß gewesen wäre wie bei der bildend-nachahmenden Kunst. Ein Elend. Ich ahnte manchmal selbst, daß diese Erzählungen Stümperarbeit sind. Gefion Dankwart hat es mir dann glatt ins Gesicht gesagt, hat es mir bestätigt in harter Ehrlichkeit. Aus. – Was mich trieb? Ein seltsames Zusammenspiel von Ehrgeiz, von Geltungsbedürfnis eines Körperbehinderten, ein unwahrscheinliches Können auf einem ausgefallenen Gebiet; dazu die Lust an dem Triumph über die Unwissenden, über Dummheit und anmaßende Eingebildetheit. Das alles hat mir wieder und immer wieder den Pinsel in die Hand gedrückt, der, das können Sie mir glauben, ein ruhmreicher Pinsel gewesen wäre, wenn mir ein Gott zu der technischen Anlage und der Einfühlungsfähigkeit die schöpferische Begabung in die Seele gelegt hätte.«

Fabricius hatte mit keinem Wort unterbrochen und hörte atemlos dieser in gewissem Sinne großartigen Beichte zu.

Da sprang Michael unvermittelt auf. »Ich spottete über die Narren, lachte über die Toren, die immer von Tragik redeten. ›Es gibt keine Tragik, es gibt keine Vorsehung, ich will es nicht‹, schrie ich bisweilen. Ich höhnte den Leuten ins Gesicht: Wer hat denn die Tragik erfunden? Die Griechen! Ein kleines abgesprengtes Reis des großen germanischen Stammes, das, in ein südliches Treibhaus verpflanzt, aufschoß zu überschneller Blüte, springlebendig und lebensüberfüllig sich raschest zu Ende lebte, wie Mäuse im Sauerstoffglas. Kein Wunder, daß die Griechen den Wurm im Innern nagen und pochen fühlten, daß sie das unvermeidliche, verfrühte Ende vorausspürten, das einen normalen Lebensablauf nie bedrängt. So wurde auf diesem ihnen wesensfremden Boden die Tragik geboren. Ich habe die Nachbeter des Tragischen verhöhnt und verlacht. Aber ...« Er hielt inne und trat dicht vor Fabricius hin: »Neulich, da bin ich zusammengesunken. Da traf mich wie ein Hammerschlag die Erkenntnis, daß es Tragik gibt. Der Olympier in Weimar, der hat mich vernichtet. Ich habe ihm recht geben müssen. Er hat mit seinen Orphischen Urworten ins Schwarze getroffen: ›Nach dem Gesetz; nach dem du angetreten ... dir kannst du nicht entfliehen, und keine Macht der Welt zerstückelt geprägte Form, die lebend sich entwickelt‹. Ja, das ist es. Da liegt die Tragik. Da ist sie. In ihrer hohlwangig düstern Unerbittlichkeit.« Michael hatte sich verausgabt und sank auf einen Stuhl. »Es gibt die Tragik. Es gibt sie«, flüsterte er erschöpft. Dann lächelte er abgründig verzeihend: »Ein perfider Gott, der einem das mitgibt, wofür er einen nachher straft.«

Hier unterbrach Fabricius. »Sie irren, Herr Spranger. Das Gewissen sagt einem, was Gott will. Wer wider das Gewissen handelt, einem Reiz nachgibt, der versündigt sich gegen die sittliche Weltordnung. Ihr Dämon war nicht die Stimme Gottes.«

»Doch«, schrie Michael und sprang wieder auf. »Der Dämon, das ist meine Natur, wie sie mir der göttliche Schöpfer mitgegeben hat. Wenn ich meinem Dämon gemäß lebte, so fühlte ich, daß ich das Rechte tat, das mir Rechte.« War es wirklich das mir Rechte? grübelte er. War es wirklich ein gutes Wunschbild, wenn Ehrgeiz, Gier, Geltungsbedürfnis die Gesellen des treibenden Dämons waren? Vermag ein Mensch sein Wunschbild zu ändern, durch ein anderes mit reineren Gehilfen und Zielen zu ersetzen?

»Sie wunderten sich, daß ich so still geworden war. Jetzt bin ich allerdings wieder einmal in meine alten Zustände zurückverfallen. Im Grunde wurde ich still in der Stunde, da ich sie sah. War auch auf der bizarren Flucht still, so sonderbar das klingen mag, wurde es jedenfalls. Ich sah die lichte Erscheinung, die mitten in meine siedende Erregung hinein ein Wort sagte, ein seltsames Wort: ›Die letzte Weisheit ist still, still wie Gott das All-Eine.‹ Dies sprach ein junges Mädchen, das im Licht stand in der Halle zu Rüsternort, damals, als ich nur eine Idee hatte: fliehen, die Freiheit mir erhalten. Nicht unter falschem Verdacht mich dahinzuquälen. Meine Aufregung schwand fühlbar unter dem Blick dieser tiefblauen Augen.«

»Und wer war das?«

»Die Dame? Ich kenne sie nicht. Ich habe sie nie gesehen vordem.«

»Aber Sie müssen die Dame doch beschreiben können.«

»Gewiß. Nichts ist mir so unvergeßbar eingeprägt wie diese lichte Erscheinung. Sie stand in einem Sonnenstreif, hatte ein hellbeigefarbenes Kostüm und ebensolche Russenstiefel an, rotblondes Haar ...«

»Russenstiefel. Ein kleiner, schmaler, auswärtsgesetzter Fuß?«

»Ja. Woher wissen Sie das? Kennen Sie dies wundervolle Mädchen? Sagen Sie. Antworten Sie rasch.«

»Nein. Ich kenne sie auch nicht. Aber ich glaube, es ist dieselbe, die den angeblich gestohlenen Van Dyck zurückgebracht hat. Durch die offene Wand, wie man in Rüsternort das nennt, – dies wird übrigens Kollegen Holst interessieren.«

»Ich bitte Sie, kann meine Angabe der Dame schaden?« fragte Michael sehr besorgt.

»Nein, sie hat nichts Kriminelles damit getan. Sie hat Unrecht gutgemacht. Weiter nichts.«

»Weiter nichts!« wiederholte Michael mit tiefsinniger Betonung und atmete auf.

»Hat die Dame sonst nichts zu Ihnen gesagt als jenen einen Satz voller Weisheit?«

»Nein. Nur beim Weggehen flüsterte oder dachte sie: Das Wunschbild ändern.«

»Ein großes Wort, Herr Spranger. Das wäre Ihre Rettung.« Damit entließ Fabricius ihn aus diesem seltsamen Verhör, das mehr ein Fragespiel und eine Beichte gewesen. Nein. Dieser Michael Spranger hatte Kapsdorf nicht vergiftet. Hier galt es einen Unschuldigen zu retten, die schönste Aufgabe für einen Kriminalisten.

 

Zur gleichen Stunde traf Gefion sich mit dem jungen und geistreichen Professor von Holleben.

An demselben Tage mietete Jacoba ein einfaches Zimmer in einer schlichten Pension im Zentrum. Sie wollte Michael nahe sein.

*

Annette war in der Untersuchungshaft ruhiger geworden. Zugleich aber hatte ihr Wesen noch mehr als vordem den Ausdruck des Erloschenseins angenommen. Ihre Augen waren wie leere Kraterhöhlen, aus denen Tod und Erstarrung einen grausig anglotzten. Das ganze arme Geschöpf schien nur noch mechanisch zu leben. Es war ein Kummer ohnegleichen, sie zu sehen. Dennoch mußte Fabricius sie einem neuen Verhör unterziehen. Nur mühsam gelang es ihm, sie in die Gegenwart zu rufen, Annette so weit anwesend zu machen, daß sie die Fragen, die über ihr ferneres Schicksal entschieden, verstand. In einem Augenblick, da Annette hellhörig wurde, fragte Fabricius sie energisch, ob sie den Giftmord an Kapsdorf gestehen wolle. Das Mädchen bekam Farbe in die leblosen Wangen. Abscheu und Entsetzen gingen durch ihren Körper und steigerten sich zu einer zitternden Abwehrbewegung ihrer kleinen Hände.

»Ich soll den Giftmord begangen haben?« fragte sie ungläubig.

Diese Worte entwaffneten Fabricius. Wie schön das Mädchen sein kann. Er versuchte, sich vorzustellen, wie sie vordem war und gewirkt haben mochte, als sie von einem großen Glücksgefühl durchströmt ward. Er sah es vor sich, wie diese bezaubernde Annette eines Abends den alten Lüstling und Kunsthändler blind und wild vor Gier gemacht hatte, wie ihr Sträuben ihn immer hemmungsloser, immer versessener werden ließ, bis er, jede Vorsicht, jede Klugheit außer acht lassend, diesen psychischen Lustmord beging. Ja, man konnte das durchaus so bezeichnen. Es hätte diese abgründige Gemeinheit, die unter schamloser Ausnutzung der Gelegenheit und seines Cheftums begangen wurde, auch wie ein Lustmord bestraft werden müssen. Wenn in Zukunft Gesetze die treibenden seelischen Motive ahnden, wird ein edles Menschengeschlecht die Erde bevölkern. Seine Gedanken kehrten zu der vor ihm sitzenden Annette zurück. Sie war schon wieder versunken. Das Leben in ihr erlosch. Sie wirkte wie eine vom Stamme der Maja-Honduras, die sterben können, wenn es ihre Seele will.

Fabricius beschloß, sich den Dr. Erich Halligenstett kommen zu lassen. Eine Unschuldige – denn daß Annette Mangelin an dem Giftmord schuldig war, glaubte er nicht mehr – sollte nicht in so unsäglichem Kummer zugrunde gehen. Was ihr zugestoßen, war ein Schicksal, wie eine Krankheit, die plötzlich unverdient über einen Menschen kommt. Man mußte sie bemitleiden, aber nicht strafen. Vielleicht bereute der junge Mann längst seine veralteten, engstirnigen Prinzipien.

»Sein Gewissen wird den Kapsdorf geplagt haben«, sagte Annette leise, als sie aus dem Zimmer geführt wurde. »Er wird sich selbst gerichtet haben.«

Fabricius beschloß, nichts unversucht zu lassen, und nach Erledigung anderer Arbeiten fuhr er mit seinem Inspektor zur Oschatzer Allee. Dort probierte Fabricius die Möglichkeit, daß Kapsdorf selbst durch Gift seinem Leben ein Ende gemacht habe, wie Annette es zuletzt nochmals angedeutet hatte. Er versuchte, alles selber nachzuleben: wie der andere die Flasche an den Mund setzte, zu taumeln begann, sich in plötzlichen wahnsinnigen Schmerzen wand, wie dann die Flasche seiner Hand entfiel, auf dem Tisch landete, sich dort an die größere Flasche anlehnte. Schließlich stürzte Fabricius-Kapsdorf mit dem Kopf auf die am Boden liegende Figur und verharrte in dieser Lage, aus der Spranger den Kapsdorf auf die Couch gebettet haben wollte. Es schien an sich nicht unmöglich, daß der Vorfall sich so abgespielt hatte. Dagegen sprach, daß der Hauswart Streit in der Wohnung gehört hatte und daß Michael von einer Teetasse redete, aus der Kapsdorf getrunken habe, ehe er zu Boden stürzte. Angenommen, daß Michaels Aussage richtig war, wurde dadurch ein Selbstmord nicht ausgeschlossen, denn Kapsdorf konnte sich den giftgemischten Tee schon bereitgestellt haben, als überraschend Spranger gekommen war. Motive für einen Selbstmord lagen ja zur Genüge vor. Es fragte sich nur, ob er bei einem Charakter wie dem Kapsdorfs wahrscheinlich wäre.

Fabricius sann den Vorgängen nach. Mit Sicherheit wußte er nur, daß das Gift aus diesem Fläschchen mit der Sanskritaufschrift nach Dr. Cigallas Feststellungen den Tod des Kunsthändlers herbeigeführt hatte. Eine Teetasse war nicht zu finden gewesen. Aber das Fläschchen war da.

Plötzlich zuckte Fabricius auf: der Stöpsel! Jetzt wußte er, was ihn magisch hierhergezogen hatte. Der kleine Stöpsel zu diesem Giftfläschchen fehlte! Ihn mußte er finden. Der Stöpsel würde die Entscheidung bringen. Die beiden Männer begannen emsig zu suchen. Ergebnislos. Schließlich mußten sie aufhören. Da sich der Stöpsel nicht gefunden hatte, war kaum anzunehmen, daß Kapsdorf sich vergiftete. Die Möglichkeit des Selbstmords wurde damit fast ausgeschaltet.

Als Kriminalrat Fabricius ins Amt zurückkehrte, wurde ihm Ottgebe Mangelin gemeldet, die schon eine Stunde auf ihn wartete. Ottgebe ist gegen ihre erste Vernehmung sehr verändert. Während sie damals einen kühlen und sachlichen Eindruck machte, spürt man jetzt die Leidenschaft, deren dies alternde Mädchen vielleicht fähig ist.

In einem lebhaften Redeschwall versucht Ottgebe, ihre jüngere Schwester, an der sie Mutterstelle vertreten habe, zu entlasten. Sie schildert deren reine Jugend, die an nichts Schmutziges zu denken vermochte, preist die glückliche Liebe, die Annette beschwingte, flucht der Gemeinheit des Kapsdorf, kurz, entrollt in lähmender Breite all das, was Fabricius längst weiß und durch Annette viel edler und tiefer erlebt hat. Dann kommt Ottgebe auf Michael Spranger zu sprechen. Sie verdächtigt ihn erst wie von ungefähr an der Peripherie, dann stößt sie von den verschiedensten Seiten geschickt und wohlüberlegt, wie Fabricius erstaunt bei sich feststellt, zum Zentrum vor. Sie baut einen Menschen von mehr als wankelmütigem Charakter auf, dem alles zuzutrauen ist, der Fälschung über Fälschung begeht, betrügerisch ergaunerte Gelder in seinen Taschen häuft, der das Geld achtlos vergeudet, den alten Gottwalt systematisch einwickelte und auszog, – eine Ausdrucksweise, über die Fabricius wider Willen lächeln muß – . Eine furchtbare Suggestionskraft habe der Mann; den alten Kapsdorf habe er auch zu allem, was geschehen, überredet und hinterher getan, als ob es die Ideen des anderen gewesen wären. Ein mit allen Wassern gewaschener, mit allen Hunden gehetzter Teufel, der zuletzt aus Habgier den armen Kapsdorf auch noch umgebracht habe.

Argwöhnisch horcht Fabricius auf.

All das Gesagte wird in einem sprudelnden Wortschwall vorgebracht, wirkt wie auswendig gelernt, ist im Redefluß mit Übertreibungen gespickt. Sonderbar. Auch von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Michael und Kapsdorf weiß Ottgebe zu berichten.

Fabricius sagt ihr auf den Kopf zu, daß sie seit Jahren ein Verhältnis mit Kapsdorf gehabt habe. Verwirrt gesteht Ottgebe dies. Ein Verwundern beschleicht den Kriminalisten. Er sieht sich dieses reizlose Geschöpf an, das allerdings um Mund und Augen eigentümliche Runen trägt. Er klopft auf den Busch: »Ein absonderlich perverses Verhältnis noch dazu, was bei der Art dieses Kapsdorf ja nur zu wahrscheinlich war.«

Ottgebe war bei Fabricius' Worten so zusammengefahren, wie es nur ein ertappter Sünder tun kann. Es war zwecklos, daß sie hinterher in vielfach verschlungener Rede das, was sie mit dem ganzen Körper zugegeben hatte, mit Worten zu leugnen versuchte. Zum Schluß warf Ottgebe wie nebensächlich hin, daß der Kunsthändler vielleicht Selbstmord begangen habe. »Manchmal springt auch den Abgebrühtesten die Reue an und ihm ekelt vor sich selber,« betonte sie gewichtig.

Fabricius erwähnte, daß auch Annette von Selbstmord gesprochen habe und daß man diese Möglichkeit immerhin nicht ganz von der Hand weisen könne. Da bemerkte er ein ihn zu höchster Wachsamkeit aufrufendes Aufatmen bei Ottgebe Mangelin.

Vordem hatte er sie entlassen wollen, nun aber hielt er sie mit einer belanglosen Frage noch zurück und musterte sie auf das genaueste. Er fühlte, wie er zu fiebern begann. Die Pulsschläge jagten. Das Herz tat fast weh. Ein kribbelndes Zittern lief durch seine Arme. Äußerlich war ihm nicht das Geringste anzumerken.

Sein Blick heftet sich auf Ottgebes rechte Hand, bohrt sich da fest. Das Mädchen hält ruhig stand. Er spürt, daß sie die Absicht hatte – es mochte nur ein Bruchteil einer Sekunde gewesen sein –, diese Hand unauffällig ein wenig zu drehen und dann in den Falten des Kleides zu verbergen.

Fabricius erhebt sich. Langsam strafft sich seine breite, starke Gestalt. Der Blick hängt unentwegt an Ottgebes rechter Hand. Das Mädchen steht da, als wenn dies alles hier sie gar nichts anginge, steht gelockert, unverkrampft, gleichgültig.

Der Kriminalrat kommt langsam hinter seinem Schreibtisch nach vorn, er läßt keinen Blick von der Hand. Mit allen Sinnen lauscht er innerlich auf die seelischen Zustände seines Gegenübers.

Nun steht er vor dem häßlichen Mädchen mit der jetzt rotangelaufenen Hasenscharte. Auch diese Röte sieht Fabricius, der nun die Blicke in das Gesicht der Kapsdorfschen Prokuristin senkt.

»Woher rührt die Ätzwunde an Ihrer rechten Hand?«

Er wartet vergeblich. »Antworten Sie!«

Ottgebe Mangelin fühlte sich endlich bemüßigt, eine achselzuckende Erklärung abzugeben, sie wisse nicht. »Ich werde mich an der rostigen Spitze von der abgebrochenen Herdecke gerissen haben. Da ist Schmutz hineingekommen. Nun hat es ein bißchen geeitert.«

»Sie lügen.« Die Stimme von Fabricius ist ungewöhnlich scharf. »Sie hatten mit Kapsdorf eine alte Rechnung zu begleichen. Ist es nicht so?«

Seelenruhig antwortet Ottgebe Mangelin, dabei innerlich die Knöpfe an Fabricius' Rock zählend: »Wir haben uns immer verstanden und gut ergänzt. Sie haben doch erst vorhin darauf angespielt.«

Zorn wallt in dem Manne auf. Er klingelt. Läßt bei Dr. Cigalla anrufen, ob er ihn sofort einmal aufsuchen könne. Das erweist sich als möglich.

Fabricius und der Beamte nehmen Ottgebe Mangelin in die Mitte, steigen die Treppen zum Laboratorium des Dr. Cigalla hinauf.

Ottgebe ist weich in den Knien, aber sie hält sich bewunderungswürdig.

Fabricius klopft bei Dr. Cigalla. Er bittet ihn, die kleine Ätzwunde an Fräulein Mangelins Hand zu untersuchen. Ottgebe reicht ihre Rechte hin. Dann wird sie fahl wie das Pferd der Apokalypse.

Fabricius erwartet eine Ohnmacht. Nichts dergleichen geschieht. Cigalla kratzt ein winziges Etwas aus der Wunde, Ottgebe zuckt vor Schmerz zusammen.

Stille.

Mikroskope werden geschraubt, Einstellungen verbessert. Sonst kein Laut. Cigalla prüft, vergleicht, prüft wieder, blickt auf.

Beobachtend gehen die Augen des Chemikers über das stille Mädchen. Dann schaut er Fabricius ernst an. »Es ist das gleiche, sehr seltene Gift.«

»Das Gift, mit dem Carl Kapsdorf ermordet wurde?«

»Unzweifelhaft das gleiche.« Die Stimme des Chemikers ist gewichtig und klingt sehr ernst.

Fabricius wendet sich voll zu der Mangelin. Still ist es im Raum. Ganz leise singt es in einer Retorte. Nun zischt ein kleiner Dampfhahn. Unwillkürlich fahren alle zusammen.

Endlich fragt Fabricius: »Haben Sie Kapsdorf das Gift in einer Tasse Tee gegeben?«

»Nein«, kommt es kurz und ohne Bedenken von der Mangelin. Sie hebt die Hand und schaut interessiert auf die kleine Wunde, als gewahre sie diese erst jetzt.

»Stand Fräulein Mangelin zu Kapsdorf in irgendwelcher Beziehung?« fragt Dr. Cigalla, nur um die peinigende Stille zu überbrücken, die sich wieder lastend über die Menschen in dem leeren Raum legt, durch dessen große Fenster ein trostloser Novemberhimmel hereinsieht.

»Fräulein Ottgebe Mangelin war die Prokuristin und die – Geliebte, die langjährige Geliebte des in vielerlei Hinsicht eigenartigen Kapsdorf. Sie hat Beziehungen zu seinem Leben und – zu seinem Tode.«

»Ich habe mit seinem Tod nichts zu schaffen. Die winzige Wunde ... da habe ich mich wohl irgendwo gerissen. Ich habe es nicht beachtet. Giftige Tinkturen stehen bei uns überall herum«, leugnet die Mangelin kühl und ohne sichtbare Erregung. Sie ist jetzt ganz anders als vordem, da sie leidenschaftlich die Schwester verteidigte, die Graue Eminenz anklagte und dann wieder Kapsdorf des Selbstmords beschuldigte.

Die Gedanken des Kriminalrats haben sich übertragen. Ottgebe äußert in nachlässigem Ton: »Ich sagte es bereits: Kapsdorf sah das geschickt getarnte Gebäude seiner Fälschungen zusammenbrechen und beging Selbstmord.«

»Mit alledem schaffen Sie den Verdacht Ihrer Täterschaft nicht aus der Welt. Es bleibt auch niemand sonst der Täterschaft verdächtig als Sie. Wollen Sie nicht lieber ein freimütiges Bekenntnis ablegen?«

»Wenn ich etwas zu gestehen hätte, gern.« Die Worte kommen nüchtern, sachlich aus dem Munde des Mädchens, das sich keinerlei Erregung anmerken läßt. Dr. Cigalla schüttelt den Kopf und sieht Fabricius bedeutsam an. Er glaubt nicht an die Schuld eines Menschen, der sich so verhält. Zumal wenn es sich nicht um einen Gewohnheitsverbrecher handelt oder um eine hochentwickelte Intelligenz.

»Das Gift wurde Kapsdorf dreiviertel elf abends beigebracht. Wo waren Sie da, Fräulein Mangelin?«

»Mit einem Bekannten im Kino«, kam, ohne nachzudenken, prompt die Antwort.

»Wie heißt der Bekannte? Wo wohnt er?«

»Emmerich Nüßler, Augsburger Straße 122, Gartenhaus parterre links.«

»In welchem Kino wollen Sie gewesen sein?«

»Faun. Ecke Oschatzer Allee. Gehört Kapsdorf.«

»Womit können Sie den Kinobesuch beweisen?«

»Ich hatte zwei Ehrenkarten. Die Abschnitte müssen noch in meinem Papierkorb liegen. Zu Hause. Im Abrechnungsbuch wird sich die Eintragung finden.«

»Das Ganze ist ein Lügengewebe, Fräulein Mangelin. Gestehen Sie endlich!« hauchte Fabricius sie zornig an und trat dicht vor das Mädchen, in der er eine verstockte Leugnerin und die Mörderin ihres Geliebten sah. Er wußte bereits, wie er sie überführen würde. Allerdings – er mußte das kleine Beweisstück erst haben.

Cigalla wunderte sich, den sonst immer ernsten und ruhigen Kriminalrat so zornig zu sehen. Dieses Mädchen, das spürte doch ein Blinder, war unschuldig.

»Ich habe nichts zu gestehen«, erwiderte Ottgebe.

»Ich nehme Sie wegen Mordverdacht fest!« Fabricius telephonierte nach dem zuständigen Beamten und ließ Ottgebe Mangelin abführen.

Dann ging er in sein Zimmer zurück. Nicht bloß Gottes Wege sind wunderlich, die der Menschen sind es noch viel mehr. Gott kann froh sein, daß diese Kreaturen nicht sein Ebenbild sind.

»Still, alter Maulwurf, still ...« Hatte ihm dieser Fall nicht auch das »Licht am Styx« gezeigt, diese junge Weisheit, Charlott von Rentmeister, die der Volksmund Hellfriede getauft hatte? Hellfriede. Er sann dem Klang und Sinn nach. Volkesstimme, Gottesstimme. Da war er wieder bei dem Rätselvollen, dem Unerforschlichen, das man, wie Goethe gesagt hatte, mit Ehrfurcht verehren sollte. Gut, daß er sich um alles in und auf Rüsternort gekümmert hatte!

Fabricius sah auf. Vor ihm stand Annette, die herzubringen er angeordnet hatte. Mit großer Güte blickte er das blasse, schöne Mädchen an. Wenn ein Mensch diese »Verlorene« retten konnte, so war es jene Hellfriede. Mann rascher Entschlüsse, der er war, ließ er sich durch Blitzgespräch mit Gut Hartenstein verbinden. Er wollte diesem Mädchen als Privatmann helfen, von Mensch zu Mensch.

Er setzte sich zu Annette, die ihn angstvoll ansah, als fühle sie Schreckliches auf sich zukommen. Er legte ihr schonend dar, daß Ottgebe durch den Giftspritzer so gut wie überführt wäre. Das neue Unglück machte das weinende Mädchen noch rührender.

Annette wehrte sich nicht. Die zweite Lawine des Unglücks konnte nicht erstickender sein, als die grausame, mitleidlose erste gewesen. Seine frische, muntere Tochter kam ihm in den Sinn. Was doch ein hutsames Elternhaus, in dem alles offen beim richtigen Namen genannt wird, für die heranwachsende Generation bedeutet! Plötzlich hörte er das Mädchen an seiner Seite sagen: »Daß sie das meinetwegen getan hat! Sie hat nichts auf der Welt geliebt als mich.«

Fabricius fuhr auf. Der Schlüssel, das Motiv zur Tat! Ein einleuchtenderes als Eifersucht. Es brauchten auf der Welt nicht immer schlechte Motive zu sein, die etwas Schlechtes bewirkten.

Das Telephon läutete. »Charlott von Rentmeister ist am Apparat.« Er meldete sich, bat, einen Augenblick warten zu wollen, und schickte Annette ins Vorzimmer. Er legte Hellfriede kurz den Fall der Annette Mangelin dar, was dadurch erleichtert wurde, daß Charlott den Tatverdacht gegen Michael Spranger kannte. Sie freute sich, bestätigt zu bekommen, daß dieser an dem Mord unschuldig sei, und war sofort bereit, das unglückliche Mädchen zu sich zu nehmen. In drei Stunden werde sie mit ihrem Wagen vor der Kriminalzentrale halten.

Fabricius wurde es warm ums Herz. Er dankte freudig. Wie schön, daß man auch außerdienstlich helfen konnte.

Dann erledigte er das Formelle der Haftentlassung.

Um darauf sofort Halligenstett anzurufen. Er bat ihn zu einer Rücksprache zu sich. Ob das eine amtliche Anordnung sei. Nein. Worum es sich handle. Um seine Braut. Da wurde der Mann am andern Ende der Leitung zugeknöpft. Er verbitte sich Einmischungen in seine persönlichen Angelegenheiten. Er sei Privatdozent, und seine Beamtenehre verbiete ihm jede weitere Verbindung mit einer Gefallenen. »Gefallenen«, hatte der Mann gesagt und angehängt. Und das bei dem Abteilungschef der Kriminalpolizei! Es gab also auch solche. Gutes Gewissen kann unhöflich machen.

Fabricius verglich die beiden Telephonate. Bei Hellfriede ein angeborener Herzenstakt, bei diesem Privatdozenten eine anerzogene Unduldsamkeit, die nicht ein Charakterfehler zu sein brauchte, sondern sich hoffentlich ausgleichen ließ.

Annette wurde hereingerufen. Der Rat teilte ihr mit, daß sie entlassen sei. Ihr würde das Gut Hartenstein an der mecklenburgischen Grenze bei Fürstenberg als einstweiliger Aufenthaltsort anempfohlen. Annette wollte einen Augenblick aufbegehren. Dann ergab sie sich in ihr Schicksal. Sie ahnte noch nicht, wie freundlich es zu ihr sein würde.

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