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Übernächtig, wie er war, verstand Michael nichts von den verworrenen Erklärungen seines Dieners, der allerlei durcheinander erzählte und immer wieder darauf zurückkam, daß der Schneider sonderbarerweise gar nicht angerufen habe, und daß Frau von Tirschenreuth bei seiner verfrühten Rückkehr vor ihm, doch scheinbar ohne ihn wahrzunehmen, davongelaufen sei. Michael stürzte ein paar Tassen Kaffee hinunter und vergaß etwas zu essen, dann holte er seinen Sportwagen aus der Garage, um sich frischen Wind um die Nase wehen zu lassen. Sein Hirn lag wie ein Bleiklumpen im Kopf. Die Nacht war scheußlich wirr gewesen. Wie mahlende Mühlsteine wälzten sich die fruchtlosen Erwägungen immer wieder ergebnisarm in der Runde. Immer von neuem begann der ermattende Kreislauf der Gedanken: Gefion – Jacoba – Ahnengalerie – Erbe – Kapsdorf – Spranger – Wendhusen – Heide – Rüsternort – Berliner Atelier – Malerei – Schriftstellerei – Gefion ... Und von neuem. Und kein Ausweg.

Eine Hand am Steuerrad, so ließ er den Wagen langsam durch die seenreiche Landschaft rollen. War nicht seine Stimmung ähnlich zerrissen und zerklüftet gewesen, als er damals im Gedanken an Gefion jene symbolische Erzählung schrieb, der er den Titel »Das Licht am Styx« gab? Immer hatte ihm vorgeschwebt, daß es das geben müsse, so ein wegweisendes Licht, so ein Aufleuchten in letzter Finsternis am Strome der Unterwelt. Leitmotivisch rankte sich der Sinn dieser Erzählung durch die vergangenen Jahre. Gefion sollte für ihn dies rettende Licht sein, das ihn vor einem Versinken bewahrte. Aber gerade sie hatte ihn verlassen.

Er gab Gas und ging auf Touren. 80, 90, 95, 100, 110 Kilometer zeigte der Messer. Da wurde ihm ruckartig sein Ziel klar: Gefion gewinnen oder untergehen. Gefion ganz gewinnen, um jeden Preis.

Er nahm das Gas weg. Die Bremsen quietschten. Unmittelbar vor einer Brückenwange kam der Wagen zum Stehen. Um ein Haar wäre alles zu Ende gewesen. An dieser Steinmauer wäre der Wagen zerschellt oder, halb zertrümmert sich überschlagend, in den Wasserfall der Schleuse gestürzt.

Über die schmale Brücke donnerte, eine eiserne Zugmaschine mit einem Stapel riesiger Bäume auf dem nachfolgenden, weit auseinandergezogenen Stahlgestell. Der Lastwagenschofför griente. Er schien auf Herrenfahrer nicht eben gut zu sprechen zu sein.

Michael kam ein befreiendes Lachen an. Er wurde fröhlich. Nun wußte er sein Ziel. Bisher hatte er in seinem wechselvollen Leben ein gestecktes Ziel noch immer erreicht, eines ausgenommen: Gefion. Aber diesmal sollte sie ihm nicht wieder entgleiten.

In aufgeregter Stimmung kehrte er zurück. In der Halle stieß er auf die alte Cordula, die ihm zu seinem Ärger über den Weg lief. Mit allen Zeichen der Aufregung wandte sie sich um und griff nach Michael. Ute kam atemlos angerannt. Doch ehe die beiden etwas sagen konnten, rief Jacobas herrische Stimme dazwischen: »Herr Spranger, ich bin bestohlen worden. Schwer bestohlen. Kommen Sie sofort herauf.«

Geärgert stieg Michael die breite Treppe hinauf, viel zu langsam für die rings in heller Aufregung Stehenden. Unwirsch brummte er vor sich hin. Was ging es ihn an, wenn diese Dame bestohlen worden war? Mit fast beleidigender Ruhe zupfte er Finger für Finger seiner Fahrhandschuhe ab und streifte diese selbst dann lässig herunter.

Ein großer Herr, dem Kleinigkeiten nicht nahekommen, dachte Ute bewundernd, die natürlich vorangelaufen war wie ein ungeduldiger Pudel.

Jacoba bat, in den Ahnensaal einzutreten. Michael, dessen scharfe Blicke sonst stets alles genau zu sehen pflegten, bemerkte zunächst die Veränderung nicht, die ihn bald wie ein Blitzschlag treffen sollte, denn an einem der Fenster lehnte – Gefion.

Er ging auf sie zu, und Frau von Tirschenreuth stellte die beiden einander vor. Die Verbeugungen waren korrekt und kühl, aber in den Augen flackerte es.

»Heute nacht ist der Van Dyck gestohlen worden«, sagte Gefion, um die gefährliche Situation zu überbrücken. Michael starrte sie an. Er konnte den Satz nicht sofort begreifen. Dann riß es ihn herum zur rückwärtigen Wand.

Da klaffte ein leerer Rahmen. Sein Gesicht verlor alle Farbe.

»Ein schwerer Verlust für Frau von Tirschenreuth«, fuhr Fräulein Dr. Dankwart sachlich fort. In Jacobas Mienen spiegelte sich offener Triumph. Dies traf den Mann, den sie jetzt haßte, den sie vernichten wollte, den Erbschleicher. Sie sah, wie er sich mühte, seine Fassung wieder zu gewinnen.

»Die Bilder gehören nicht Frau von Tirschenreuth, sondern mir. Ich bin der alleinige Besitzer«, stellte er fest. Noch zögerte er, Gefion in das Gesicht zu sehen, aber innerlich horchte er mit allen Sinnen zu ihr hin. Darum ertrug er es mit Gleichmut, daß Jacoba ihn wütend anfuhr: alles im ersten Stock gehöre ihr, also auch diese Bilder. Er besitze hier keinerlei Rechte. Sie meine ihm das deutlich genug auseinandergesetzt zu haben. Am liebsten hätte sie ihm ins Gesicht geschrien, er habe das Bild in der Nacht gestohlen und es in aller Frühe, ehe der Raub entdeckt wurde, zu einem Hehler gebracht. Aber ihrem Wesen getreu, schleuderte sie diese Anklage nicht heraus, sondern beließ es bei versteckten Andeutungen, während er den leeren Rahmen so eingehend besichtigte, als könne der ihm Aufschluß über alles geben.

»Ich werde die Polizei benachrichtigen«, sagte Jacoba hart.

Michael legte den Rahmen heftig auf einen Tisch. »Das werden Sie nicht tun. Ich verbiete Ihnen das. Ich bin der Eigentümer und werde die Sache selbst in die Hand nehmen.« Sein Gesicht hatte sich verfinstert und sah böse aus.

Gefion überlegte verwundert, warum Jacoba nicht schon längst, sofort nachdem sie den Verlust bemerkte, Anzeige erstattet habe. Langsamkeit war doch sonst nicht die Art dieser Frau. Und wenn sie sich Besitzerin glaubte ... Der Van Dyck war eines der wertvollsten Stücke der Sammlung ... Eine nachdenkliche Falte grub sich in Gefions schöne Stirn.

Wenn die Polizei gerufen wurde, wie würde es mit Michael Spranger oder Wendhusen oder wie er sonst nun wirklich heißen mochte, werden? Ihr bangte. Das Gefühl, innerlich vor Unmöglichkeiten zu stehen, beschlich sie, wie damals.

Während ihre Gedanken in Vergangenheit und Zukunft abglitten, tobte rings um sie ein häßlicher Streit. Michael wehrte sich mit Heftigkeit dagegen, die Polizei heranzuziehen. Er sprach von Kennern des Bildermarktes, die beobachten und rechtzeitig erfolgsicher eingreifen würden. Ute stand bei alledem dabei und wurde immer stiller und mißtrauischer. Die Skepsis der Jugend ergriff von ihr Besitz. Gestern hatte sie einen Blick in das Echte und Tiefe tun dürfen. Nun spürte sie den Abstand der anderen Menschen von »Hellfriede«. Sie begriff deren Größe so recht deutlich und nun von einer andern Seite. Gestern hatte Ute das hohe Meer und den Hafen zugleich erlebt. Was ging ein gestohlenes Bild sie an? Da hörte sie die Mutter in heftigstem Ton Michael das Betreten der Ahnengalerie verbieten. Ihre Stimme gellte mißfarben durch das Haus. Aber auch Michael hatte im Haß alle Haltung verloren und überschrie sich zur Freude des Personals, das weder ihm noch Jacoba wohlwollte. Ute schämte sich für ihre Mutter, und ihre Schwärmerei für Michael bekam einen bedenklichen Stoß. Fort, dachte sie, fort! Die gellenden Stimmen aus Ohren und Nerven bekommen! Fort, weg, hinüber zu der einen, die von Schönheit nicht nur zu sprechen wußte, sondern in ihr lebte und sie so wundersam beruhigend ausströmte auf jeden, der aufnahmefähig war.

Ute holte ihr Rad und fuhr in scharfem Tempo zu Charlott von Rentmeister. Die frische Luft um die erhitzten Schläfen, das tat wohl und ließ die widrigen Eindrücke wie auch die Rätsel, die noch eben in ihr brennend nach Lösung suchten, verblassen.

Sie hatte kein Glück heute. Bei der Freundin waren Gäste. Zwei Ehepaare. Die Männer, beides junge Gelehrte, hatten jeder auf seine Weise den Kampf um das Unerforschliche aufgenommen, der eine als bereits anerkannter Biologe, der über diese Wissenschaft sowie über Chemie und Physik um das Letzte ringende Werke schrieb, die über die Fachgrenzen hinaus zu erkennen trachteten. Der andere war ein Weltanschauler, der, in allen Religionen der Erde zu Hause, darum in Gefahr stand, nirgends zu Hause zu sein. Aber sein Kopf zeigte ein eigenartiges Profil und war so seltsam gekantet, daß er dadurch Kennern auffiel. Wer diese Züge einmal in sich aufgenommen hatte, der verlor sie so leicht nicht wieder aus dem Gedächtnis.

Man sprach über den Stein der Weisen.

Während der Weltanschauler den Grundsatz aufstellte, daß dieser ein innerer Zustand sei, stritt der Jüngere dagegen mit gewichtigen Argumenten an und verteidigte geschickt seinen Standpunkt, daß dieser ominöse Stein der Weisen eine Formel sei. »Gedanken werden über Formel zur Form. Diese Urregel der Schöpfung, das ist die Lösung des Rätsels vom Stein der Weisen. Wer die Formel erränge, der ist dem Schöpfer gleich.« Hier griff Charlott von Rentmeister bestätigend ein. »Im Anfang war die Formel, und Gott war die Formel, und die Formel war bei Ihm.« Und vor der Macht dieser jungen Persönlichkeit beugten sich, ohne daß sie es wahrnahmen, noch hätten wahrhaben wollen, die beiden Gelehrten. Es sprach ein Mensch, der den Zugang zum Letzten hat. Und da werden die Münder des Marktes stumm.

Im Mittelalter nannte man solche Menschen begnadet, dachte der theologische Philosoph.

Da saß nun Ute. Kaum, daß »Hellfriede« einen Augenblick Zeit fand, sie zu begrüßen und vorzustellen. Geschweige denn, daß die Gelehrten von ihr mehr Notiz genommen hätten als von einer vorüberhuschenden Fliege. Und als sie eine Stunde stumm dagesessen hatte, kam sie sich vor wie ein Maulwurfshügel, ein äußeres Zeichen nur von der Existenz eines Wesens. Wie sollte sie hier und heute von gestohlenen Bildern, von wüsten Schimpfereien, von Haß, Polizei, Anzeigen und Widerstand gegen all das erzählen? Sie stahl sich bei passender Gelegenheit unauffällig hinaus, bestieg ihr Fahrrad und trat mißmutig heimwärts. Heute hatte man ihr ohne alle Umschweife bewiesen, daß sie noch ein unmündiges Gör war, obwohl sie in ein paar Monaten siebzehn wurde.

Zu Hause empfingen sie Frau Jacobas Ohrfeigen, die reichlicher als sonst und härter herniederprasselten, denn diese war unwillkürlich froh, ihre überschüssige Wut mit scheinbarem Recht an jemandem auslassen zu können. Eigenmächtige Entfernung hieß das todsündige Vergehen, während sonst so oft geklagt wurde, daß Ute so wenig selbständig sei und aus eigener Initiative nichts unternehme.

Willkür ist der Schlüssel zur Weltumwälzung. Im großen wie im kleinen. Der Blick, den Ute über tränennasse, geschwollene Backen zu der befriedigten Mutter hinübersandte, war so eine Weltumwälzung. War Revolution und Abkehr und beginnender Aufstand.

*

Gefion bekam ein Schreiben von dem Kunsthändler Kapsdorf, für den sie schon des öfteren Gutachten über echte Bilder, wie auch über Kopien gemacht hatte: sie möchte ihn aufsuchen, da sie in einem Streit über ein dem Altmeister Wohlgemuth zugeschriebenes Bild als Sachverständige fungieren solle. Dies paßte ihr ausgezeichnet. Besonders nach der widerwärtigen Szene, die ihr Michael Spranger in Unbeherrschtheit und Zügellosigkeit gezeigt hatte. Das war eine Wildheit, die Frauen nicht bewundern, sondern die ihnen einfach peinlich ist und die den Wert eines Mannes in ihren Augen herabmindert. Es war dasselbe, was sie damals veranlaßt hatte, die Verlobung aufzuheben. Gefion ging mit dem Schreiben Kapsdorfs zu Frau Jacoba und erklärte, daß sie sogleich abreisen müsse.

»Dieser Mortimer starb Ihnen sehr gelegen«, bemerkte Frau von Tirschenreuth in hochmütigem Tonfall, und als Gefion aufbegehrte, erwähnte sie so nebenbei, daß die Taxierung und Untersuchung der Bilder noch gar nicht beendet sei.

Gefion packte dennoch ihre Koffer und wurde nach einem äußerst verbindlichen Abschied und einer neuen Einladung zur Bahn gefahren. Der Kutscher hatte sogar Livree an, womit man auf dem Lande die Vornehmheit des Gastes kundtut. Beim Herfahren prunkte er in einer alten Joppe und mit einem grünen Filz. Das Gefährt war auch zweite Garnitur gewesen. Darum hatte Gefion geglaubt, die Rückfahrt werde – nach der gereizten Szene – auf dem Milchwagen vor sich gehen.

In Neustrelitz nahm sie den D-Zug und war eine Stunde später in Berlin, der arbeitsamsten Stadt des arbeitsüberreichen Deutschlands. Wie oft schon hatte sie das Lob dieser Großstadt gesungen, und jedesmal packte der gewaltige Rhythmus sie von neuem. Sie hatte ein Ohr dafür, empfindsame Nerven und einen sechsten Sinn, der schon vor Jahren aus Zuneigung zu dieser Stadt erwachsen war.

Eines aber liebte sie vor allem: den Blick über die Dächer. Dächer und abermals Dächer, so weit das Auge reichte, hütende Hauben, Berandungen des Irdischen, und darüber: der Blick ins Ewige. Schöne Gedanken kamen einem, wenn man aus dem Kreischen der Pfauen und Frauen, aus dem höhnenden Lachen der Totenvögel, dem Schreien der Eulen, dem Rascheln in den Wänden und dem fauligen Ruch, der vom Modderpfuhl herüberstrich, in das ununterscheidbare Brausen der Großstadt hinübergewechselt war und den ersten Abend am Fenster der Junggesellinnenwohnung im fünften Stock hinausträumte, weil ... weil ... das Herz nicht zur Ruhe kommen konnte.

Sie mußte Michael wiedersehen. Ihn sprechen. Beichten mußte sie ihm. Und wenn er sie verwarf, so war sie verworfen. Wenn er sie strafte, so würde sie dankbar aufatmen. Oder würde er seinerseits mit einer vielleicht noch viel furchtbareren Beichte antworten? Er, der Michael Wendhusen hieß und einen Michael Spranger spielte? Er war schöner als damals, da er als Bildberichterstatter nach Spanien aufbrach. Narrte sie eine Ähnlichkeit? War dieser Spranger doch ein anderer? War das Aufleuchten in seinen Augen vielleicht nur das Interesse, das ihr so oft von Männern entgegengetragen wurde? Sie hatte damals Wendhusen im Krankenhaus besucht, ohne warten zu können, bis er sie riefe, voller Hoffnung, voller Liebe und Erwartung. Eine furchtbare Szene hatte sich abgespielt, er hatte ihr in Eifersucht auf einen kleinen Flirt, den sie mehr geduldet als erwidert, die scheußlichsten Dinge gesagt und war dabei so unschön gewesen mit seiner in einer Kneipe zerboxten Nase, mit seinem schlenkernden rechten Arm, dessen Ellbogen bei der Prügelei gebrochen war. Wie hatte sie wissen können, was sie nicht von ihm, sondern erst viel später von einem seiner Freunde erfuhr, daß er sich mit einem Engländer, der Deutschland beleidigt, um die Ehre seines Landes auf Leben und Tod geschlagen hatte. Sie faltete ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit die Hände im Schoß und grübelte vor sich hin. Die Dämmerstunde der Melancholie gewann Macht über sie, die noch vor kurzem das Lob der tatfroh daherwuchtenden Großstadt gesungen hatte.

So also ist der Mensch. Er glaubt ein ganz anderer zu sein. Ein neuer. Da entdeckt er, daß er ist, wie die Väter waren. Und nun, da sie ins Unbewußte abglitt, staute sich in ihr ein immer mächtiger andrängender Wunsch und Wille, Anziehungskraft zu häufen, um sie alsdann auszusenden, auf daß sie eine unsichtbare Verbindung und Gedankenübertragung zu Michael herstelle, jene Brücke schlage, darauf die Seelen einander begegnen. Sie sammelte ihr ganzes Wesen in dem Verlangen, er solle diesen Ruf hören. Nicht in Rüsternort wollte sie ihn treffen, wo die gefährliche Frau saß, mit der er Gott sei Dank im Streit lag, sondern hier oder irgendwo anders wollte sie ihm begegnen. Zufall ist dasjenige, was uns arteigen und notwendig zufallen muß, ist das Sichsuchen des Entsprechenden. Und Michael sollte ihr zufallen. Sollte seine Bahn noch einmal mit der ihren kreuzen. Sie mußte ihm sagen, daß damals Trotz und Beleidigtsein ihr den Weg zu ihm versperrt hatten. Sie hatte noch nicht gewußt, daß der Weg der Demütigung eine Selbsterhöhung sein kann. Ohne dieses Canossa konnte sie nicht frei werden. Frei aber mußte sie sein von diesen wertmindernden inneren Vorwürfen, die sich in letzter Zeit gesteigert hatten, fast als wäre die Begegnung mit Michael schon wie eine Vorahnung in ihr gewesen. War da nicht wieder die lautlose Verbindung, die Anziehung des Bezüglichen? Die Schicksalswege schnitten sich. Wenn schon Elektronen ihre Bahnen haben gleich den Sternen und Kometen, wie soll es dann bei den Menschen anders sein? Uns fehlen nur die Augen, das wahrzunehmen. Sicher, so ist es. Es überkam sie von innen heraus die Gewißheit, daß sie Michael treffen, daß sie ihn bald wiedersehen würde. Der unangenehme Eindruck von ihm, den die letzte Stunde in Rüsternort ihr gebracht, war vergessen.

Freudig erhob sie sich. Sie fühlte sich wunderbar leicht. Diese Umgebung, die ihr zusagte, bewährte auch heute wieder ihren wohltuenden Einfluß. Dankbar betrachtete sie ihr geschmackvolles Junggesellinnenheim, das hell und freundlich in den Farben war und modern in den Möbeln, ja selbst vor den schwebenden Sitzen der Stahlrohrsessel nicht zurückschreckte, obwohl Gefions Architektursinn sich gegen das Fehlen der Rückstützen gesträubt hatte. Die scheidende Sonne sandte noch einmal ein letztes Leuchten verschwenderisch herüber, ehe die Nacht sie verschlang, in der Gefion von Michael träumte.

Um zehn Uhr am nächsten Morgen war sie zu Kapsdorf bestellt. Sie kleidete sich an, als wenn sie zu einem ersten, entscheidenden Stelldichein ginge. Wußte selber nicht recht, warum und konnte dennoch nicht über sich lächeln. Punkt zehn trat sie in den großen Verkaufsraum der Kapsdorfschen Villa.

Vor ihr stand Michael.

Er kam soeben mit dem Kunsthändler aus dessen Privatkabinett. Das Gespräch der beiden war wohl nicht sehr erquicklich gewesen; es versandete jedenfalls ziemlich rasch, denn das Interesse der Herren sammelte sich auf Gefion, die innerlich froh aufstrahlte. So schnell hatte die Saugkraft ihrer Wünsche zum Ziel geführt. Kapsdorf kam auf sie zu, um sie zu begrüßen. Er werde sogleich das kleine Bild von Wohlgemuth holen lassen. Michael hatte erst abseits gestanden, war dann langsam und zögernd, wie angesogen, immer näher gekommen und wurde nun von Kapsdorf vorgestellt.

»Herr Wendhusen – Fräulein Doktor Dankwart.«

Michael Spranger zuckte mit keiner Miene, sondern sah Gefion klar in das Gesicht. Alles verschwamm ihr vor den Augen. Zu ihrer Erleichterung kam Annette eifrig herbei, das kleine Wohlgemuth-Bild vorsichtig in beiden Händen haltend. Gefion hatte ihr Untersuchungsmaterial in dem dazu eingerichteten Köfferchen mitgebracht. Obwohl sie um ihr Leben gern mit Michael gesprochen hätte, ging sie in den Atelierraum, bemühte sich, die drängenden Gedanken beiseite zu schieben und begann die Untersuchung. Annette Mangelin gesellte sich zu ihr. Sie mußte unbedingt Fräulein Dankwart, die sie bewunderte, von ihrem großen Glück erzählen. Vorgestern hatte sie sich verlobt, mit einem Literarhistoriker, einem sehr feinsinnigen und zarten Manne, von dem sie viel lernen würde. Zwei junge, reine Menschen, die sich das große Glück einer echten Ehe aufbauen wollten, bestrebt, ganz ineinander aufzugehen, sich nicht als Einzelwesen zu vervollkommnen, sondern gemeinsam als Paar. Die Ideale einer neuen Zeit, in der die Gemeinschaft und ihre Vervollkommnung das Ziel ist, wollten sie leben. Es ging ein Zauber von dieser Hingebung und Gläubigkeit aus, dem sich Gefion nicht entziehen konnte.

Fast vergaß sie darüber Michael.

Wenn ihr solche Art Untersuchungen nicht schon zur zweiten Natur geworden, so wäre sie, auf Annettes Erzählung hörend und zugleich darauf lauschend, wann wohl Michael zur Tür hereinkommen würde, mit ihrer Arbeit nicht einen Schritt weitergediehen.

Vervollkommnung des Paares? Ein Ideal, dem sie noch nicht nachgesonnen hatte. Liebe, ja. Weil Seele und Körper das brauchen. Die Kreatur ist nun einmal so eingerichtet, und niemand kann ungestraft gegen den Stachel locken. Aber warum denn gleich Ehe, das roch nach Bürgerlichkeit. Da war ihr der scharfe Geruch der Firnisse und Prüfungstinkturen, die zersetzend den Tatbestand erhellten, schon lieber.

Annette in ihrem achtzehnjährigen Glück merkte nicht, wie wenig das angeschwärmte Fräulein Doktor ihr zuhörte. Sie plauderte hastig, mit zeitweiligen Blicken zur Tür, ob Chef oder Kundschaft sie riefe, erzählte, daß Erich Halligenstett sehr wohlhabend sei und sie studieren lassen wolle. Natürlich Kunstgeschichte, aber erst müsse sie die Reifeprüfung nachmachen. Ottgebes Ersparnisse hatten nur bis zur Prima gereicht. Aber hier habe sie ja schon so viel Kunstgeschichte gelernt, daß sie es dann in ein paar Semestern schaffen werde. Das hübsche junge Geschöpf wurde durch sein strahlendes Glück noch anziehender. Gefion sah endlich im vollen Gegenwärtigsein zu Annette auf. Wie rein, wie unberührt dieses schöne Mädchen war. Welch ein Entzücken, daß es so etwas gab. Ob sie selbst einst bei ihrer Verlobung auch ähnlich beschenkend für Betrachter gewesen war?

Michael betrat das Zimmer.

Enttäuscht über die vorzeitige Störung lief Annette hinaus. Gefion fühlte, wie sie, selbst im Nacken, rot wurde. Sie zwang sich, weiterzuarbeiten. Michael fragte höflich, ob es ihm gestattet sei, zuzusehen. Diese Art der Untersuchung sei ihm neu.

»Wieso diese Art? Sie kennen doch wohl die verschiedenen Arten nicht.« Michael meinte, man müsse in vielen Sätteln gerecht sein und könne deren nie genug haben.

»Auch der Namen.« Da war der Angriff heraus. Aber er verpuffte ins Leere, denn Michael ließ ihn an sich abgleiten.

»Ist das Bild echt? Warum antworten Sie nicht, Fräulein – Doktor? Ich frage aus Berufsinteresse. Können Sie beweisen, daß es gefälscht ist? Das würde mich interessieren.«

»Das Bild ist kein echter Wohlgemuth. Aber es ist auch nicht gefälscht. Es ist seine Schule. Er mag da und dort, zum Beispiel an diesem Faltenwurf, selbst mitgemalt haben. Aber die Hand seines großen Schülers Dürer ist bestimmt hier nicht zu finden. Das wird Herrn Kapsdorf nicht erfreuen. Er hatte darauf gehofft. Mir tut es leid, ihn enttäuschen zu müssen.«

»Ich gönne ihm diese Enttäuschung von Herzen!« stieß Michael hart heraus.

Das war ein Alarmsignal. Gefion drehte sich herum und sprang auf. »Was sind das für Geschäfte, die euch verbinden?« fragte sie geradezu.

»Keine.«

»Keine? Und wie kannst du als Michael Spranger auftreten?«

»Ein Verhör?«

»Ja. Ein Verhör! Es ist mir entsetzlich, zu denken, daß du – vielleicht eine Ähnlichkeit ausnützend – dir das reiche Erbe ... nun ja, erschlichen hast.«

»Wenn ich nicht ein mitfühlendes Verstehen, das mich entzückt, hinter deinen Worten empfände, müßte ich dir ins Gesicht schlagen oder meiner Wege gehen.«

»Tu das doch, tu das eine oder das andere. Aber ich bin keine Frau Jacoba, die mit dir feilscht und schreit«, sagte Gefion gemessen und zwang sich von neuem zur Ruhe.

»Ich bin ein geborener Spranger und heiße Wendhusen.«

»Was soll der Unsinn?!« Ihre Stimme wurde schärfer. »Du bist doch keine dreimal geschiedene Frau, die mit einem viertel Dutzend Namen herumvagabundiert.«

»Was ich dir damals nicht sagen mochte, weil ich fürchtete, es könne dich vertreiben ... Ich glaube, meine Furcht hat das Unglück magisch angezogen. Es ist mir oft gewesen, als ob ich selbst es war, der dich von mir trieb, irgendwann, eines Tages und aus irgendeinem Grunde.«

»Was hast du mir damals nicht zu sagen gewagt?«

»Daß ich von Geburt Spranger heiße und nicht Wendhusen.«

»Wurdest du adoptiert?«

»Nein, dann hätte ich ja nichts zu verschweigen gehabt. Aber es war so, daß mein Vater ... kurz, meine Mutter ließ sich scheiden, und dann kam er in Untersuchungshaft. Ich wollte den Makel nicht mit mir herumschleppen. Darum beantragte ich beim Amtsgericht, mich nach meiner Mutter nennen zu dürfen, die ihren Mädchennamen wieder angenommen hatte. Wir siedelten in eine andere Gegend über. Kurz ehe ich dich kennenlernte, starb meine Mutter. Ich habe sie zärtlich geliebt. Sie war mein innerer Halt. Du solltest an ihre Stelle treten.«

»Dann kam der unglückliche Streit. Ich verließ dich, Michael, weil ich die Gründe verkannte.«

»Noch ist es möglich, daß du an Spranger gutmachst, was du Wendhusen angetan, liebe Gefion. Willst du?«

»Wie kommt es, daß du jetzt wieder den Namen Spranger führst? Hast du ein juristisches Recht dazu? Wie kommst du zu dem Gut und dem Schloß?« Die Fragen klangen inquisitorisch. Vielleicht, weil sie Gefion so schwer wurden.

Er habe Gottwalt Spranger durch seltsame Umstände kennengelernt und ihm wesentliche Dienste geleistet, erklärte Michael. Dafür habe der Alte ihn als Erben eingesetzt, obwohl sie nur durch den Urgroßvater verwandt seien. Gefion atmete erleichtert auf und reichte Michael die Hand herüber. Ein warmes Gefühl beglückender Befreiung durchströmte sie. Wie hatte sie denn auch Michael etwas Schlechtes zutrauen können? Der Mann merkte, daß er zu siegen begann, und damit fiel alle hemmende Scheu von ihm ab. Er wurde der große Bezauberer, der er immer war, wenn er es sein wollte. Er kargte nicht mit geschickt angebrachtem Lob für Gefions kunsttechnische Talente, obwohl er im Innern nichts von weiblichem Können in beruflichen Belangen hielt. Was waren denn schon so ein paar Feststellungen? So etwas machte er doch aus dem Handgelenk und auf den ersten Blick. Da konnte er ganz andere Dinge! Er kam aber nicht in die Gefahr, sich zu verraten, denn er liebte dieses schöne Mädchen jetzt mehr noch als damals.

Gefion gab seinem Drängen, mit ihm im Fasanenhof am Kurfürstendamm zu Mittag zu essen, nur zu gern nach, da sie dieses Lokal seiner gedeckten Töne und warmen Farben wegen liebte, es aber wegen der teuern Preise nur selten aufsuchen konnte.

In diesem Augenblick trat Kapsdorf rasch ein, der sich nach dem Stand der Untersuchung erkundigen wollte. Er blieb erstaunt stehen und ruckte mit spitzen, steifen Fingern an den Bügeln seiner Brille. »Sieh da, die Antipoden der Malkunst in heftiger Anziehung!«

»Lassen Sie das,« fuhr Spranger ihn an. Gefion verstand nicht, was der Ausspruch bedeuten sollte.

Michael empfahl sich kühl. »Auf ein Uhr, Fräulein Doktor.«

Ein beglücktes Lächeln lag noch auf Gefions Gesicht, als sie dem Kunsthändler sachlich von dem Ergebnis ihrer Untersuchung berichtete. Da es ihn wenig befriedigte, versuchte er ein paar Mark von dem Honorar abzuhandeln. Aber sie zog das Schreiben Kapsdorfs aus einer Seitentasche ihres Arbeitsköfferchens und hielt ihm die schriftliche Zusage vor die Augen. Kapsdorf tat, als könne er sich nicht erinnern, mußte die Brille wechseln, gab schließlich mit einem Seufzer über die schlechten Geschäfte Ottgebe Mangelin Anweisung zur Auszahlung. Gefion hörte noch, wie die Schwestern über die »Graue Eminenz« sprachen. Dann ging sie. Graue Eminenz, wer mochte das sein? Dann drehte sich ihr ganzes Denken um den Satz, ob einstige Blütenträume wirklich jetzt noch reifen könnten. Sie war glücklich, daß Michael ihr zu verzeihen schien. Daß er sie liebte, noch immer liebte, das fühlte sie.

»Sie leben wohl auf dem Monde?« schimpfte ein Lehrling, der ihr auf den Fuß trat. Gefion entschuldigte sich. Die Umstehenden auf der überfüllten Straßenbahn lächelten. Ein Herr mit einer dicken Aktenmappe, offenbar ein Jurist, half ihr beim Aussteigen und bot ihr seine Begleitung an. Gefion dankte liebenswürdig, als habe sie ein Geschenk erhalten. Meist hatte ihr Gesicht in solchen Fällen einen strengen und leicht spöttischen Ausdruck gehabt, so daß Kenner es vorzogen, sich nicht eine öffentliche Abfuhr zu holen. Heute war sie aufgelockerter. Jedes Männchen schien ihre Bereitschaft zur Liebe zu spüren. Viele Blicke folgten ihr. Der Jurist war Gefion bis zu ihrem Hause nachgestiegen. Als sie im Fahrstuhl stand, lächelte sie über den Paragraphenhengst mit Frühlingsgefühlen.

Jetzt noch rasch ein Telephongespräch mit dem Pa, um ihm abzusagen. Sie hatte heute mittag bei ihm essen sollen. Er bedauerte es sehr, denn der junge Professor von Holleben würde kommen und hätte sich darauf gefreut, sie kennenzulernen. Aber wie konnte das Gefion interessieren, wo ein Michael auf sie wartete!

Drei Minuten nach eins betrat sie den Fasanenhof. Der Liftboy überreichte ihr einen Rosenstrauß. Nicht wundern, nur freuen. Am Ecktisch wartete Michael. Der Kellner fragte der Form halber, ob er servieren dürfe. Da die Monate ohne ›r‹ vorbei waren, gab es statt der geliebten Krebse Austern, und Michael entschuldigte sich: Chablis wäre leider keiner vorhanden. Es solle ja auch nur ein Dejeuner sein. Man werde heute abend nach der Oper im Adlon speisen. Theaterkarten und Tisch habe er bestellt.

Der gelernten Junggesellin Gefion schwoll ein unsichtbarer Hahnenkamm. Sie ließe so nicht über sich verfügen. Doch Michael entwaffnete sie mit einem bezaubernden Lächeln und der humorigen Frage, wo er so schnell eine andere Partnerin herbekommen solle. Ob sie vielleicht eine ersatzbereite Freundin an Hand habe. Gefion brummelte und sah in seine Augen, aus denen Schalk und Daseinsfreude strahlten. Wie konnte ich diesen Mann verlassen? Wie viele Jahre beschwingten Glücks habe ich vergeudet! – Einen Augenblick tauchte das Bild aus dem Krankenhaus in ihrem Innern auf. Michael las ihr den Gedanken von der Stirn, die sich ein wenig gefaltet hatte, wie wenn eine unvermutete Bö über spiegelblanken See läuft.

»Du wunderst dich, daß meine Nase wieder gerade und mein rechter Arm einigermaßen gebrauchsfähig ist. Das konnte man nicht voraussehen, als du mich –«, er wollte sagen: verließest, konnte aber gerade noch rechtzeitig einfügen »sahst«. »Ja, liebe Gefion, die Kunst der Chirurgen und Schönheitsärzte ist heute bewunderungswürdig. Ich kam noch rechtzeitig in geschickte Behandlung.« Michael sah, daß Gefions Gesicht zu ernst für diese erste gemeinsame Stunde und für diesen Ort wurde und er lenkte rasch ab. Durch harmloses Geplauder versuchte er, über die gewisse Befangenheit hinwegzukommen, die aus der Intensität des Zusammengehörens und der langen Trennung erwuchs. Gefion konnte sich nur allmählich frei machen, und als ihr das gelungen war, mußte sie aufbrechen, weil sie noch Arbeiten zu erledigen hatte. So wurde es wirklich nur ein kurzes Frühstück. Michael warf Geldscheine auf die Rechnung, ohne sie überhaupt anzusehen. Der Kellner bedankte sich eilfertig.

 

Jacoba hatte sich in den Kopf gesetzt, diesem Michael auf die Sprünge zu kommen. Sie wollte nicht nur durch die Auskunftei, sondern auch selbst sehen, was und wie er es treibe. Nur darum hatte sie eingewilligt, dem verlorenen Bild durch den Kunsthändler Kapsdorf nachspüren zu lassen. Hier war vielleicht ein Weg, hinter die Geheimnisse des Erbschleichers zu kommen. Ihr Rechtsanwalt Ahlström schien nicht recht Lust zu haben, sich mit dem Fall Michael Spranger zu befassen, und hatte eine Andeutung gemacht, daß sich ja durch eine Ehe die bestehenden Schwierigkeiten am leichtesten lösen ließen. Ahlström hatte genug zu tun und bereits erfahren, daß mit dieser Dame nicht gut Kirschen essen war. Sie wurde bisweilen ungemein unlogisch und fand dann recht, was ihr angenehm war. Worauf sie diese Ansicht mit einem Aufwand von Finessen zu vertreten pflegte, der jeden Strafverteidiger vor Neid hätte erblassen lassen.

Jetzt war sie also in Berlin, hatte ihre Auskunftei aufgesucht, die Gebühren für die Beobachtung von Michael Spranger bezahlt und einige Erkundigungen über den großen Bilderhändler Kapsdorf eingeholt. Zu diesem machte sie sich nun auf den Weg. Vor der palaisartigen Villa in der Oschatzer Allee angekommen, bezog sie einen Beobachtungsposten, sah aber selten jemanden das Haus betreten. Meist waren es Damen der Gesellschaft. Nur dann und wann ein Herr, der den Eindruck eines Kenners machte. Von Michael keine Spur. So einfach, wie sie sich das gedacht hatte, war die Sache also nicht. Sie betrat schließlich die Villa und verlangte nach dem Chef, erfuhr von der sie nicht besonders hoch im Preis eintaxierenden Ottgebe Mangelin, daß er eine Konferenz habe. Sie mußte sich mit einem fahrigen Wiener begnügen, der ihr mitteilte, daß seines Wissens zur Zeit leider kein Van Dyck zum Verkauf stünde. Als er ihr dienstbeflissen andere Kaufvorschläge machte, lehnte sie eilfertig ab. Um sich einen guten Abgang zu machen, hätte sie ganz gern eine Kleinigkeit erworben, aber sie wußte nicht, was, war auch gegen unnütze Geldausgaben und fand indigniert, daß der ganze. Laden hochmütig sei und keine Zeit für sie habe.

Sie ging nach dem Kurfürstendamm, um dort zu essen, und schlug ihre übliche Gangart an, bei der sie alle Mitgehenden weit hinter sich zu lassen pflegte. Sie aß in der Bötzow-Bierstube einen billigen Stamm und ließ das kleine Helle unberührt stehen. Für den Abend beschloß sie, sich elegant zu machen und im Bristol oder im Edenhotel ihre Wirkungsmöglichkeiten zu erproben. Im Eden hatte sie einmal eine entzückende Bekanntschaft gemacht, an die sich eine kleine Reise nach Nizza angeschlossen. Es wurde Herbst. Warum nicht nach dem Süden. Allerdings die Unbequemlichkeit mit den Devisen.

Bei Anruf erfuhr sie von ihrer Auskunftei, daß diese glücklicher gewesen war als sie. Man konnte ihr mitteilen, daß Herr Spranger für heute nach der Oper im Adlon einen Tisch für zwei Personen bestellt habe.

 

Die Fidelio-Aufführung bewegte Gefion tief. War schon Beethoven an sich ihr Lieblingskomponist, an den sie sich verlieren konnte, so hatte das große Motiv der Treue, dieser Hochgesang auf eine opferfreudige tapfere Ehefrau, wieder all die geheimen Gründe ihres Gewissens aufgewühlt. Wenn auch ihr Fall ganz anders lag, so fühlte sie doch, daß der große Beethoven, der die Treue besang, sie verurteilt haben würde.

Als sie die Restaurationsräume des Hotels Adlon betraten, war sie noch so benommen, daß sie im Vorbeigehen Frau Jacoba, die im Hintergrunde allein an einem kleinen Tisch saß, fast mit dem Kleid streifte, ohne es zu bemerken.

Die Stimmung zwischen Michael und Gefion wurde bald heller. Es war, als wären zwei Menschen von einem langen Druck erlöst und atmeten nun in beglückender Zweisamkeit auf. Durch die köstlichen Getränke zudem noch befeuert, kam es den beiden nicht zum Bewußtsein, wie sehr sie mit den Themen umsprangen und allerlei bunt durcheinander plauderten, was das Fräulein Doktor sonst stets als Unerzogenheit zu rügen pflegte. Michael war wie innerlich losgelassen. Er hatte schon manches Mal Frauen mit der Macht seines Wortes bezaubert, und hier galt es, hier machte er ganzen Einsatz.

Mitten in der Fröhlichkeit kam ihn manchmal ein Frösteln an, das sich in Sekundenschnelle, aber auch nur für einen Augenblick, auf Gefion übertrug. Beide fühlten eine Kälte aus den Füßen heraufsteigen, spürten eine Unruhe, die sie sich nicht erklären konnten. Ahnten jedoch nichts von den feindlichen Blicken und Wünschen, die sie einspannen wie in ein würgendes Netz.

Im Hintergrund saß einsam eine hassende Frau.

Durch Zufall sprang das Gespräch auf das Wohlgemuth-Bild von heute früh über, und es entstand nun eine Debatte über den Wert von echt und unecht.

»Du mußt doch einsehen, daß weniger dazugehört, ein Bild hinzuklecksen, als dazu, es mit all seinen Vorzügen und Schwächen so zu kopieren, daß kein Mensch einen Unterschied merkt. Ich finde solches Können einfach genial und ziehe den Hut vor Leuten, die das fertigbringen.« Michaels Stimme hatte einen leisen Beiklang von Selbstgefälligkeit. »Es hat in der Geschichte der Malerei berühmte Fälscher gegeben, und sie haben mehr Geist und viel mehr technisches Können gezeigt als ihre Vorbilder.«

Gefion widersprach: »Das Primäre und Ursprüngliche ist immer der schöpferische Akt. Du kannst unmöglich einen Geigenvirtuosen über einen Tondichter stellen, der seine Gestaltungen unmittelbar aus dem göttlich Ewigen nimmt. Ist Paganini oder Bülow größer als Beethoven? Soll der Schöpfer geringer sein als sein Wiederkäuer?« schloß sie lachend. Denn unmöglich konnte Michael doch die Verteidigung seines Standpunktes ernst nehmen. Er lachte jetzt auch, und sie war befriedigt. Denn etwas Törichtes zu verteidigen, das hätte ihrem Idol geschadet. Frauen ihrer Art können schwer einen Abstrich, bei dem Mann, den sie sich erkoren haben, ertragen.

Michael, der am geistigen Kampf große Lust hatte, merkte in seinem Herrentum, das leicht blind macht, nichts von Gefions Ringen um seine untadelige Größe.

»Weißt du, daß ich all die Jahre geglaubt, ich wäre überhaupt nicht fähig, zu lieben, so mit voller weiblicher Hingabe zu lieben? Daß ich zu einem Manne sagen möchte: mach mit mir, was du willst. Führe mich, wohin du willst. Nimm mich als dein Eigentum – allerdings ein sehr anspruchsvolles Eigentum. Denn gegen die Gestalten meiner Träume kommt so leicht die Wirklichkeit nicht an.«

»Ah!« sagte er, »der gelbe Page, der edle, melancholische, aus Jens Peter Jacobsens unvergänglicher Novellette ›Hier sollten Rosen stehn!‹ Du hast gut gewählt.« Und er trank ihr mit einer Bewegung zu, in der sich sein ganzes Ich zu einer Huldigung für sie sammelte. »Aber ich würde diesen gelben Pagen, der alle Wirklichkeit verschmäht und nur die Idole seiner Träume liebt, mit zarter Hand in die Wirklichkeit einführen. Ich würde ihn jeden Tag mit der Kraft meines Seins so zu bezaubern suchen, daß er nichts sehnlicher wünschte, als jeden Tag meiner Verführung erliegen zu können.«

»Und wenn der Page nun Angst hätte vor der Verführung, vor dem Billigerwerden von Tag zu Tag, vor dem Verschleiß des Alltags und – vor sich selbst, weil er vielleicht fühlt, daß auf dem Grunde seines Seins eine Glut der Hingabe lauert, die gewaltsam und doch unendlich leicht verletzlich ist? Es ist nicht leicht, gegen Träume aufzukommen, Michael, ich warne dich!«

»Ob nun der gelbe Page oder der andere, der lebenstrotzende, der blaue, ich nehme den Handschuh auf«, lachte Michael siegessicher.

Ihre Blicke fanden sich. Sie standen auf und gingen, fiebernd vor dem, was die Stunden bringen würden.

Viele sahen dem schönen, eigenartig interessanten Paare nach, das ein Glanz junger Zweisamkeit umspann. Die Kapelle setzte mit einem Tango ein. Michael trällerte den Text: Wir wollen tun, als ob wir Freunde wären ...

Da klang unmittelbar vor ihnen die zweite Zeile auf: »Und sehr intime noch dazu!«

Es war Frau von Tirschenreuth, die den zweiten Vers scharf und hohnvoll flüsterte in einem unmißverständlichen Tonfall. Blick und Mienen gaben unzweideutig ihr geheimes Vertrautsein mit diesem Manne preis.

Gefion und Michael blieben einen Augenblick wie angewurzelt stehen. Dann grüßte er leicht und zog das zitternde Mädchen mit sich vorwärts – einem ungewissen Schicksal entgegen.

Gefions Hände waren wie Eis.

Sie hatte verstanden.

*

Jacoba, die im Hotel Adlon abgestiegen war, fühlte ihre Niederlage. Dieser Michael war in das Fräulein Dankwart verschossen, oder nein, er liebte sie offenbar ehrlich, denn für so etwas hat jede Frau Fingerspitzengefühl, vor allem eine erfahrene wie ich, dachte die selbstgefällige Dame, die sich entrechtet und in die Ecke gestellt fühlte. Er hat mich betrogen, steigerte sie ihre zornigen und beleidigten Gefühle. Doppelt betrogen, in zwiefacher Art. Neulich, als er mich wie ein gefälliges Mädchen behandelt hat, und heute, da er mit einer andern – dasselbe tun wird.

Sie war neugierig, wie wohl der Rest des Abends zwischen den beiden verlaufen sein mochte. Daß Gefion den kleinen Auftritt nicht mißverstanden hatte, dessen war sie sicher. Und es bereitete ihr eine nicht geringe Genugtuung, zunächst einmal Zwietracht zwischen den beiden gesät zu haben. Und auf die Dauer war diese Gefion längst nicht Weib genug, um in einem ernsthaften Geschlechterkampf zu siegen. Dabei ziehen diese Amazonen von heute, die den Mann als Kameraden ansehen, meistens den kürzeren. Diese Blaustrümpfe, die an der Liebe naschen, statt sie wie einen Blutrausch zu genießen. – Dieser gestrige Abend war für Jacoba eine Pein gewesen. Neid, Eifersucht, Mißgunst, Gekränktheit hatten an ihr gefressen. Kein Wunder, daß sie dann den verhängnisvollen Entschluß gefaßt hatte, den sie heute früh schon bereute: Rache zu nehmen. Noch in der Nacht hatte sie bei der Kriminalpolizei in Schwerin Anzeige erstattet, hatte in Zorn und ohnmächtiger Wut einen ihrer Entwürfe abgeschrieben und besonders kernige Stellen aus den andern noch hineingebaut. Dann hatte sie das Schreiben durch den Nachtportier besorgen lassen. Und heute hätte sie es am liebsten zurückgerufen. Wenn sie sich diesen Michael vorstellte, in seiner ganzen Männlichkeit, so fühlte sie, daß er einer von den wenigen Männern war, für die es sich zu leben lohnte. Wieviel Interessantes, wieviel verschleiertes Dunkel war um ihn. Vor fünf, sechs Jahren hatte sie ihn bei Gottwalt flüchtig kennengelernt, und wie hatte er sich seitdem entwickelt! Schon damals war sein Haar grau gewesen, und er hatte immer graue Anzüge getragen, die ihm ausgezeichnet zu Gesicht standen. Und Gottwalt hatte ihn manchmal »Graue Eminenz« genannt. Aber Michael zeigte damals noch etwas Unstetes und fast Unterwürfiges. Das hatte sich inzwischen verloren. Nun war er in allem ein Herr. Sehr schade, daß sie ihn angezeigt hatte. Sie drehte sich im Bett herum und telephonierte nach ihrem Frühstück.

 

Michael hatte eine sonderbare Nacht. Immer schreckte er aus greulichen Träumen auf. Da gingen Gespenster durch Rüsternort und griffen mit langen Fangarmen aus den Wänden nach ihm, sich wieder einrollend, wenn sie ein Stück seines Selbst aus ihm herausgerissen hatten. Da liefen endlose Leinwanden von Walze zu Walze, und er sollte in der Schnelligkeit des Abrollens um den Preis seiner Seelen Seligkeit Bild um Bild darauf malen und zu den Bildern große Geschichten schreiben. Schweißgebadet wachte er zwischen Eins und Zwei auf und sah sich erschrocken in seiner Atelierwohnung um. Da war aber nichts, was ihn hätte schrecken können. Er schlief wieder ein.

Ein neuer Traum quälte ihn. Der Abschied von Gefion stand überdeutlich vor seinem innern Auge. Daraus kamen Gesichte, als wäre es das Vorspiel eines Abschieds für immer. Mit allen Fasern versuchte er Gefion zu halten, doch sie entglitt ihm. Endlich bekam er sie zu packen, doch Furien drängten herbei und rissen die erbarmungswürdig Wimmernde hinweg. Mit einem Entsetzensschrei erwachte er wieder. Es war dreiviertel Drei. Die Stunde, da Jacoba die Anzeige an die Kriminalpolizei zur Besorgung gab. Er trank ein paar Gläser Kognak und nahm mit dem letzten ein leichtes Schlafmittel. Seine Gedanken beruhigten sich, er streckte sich fast wohlig in seinem Bett, das ungewöhnlich breit und schön war. Er sandte zärtliche Gedanken an Gefion.

Gleich darauf war er eingeschlummert.

 

»Eine doppelte Anzeige, Herr Kriminalrat«, sagte der diensthabende Beamte zu seinem eintretenden Chef zu einer Stunde, da Schwerin sich gerade aus dem Morgenschlummer wand. »Fälschung und Diebstahl. Anzeige gegen einen Michael Spranger, von einer Frau von Tirschenreuth geborene Schöneich auf Rüsternort.«

»An der Grenze unseres Bezirks gegen Brandenburg«, antwortete der Kriminalrat und nahm die Anzeige zur Hand. Der Beamte pflichtete bei. Der Chef las und runzelte verschiedentlich die Stirn, was bedeutete: da stimmt nicht alles. Auf seine Frage, ob schon etwas unternommen wäre, erhielt er die Antwort, daß dies Schreiben soeben erst eingelaufen sei. ›Vertrauliche Mitteilung‹, echt weiblich. »Legen Sie einen Vorgang und Handakte ohne Namensnennung an. Eintragung ins Tagebuch, Nummernbuch und in die Ordnungsbücher der Sachbearbeiter. Die Kommissariatsleiter zur Rücksprache zu mir.« Der Beamte ging. Kriminalrat Kramer las die Anzeige zum zweitenmal mit höchster Sorgfalt, machte sich Notizen und hing seinen spürenden Überlegungen nach.

Kriminalkommissar Holst und sein Inspektor Kraus meldeten sich. Rat Kramer gab ihnen das Anzeigeschreiben und erledigte, während die beiden es lasen, den übrigen Posteingang. »Sie übernehmen die Diebstahlangelegenheit. Ein Van Dyck, das ist eine große Sache. Wenn er echt ist. Meldung an die Kriminalzentrale in Berlin. Es wäre wünschenswert, Hehler und Schleichhandel zu überwachen. Begeben Sie sich sofort an den Tatort. Die Anzeigenerstatterin schreibt aus Berlin, Hotel Adlon. Wenn Sie den großen Wagen nehmen, dürften Sie vor der Dame in Rüsternort sein. Das wäre günstig. Sie treffen das Personal unvorbereiteter und ungehemmter.«

»Die Anzeige wegen Diebstahls ist gegen Unbekannt. Als Nachschrift steht allerdings auch hier ein Verdacht gegen denselben Mann, dem die Testamentsfälschung zur Last gelegt wird. Soll Akte auf unbekannten Täter angelegt werden?«

Der Kriminalrat nickte. »Selbstverständlich. Es ist unwahrscheinlich, daß der Besitzer, denn die Frau sagt ja, daß sie ihm das Besitzrecht bestreitet, selbst das Bild gestohlen hat.«

»Ein undurchsichtiger Fall. Wenn ihm der gesamte Besitz bestritten wird, könnte er wohl das wertvollste, leicht bewegliche Stück beiseitebringen«, gab der Kommissar zu erwägen. »Da kommt Kollege Gottorp.«

»Fahren Sie los, Holst. Die Fahndung werden wir veranlassen. Rufen Sie an und berichten Sie mir, falls Sie nicht gleich zurückkommen können.« Kramer wandte sich an Gottorp und ordnete an, daß er das Testament beim Amtsgericht einfordern und untersuchen solle, ob Fälschung vorläge oder die Anzeige überhaupt nicht zu Recht bestünde. Gleichzeitig solle er bei der Zentrale in Berlin und auf der Meldestelle in Hohennostritz die Ermittlung über den Denunzierten einleiten. Die Herren gingen an die Arbeit. Der Apparat begann zu spielen.

 

Michael telephonierte mit Gefion. Ein tief glückliches Lächeln trat auf seine Züge. Daß sie sich entschuldigen würde, hatte er wirklich nicht erwartet, aber sie tat es. Sie habe sich wie ein Schulmädel benommen, vor dessen Augen ein Tanzstundenherr eine andere küßt. Sie glaube ihm durchaus, daß die Episode mit Jacoba eine einmalige gewesen sei, die sich vor ihrer Wiederbegegnung ereignet habe. Michael war über die Zutraulichkeit und Versöhnlichkeit von Gefion so beglückt, daß seine bewegliche und phantasiebegabte Seele rasch glaubte, es wäre tatsächlich so gewesen. Gewissensbisse waren ihm fremd.

»Ich bin doch moderner Mensch genug«, hörte er Gefions bezaubernde Stimme in der Muschel, »daß ich weiß, wie Männer zu leben gewohnt sind und daß sie mitnehmen, was ihnen am Wege blüht. Manchmal blüht da sogar Unkraut«, lachte sie, und er ahnte nicht, was dieser Anruf und der heitere Ton sie kostete. Aber Gefion hatte sich für Michael entschieden. Sie hatte gestern gefühlt, daß all ihre Angst, sie könne nie richtig lieben und würde bei dem kleinsten Hindernis stets wieder zurückschrecken wie damals und wie die andern Male, wo Männer sich ihr genähert hatten, daß all diese Angst grundlos war. Die Eifersucht, die sie wütend angefallen, hatte alsdann das ihre getan.

Dieser Frau Jacoba würde sie den Endsieg und den Triumph nicht lassen. Nun gerade nicht – und dieser Frau schon gar nicht! Es hatte sie zwar vordem wie eine Warnung durchzuckt. Sie erinnerte sich an das nächtliche Mahl nach dem Ritt, bei dem ihr der Gedanke aufgesprungen war: eine gefährliche Gegnerin! Der Kampf um die Liebe desselben Mannes – ein Kampf auf Leben und Tod. Die Methoden der Frau Jacoba würden nicht immer einwandfrei sein. Einerlei! Gefion hatte den Kampf aufgenommen, aber es würde die letzte Schlacht noch nicht gewesen sein.

Sie verabredeten einen gemeinsamen Ausflug. Er wollte sie gegen Mittag abholen. Oder, da es Regen zu geben scheine, solle sie lieber um sechs Uhr bei ihm zu Abend essen, in seiner Junggesellenbude.

 

Der Polizeiapparat spielte.

Über den Draht liefen die Ermittlungen.

Wer war dieser Michael Spranger? Wo war er gemeldet? Wo hatte er in den letzten Zeiten gelebt und wovon, Fragen, die auf die Anzeige zurückgingen, in der auch mitgeteilt wurde, daß nach neuestem Bericht der Auskunftei Spranger sich bisweilen auch Michael Wendhusen genannt und im Westfälischen gelebt habe. Ein Druck auf den Knopf hatte genügt, und überall arbeitete es nach den angegebenen Richtlinien. In Berlin, in Hohennostritz, auf dem Gemeindeamt in Rüsternort, in der Lüneburger Heide. Schnell wie das Wort im Draht hinfliegt, kamen die Ermittlungen. Neue Verdachtsmomente blitzten auf. Andere verschärften sich.

Diese Anzeige schien keiner Frauenlaune entsprungen zu sein.

 

Michael fuhr mit seinem Wagen zu Borchart und kaufte all das, was einem erfahrenen Junggesellen zu einem verführerischen Festmahl notwendig erschien. Die dunklen Wolken seiner Vergangenheit hellten sich auf, es wurde lichter um ihn, von Tag zu Tag. Die Sonne brach durch. Sein Leben wurde fröhlich. Das Licht am Styx leuchtete rettend auf. Wie er Gefion liebte! Seine Gefion. Wie dankbar er ihr war. Und wenn er sie heiraten müßte! Obwohl eine Heirat keine geringe Gefahr für Künstlernaturen ist. Sie selbst, ihr Schaffen oder die Ehe gehen darüber meist zugrunde. Etwas Halbes wollte er mit Gefion nicht. Nein, mit ihr sollte das Leben lebensklug gelebt werden. Vielleicht war sie Junggesellin genug, um auch selber den Wunsch zu haben: Jeder für sich und die ewige Sehnsucht zueinander für beide.

Wie schön konnte ein regnerischer und trüber Tag sein. So froh war sein Herz lange nicht gewesen. Daß ihm der Zufall Gefion in den dornigen Weg geführt hatte!

 

Bei Kriminalrat Kramer lief die Meldung ein, daß Michael Spranger sich ohne bisher auffindbare Genehmigung nach seiner Mutter Wendhusen genannt und unter diesem Namen drei Jahre in der Lüneburger Heide gelebt habe. Kramer befahl genauere Nachforschungen, sowie Ermittlungen bei dem Bilderhändler Kapsdorf, den Michael, wie in der Anzeige stand, sonderbarerweise mit der Wiederherbeibringung des Van-Dyck-Bildes beauftragt habe.

Dann kam die Meldung, daß Michaels Vater wegen Anzeige auf Betrug in Untersuchungshaft gesessen und nur wegen mangelnder Beweise freigesprochen wurde.

Über den Draht lief bei der kriminalbiologischen Abteilung der Kriminalzentrale die Anfrage nach dem Leben aller dort ermittelbaren Sprangers ein. Erbliche Belastung schien nicht ausgeschlossen. Erfahrungsgemäß stammen sehr viele Verbrecher aus vorbestraften oder vagabundierenden Familien.

Der Apparat spielte. Die Ermittlungen liefen weiter.

 

Michael kaufte Blumen. Viele und kostbare Blüten. Er selbst hatte einen Hang, sich mit Düften zu umgeben und sich von ihnen einlullen zu lassen. Er war Künstler genug, um Stunden der Hingabe in Betrachtung und Bewunderung schöner Formen und zarter Abschattierungen voll zu genießen. Wie bezaubernd, daß Gefion auch Künstlerin war und mit ihm all diese Freuden teilen und dadurch vertiefen würde. Welch ein Glück, sie, die Unvergessene, wiedergefunden zu haben. Sie heute hier zu empfangen, sie endlich in die Arme schließen zu dürfen. Konnte es einen glücklicheren Menschen geben als ihn? Nach Jahren der Einsamkeit und der Qual, nach endlosen Zeiten des Niedergangs und der aufreibenden Gier nun endlich einmal in den Frieden der Erfüllung einzulaufen. Welch eine Freude, welch eine Genugtuung. Durch die steinernen Straßen strich ein herbstlicher Wind, warf sich wuchtend gegen die stöhnenden Scheiben der großen Fenster dieses Ateliers ohne Bilder, ohne Staffeleien und Malgerät. Das Licht der untergehenden Sonne, das zwischen treibenden und zerfetzenden Wolken hervorschoß, beleuchtete keine einzige Skizze an den Wänden, keinen Entwurf eines vorgeahnten dämmernden Meisterwerkes. Da war kein Bild, das in den sich rötenden Strahlen der untergehenden Sonne aufleuchtete. Michael hatte doch wahrscheinlich recht getan, als er die Kunst des Pinsels mit der der Feder vertauschte. Auf dem Gebiet der Literatur würde er der große Eigenschöpfer werden. Ob Gefion ihn darin wohl ganz verstehen und mit ihm gehen würde? Gleich heute wollte er ihr jene Erzählung voller Dämonie vorlesen, in der die Farben einer saftigen, einer strotzenden Barockzeit flimmerten, dies Meisterwerk seiner Feder, das »Licht am Styx«.

Er legte es bereit. Diese Erzählung sollte ihm einer nachmachen! Und welch ein Kompliment war es für eine Frau, welch eine Verherrlichung, wenn sie hier mit Ninon de Lenclos, der Göttlichen, verglichen wurde – welcher Frau würde so ein Vergleich nicht schmeicheln?

Bald würde Gefion vor ihm stehen, bald würden ihrer beider Blicke ineinander stürzen. Bald würde das Glück des Einswerdens seinen Anfang nehmen.

 

Der Apparat lief, der Draht spielte.

Die Kriminalzentrale spann Fäden über Fäden, erfuhr Dinge, die kein Mensch sonst wußte, verflocht die Fäden zu einem immer lückenloser werdenden Webbilde, dem Bilde von Michael Spranger, der durch beinahe zwei Jahrzehnte sich Michael Wendhusen genannt und doch seine Spuren nicht verwischen konnte. Wie die Schnecke ihren Weg zeichnet, den wohl ein Regen fast verlöschen kann, den aber ihre Feinde dennoch finden. Wie man mit sympathetischen Tinten schreibt, die zur Unsichtbarkeit verblassen, aber durch Erwärmung wieder hervorgezaubert werden. So fand die Kriminalzentrale die Spuren des Mannes, der sein altes Leben hinter sich geworfen hatte, um nun mit seinem Ursprungsnamen Michael Spranger ein anderes zu beginnen. Die Verdachtsmomente häuften sich. Die Beweise begannen Form und Festigkeit anzunehmen.

Zur selben Stunde loderte Michael in beschwingter Leidenschaft Gefion entgegen.

Inzwischen hob sich die unsichtbare Pranke der Kriminalpolizei und wartete nur auf den Befehl zum Zuschlagen.

In der Lüneburger Heide, wo der Ginster am einsamsten, lag eine verlassene Kate. Ein Dichter hatte sie bewohnt. Ein seltsam reicher Mann, der die Bauern mit Sekt aus Biergläsern betrunken gemacht hatte. Ein armer Dichter, der einen Rennwagen im Kreisstädtchen gehabt. Ein Mann toller Reden, die keiner verstanden, die aber jeder als lästerlich empfunden hatte. Ein großartiger Kerl voller Leutseligkeit und Verbrüderungssucht, dem die krasse Menschenverachtung aus den Augen geblitzt hatte, ein Mann, der gegen jeden die Schachpartie gewann, ein Mensch voller Nachahmungstalent und einer Wiedergabefähigkeit, die den Schenkenläufern die Lachtränen aus den Augen gekitzelt hatte, kurz – einer, den sie alle mochten und doch – fürchteten, weil keiner ihm über den Weg traute. So sah das Bild aus, das die Kriminalpolizei in Berlin zusammenschweißte.

Besonders der Spökenkieker Schäfer Harms hatte immer zum Schulmeister gemeint: »Seih dek man vör, Uve, dat is 'n Schauspiler. Dat nimmt keen gaudes Enn nich mit dem!« Und das sagte er zu dem Kriminalkommissar, der ihn wiederholt vernahm, geheimnisvoll hinzufügend: »Der Spökenkieker sieht, was Gott weiß!«

Damit hatte er seine Aussage geschlossen und ließ den doch einmal in seinem Leben verblüfften Beamten einfach stehen.

»Aus dem bekommen Sie keinen Ton mehr raus«, nickte Heideschulmeister Uve: »Wer so nahe bei seinem Gott ist, für den hat die irdische Gerichtsbarkeit ihre Schrecken verloren. Aber sagen Sie, Herr Kommissar, ist es wirklich wahr, daß von Wendhusens Buch ›ln Moos und Moor‹ nur 430 Exemplare verkauft sind und nicht 40 000? Also wahrhaftig, nein. Daß ein netter Mann so schwindeln kann. Ich dachte immer, er wäre mein Freund.«

Die Volksstimme sprach nicht für Michael Wendhusen-Spranger, stellte die Kriminalpolizei fest, als die Drahtberichte ihrer Kommissare einliefen. Auch die Mitbewohner des Hauses Elfriedenstraße 11, wo Spranger seit etwa fünf Jahren eine elegante Atelierwohnung innehatte, die er aber seit drei Jahren kaum mehr benutzte, außer zu vorübergehenden Aufenthalten wie eben jetzt, waren alle gegen ihn, wovon er aber wahrscheinlich nichts geahnt hatte. Der Mensch weiß selten, wie er sich in den Hirnen seiner Umwelt spiegelt.

Die Portiersfrau hatte eine offene Hand, und Spranger hatte sie immer gefüllt, meist gedankenlos, manchmal auch aus Großmannssucht. Der Mann, der mit der Portiere ein Schnäpschen trank, erfuhr, daß Michael Spranger dem Mädchen von der Frau Geheimrat im dritten Stock ein Kind gemacht haben sollte; »und wat die Alma ist, die Tochter von dem Oberstleutnant im Hochparterre, die ist seinetwegen rausgeflogen. Ick gloobe wenigstens. Und dem trau ick dat zu«, setzte die Menschenfreundin hämisch hinzu, der es Wasser auf ihre dreckige Mühle bedeutete, daß sie einmal richtig plappern durfte. Im Anfang sei er nachts mit Holzleisten und Leinwandrollen gekommen und gegangen, tags aber habe man ihn nie mit Bildern gesehen. »Aber wozu hat denn der Mensch so 'n teures Atelier, dat frage ick Sie bloß«, hatte das biedere Weib ihren Bericht geschlossen. Als der Besucher sich entfernte, sah sie ihm lange nach. Ihr war ein Licht aufgegangen. Det war sicher ein Kriminaler gewesen. Nachtigall, ick hör dir trapsen.

 

Michael begrüßte Gefion, die von den Fragen der Portiersfrau noch ein wenig verwirrt war. Was ging es diese Person an, zu wem sie wollte. Und warum erzählte sie ihr, daß schon eben einer sich so merkwürdig unauffällig nach Herrn Spranger erkundigt habe.

Michael strahlte. Nun stand sie vor ihm, die Frau seines Lebens, die ihm so viel bedeutete, die seines Daseins Weichenstellerin war, die Aufstieg oder Niedergang in ihrer Hand hielt. Als sie damals seine Braut gewesen, war sie noch allzu scheu und so ein Pflänzchen Rührmichnichtan, heute eine Frau, die das Leben kannte. Das Leben vielleicht, aber wohl kaum die Männer. Man spürte ihr die Junggesellin und auch die Jungfrau bisweilen an.

Gefion hatte sich aus seinen Armen freigemacht und sah sich in dem großen Raume um, der mit moderner Eleganz ausgestattet war. Vor dem offenen Kamin an der Mitte der Längswand bildeten drei niedere Sofas einen abgegrenzten Raum für sich. Von der fast weißlichen Schafwolle ihrer Bezüge hob sich das Altrot des Teppichs wirkungsvoll ab. Auf dem schön polierten Tisch standen zwei Gedecke auf kleinen Spitzendecken. Der matte Schmelz chinesischer Porzellane schmeichelte dem Auge. Von der Wand grüßte der Kopf E. T. A. Hoffmanns mit seinem satanischen Lächeln und eine Kopie des berühmten Paganini-Porträts. Daneben stand auf dunklem Marmorsockel eine sonderbare Bronze. Gefion nahm von dem köstlichen Roastbeef in Aspik, weil Michael behauptete, eine solide Grundlage sei die Hauptsache. Einer seiner Aussprüche, die nicht ganz mit seiner Lebensführung übereinstimmten.

Der Apparat spielte. Die Drähte summten. Nachricht auf Nachricht lief ein. In der Kriminalzentrale gewann man allmählich und mit unheimlicher Sicherheit ein Webbild aus all den Fäden, die da bunt aus den verschiedenen Ämtern und aus mancherlei Gauen Deutschlands zusammenliefen.

Die ausländischen Stellen waren nach den heimischen informiert worden, daß ein Van Dyck, ein allerdings bisher unbekannter Van Dyck, der einen Matthias von Spranger in höfischer Kleidung des siebzehnten Jahrhunderts darstellte, gestohlen worden sei und wahrscheinlich demnächst in Hehlerkreisen und später im öffentlichen Handel auftauchen werde. Der Kriminaldirektor Dr. Spahn, dem die Abteilung für Bilderfälschungen unterstand, schüttelte immer wieder mißtrauisch den Kopf. Er war ein zu erfahrener Kriminalist und Jurist, um nicht Zweifel an der Echtheit eines in allen Katalogen und Sammlungen unbekannten Van Dyck zu hegen. So etwas taucht auf und erweist sich dann meistens als eine »Blüte«.

Doch er wollte den persönlichen Bericht des Kriminalkommissars Holst abwarten, der in Rüsternort war und den Tatbestand dort aufnahm.

Wieder stand die gebrechliche Cordula Stahlberg vor dem ernsten Kommissar und sollte über den jetzigen und den früheren Besitzer aussagen.

In der Nacht habe sie ein Huschen auf der Diele und ein Knistern der Treppe gehört, das sei wahr. Aber in diesem Hause sei man ja an so manches gewöhnt; da spuke es oft. Der Kommissar solle man in den Zwölfnächten hier sein, da könne er gut und gern das Gruseln lernen. Auf die Frage, ob die Treppe zuerst von oben nach unten oder umgekehrt benutzt worden sei, antwortete Cordula, sie habe in der Nacht viel mit ihrem Sohn gesprochen und darum nicht genau aufgepaßt. Holst fragte erstaunt, ob der Sohn denn noch lebe, da ihm anders berichtet worden war. Cordula schüttelte mißbilligend den Kopf und sah den Kommissar an, als ob er irre wäre. Dann erzählte sie, daß ihr Sohn lange tot, aber nicht in der Gruft der Herren von Spranger beigesetzt worden sei, obwohl er doch von dem seligen Herrn Gottwalt stamme. Aus solchen Leuten soll man nun eine einwandfreie Zeugenaussage herausholen, dachte Holst grimmig. Um die Alte vertraulicher und schwatzhafter zu machen, fragte er, ob Gottwalt Spranger ein schöner Mann gewesen wäre, was Cordula begeistert bejahte. Besonders in seiner roten Husarenuniform habe er unvergleichlich schön ausgesehen. Inspektor Kraus mischte sich mit der Frage ein, ob Spranger denn Offizier gewesen sei. »Das war er wohl nicht«, meinte sie, »aber er fand sich so prächtig in der Uniform mit dem vielen Gold und dem herrlichen großen Ordensstern darauf. Ins Dorf ist er damit nie gegangen, nur in den Park. Aber zuletzt hat er sie bloß in der Ahnengalerie getragen. Der jetzige Herr, der sollte ihn malen, aber da durfte beileibe keiner in den Ahnensaal rein. Ich hab's doch einmal gesehen, als die Wand offen war, wissen Sie.« Die Alte kicherte, als habe sie einen guten Witz gemacht. Die Beamten horchten auf, ließen sich aber äußerlich nichts merken. »Na, das war wohl fein«, sagte Holst kordial, »daß Sie dem Alten mal ein Schnippchen geschlagen haben und ihm hinter die Schliche gekommen sind.«

Mißtrauisch äugte Cordula zu ihm auf. Es schien, er war zu weit gegangen. Dienerschaftstreue und Respekt vor Herrenrecht siegten hier über alle angetanen Kränkungen. »Schön war er in der Uniform, das muß wahr sein, – wenn er auch unsern Sohn nicht in der Gruft hat beisetzen lassen.«

»Stand oder saß Herr Gottwalt vor Michael Spranger, als der ihn malte?«

Cordula besann sich, meinte, sie habe nur auf einen Husch hineingesehen, dann aber kam die klare Erinnerung: er hatte gestanden, vor einer großen Samtportiere. Sie bestätigte auch, Michael bestimmt erkannt zu haben, der wäre damals immer ganz grau in grau gegangen und nicht zu verkennen gewesen.

»Und wo ist das Bild hingekommen?« Die beiden Beamten schauten gespannt auf die alte Frau. Jetzt wurde es interessant. Cordula sah mit einem verzeihenden Lächeln von einem zum andern: sie habe es nie wieder gesehen, vielleicht stehe es in der Wand.

» In einer Wand kann doch kein Bild stehen«, tadelte Inspektor Kraus.

»Doch, doch. Da wo die Wand offen war, da ist sie auch hohl.«

Die Kriminalisten packte das Berufsinteresse. Sie drängten Cordula die »knisternde« Treppe hinauf und kamen in das Wohnzimmer neben dem Saal. Voll Spannung sahen die Herren auf die Wand, die eine Doppeltür zur Ahnengalerie hatte. Aber die Stelle, wo die Wand offen gewesen war, konnte Cordula nicht finden. Sie wurde immer versponnener, und es kam aus ihr nicht mehr viel heraus. Mürrisch murmelte sie schließlich: »Fragen Sie doch die Gnädige, die ist auch mal in die Wand gegangen.«

»Sie scheinen hier merkwürdig viel gesehen zu haben«, sagte Holst, und es klang wie ein Tadel.

»Viel, ja, aber nichts Gutes.« Damit ging sie.

Daß dieser Michael Spranger-Wendhusen gemalt hatte, das erschien Holst sehr wichtig. Man müßte dem nachgehen. Er meldete es an die Zentrale.

 

Gefion hörte mit wohliger Gelöstheit den Schilderungen Michaels zu, der von seinen Reisen und Erfahrungen, von den wissenschaftlichen Erkenntnissen der letzten Jahre, von geistigen Strömungen, soweit sie ihn interessierten, bunt durcheinanderplauderte und es nicht unterließ, immer wieder zarte kleine Huldigungen für die schöne junge Frau vor ihm einzuflechten. Gefion lehnte in einem der niederen Sofas, während ihre Blicke das lebhafte Mienenspiel, das seine Worte begleitete, interessiert verfolgten. Man mußte ihm gewogen sein. Seine ganze Art nahm etwas von jenem Herrentum an, das zu lenken und zu führen weiß, dessen klug erwogenen Willen die Frau nur zu ihrem eigenen zu machen brauchte. Das war am Ende nicht leicht für eine Frau, die sich ihr Dasein völlig unabhängig gestaltet hatte.

In einem halben Jahre wurde sie neunundzwanzig. Diesmal wollte sie das Leben nicht wieder an sich vorbeigehen lassen. Ganz gewiß nicht. Es kam ja auch unausweichbar auf sie zu. Der Mann da vor ihr liebte sie, mit einer Glut, um die jede Frau sie beneidet hätte. Noch war alles Vorfeldgefecht, aber die Hauptschlacht bahnte sich schon an. Eine Lust, sie hinauszuschieben, mit der Gefahr zu spielen, empfand Gefion innerlich voll Freude.

Genau die gleichen Gedanken, die von der Frau in klarem Dur gespielt wurden, wogten in schwereren Rhythmen und mühsam gebändigtem Moll durch den Mann, der dennoch unbeschwert glücklich war.

Man sprach von dem, was Wert hat im Leben. Jede Zeit hat neue Werte, andere Gefühle und Gesichte als die vergangene, andere Gradeinteilungen und Wertmesser. In großen Intervallen wiederholen sich abgewandelt die Einschätzungen und Urteile, um dann an der Grenze eines Weltalters sich grundstürzend zu ändern. So hatten zu Beginn unserer Zeitrechnung Plato, Apollonius von Tiana und Christus gelehrt und dieser Zeitspanne von zweitausendeinhundert Jahren ihr Signum und Siegel aufgedrückt. Ebenso tiefgreifend ändert sich auch in unsern Tagen das innere Weltbild, die äußere Schau und der ganze Mensch. Zu Beginn des christlichen Zeitalters hatte der Sklave eine Seele bekommen, und es hatte der Begriff des Mitleids Platz gefaßt in den allzu egozentrischen Gemütern jener Tage. Plato hatte die ewigen Sinnbilder alles dessen, was da lebt, erahnt, hatte eine Liebe geschaffen, die nach ihm hieß und ganze Generationen veredelte. In unsern Tagen steigt ein neues Zeitalter herauf, das Träger der großen Harmonie und des Ausgleichs ist. Volksgemeinschaft statt Klassenhaß, Ausgleich statt Überheblichkeit der Herrenschicht und Murren der Leibeigenen. Eine Weltenwende, die große Kämpfe herbeiführen muß, denn das Alte stirbt nicht von selbst, Stürme müssen es brechen.

So sprach Michael, und Gefion hing beglückt an seinem Munde. Das Feuer seiner Beredsamkeit drängte die keimende Erotik zurück. Die großen Gedanken standen im Raum und machten die Menschen andächtig. Eine kluge Frau mag sehr wohl Themen und Gedanken kennen, aber erst wenn der Geliebte sie ihr ans Herz spricht, werden sie durch das Prisma seines Wesens ihr eigenpersönlich und bestrickend. So werden sie Eigentum und unverlierbarer Besitz der Frau.

Von den Gesprächen über die Wertsetzungen kam Gefion auf die Begriffe echt und unecht, die dem jungen Geschlecht von heute obenan stehen, weil es gegen allen Stuck, gegen Sentimentalität und heuchlerische Tünche mit ganzem Einsatz zu Felde zieht. Sie fragte, warum er sich neulich so leidenschaftlich für das Recht, Bilder zu fälschen, eingesetzt habe.

Es klingelte. Erst nach mehrmaligem, stets heftiger werdendem Läuten öffnete Michael, sehr ungehalten über die Störung. Ein Herr stand draußen und trat sofort geschickt in die Tür.

»Kriminalpolizei!«

Ein halb unterdrückter Ausruf. Ein paar Augenlider schlossen sich für Sekunden, dann lud eine Handbewegung den Herrn ein, näher zu treten. Der Beamte zeigte seine Dienstmarke. »Sie sind Herr Michael Spranger? Gut. Wir bitten Sie wegen Erstattung einer dringenden Zeugenaussage auf die Kriminalpolizei.«

»Gewiß. Gern. Wann soll das denn sein?«

»Es ist am besten, wenn Sie sogleich mitkommen.«

Michael verfärbte sich, und Gefion stieß einen abgerissenen Ruf aus. Der Beamte wandte sich höflich zu ihr und äußerte sein Bedauern über die Störung. Dann bat er sie um ihren Ausweis, da er sich ihre Personalien notieren wollte.

»Worum handelt es sich denn?« fragten Michael und Gefion gleichzeitig.

»Das erfahren Sie dort. Vielleicht werden Sie in einer Stunde wieder hier sein.«

»Mein Wagen steht vor dem Haus. Können wir ihn benutzen?«

»Aber gern. Dann geht die ganze Angelegenheit noch rascher. Bitte, nach Ihnen«, sagte er an der Tür und ließ Michael nicht aus den Augen, der sich in Gegenwart des Beamten nur förmlich von Gefion verabschiedete.

Merkwürdig, dachte diese, daß man am Abend einen Menschen aus seiner Wohnung abholt, nur um eine Zeugenaussage von ihm zu bekommen. Sie zog ein Buch aus dem niedrigen Regal an der Stirnwand des Schreibtisches, legte es aber bald wieder aus der Hand, da sie sich vergeblich zu konzentrieren suchte. Was mochte dieser merkwürdige Zwischenfall nur zu bedeuten haben? Sie sprang auf und begann unruhig in dem großen Raum hin und her zu gehen. Wie lang einem die Zeit wurde, wenn man auf jemanden wartete! Sie sah Michael vor sich, wie er vorhin gesprochen und sich bewegt hatte, und auf einmal hafteten ihre Gedanken bei der Verwunderung, die sie beschlichen, als sie mitten in einer fesselnden Erzählung Michaels der seltsamen, ungewöhnlichen Beweglichkeit seiner linken Hand gewahr geworden, deren Unruhe und Geschmeidigkeit ihr nie so aufgefallen war wie heute. Wie in einem dämonischen Zwang sah sie immer wieder diese schöne, langfingerige, übergewandte linke Hand, die sich wie ein Wiesel zusammenduckte, um dann wie ein Raubtier anzuspringen.

Sie hielt im Hinundhergehen plötzlich inne. Ein schreckhafter Einfall weitete ihre Augen. Vor sich sah sie einige Bilder der Sprangerschen Galerie, die alle wirkten, als ob sie von einem Linkshänder gemalt seien. Diese Bilder waren ihr nicht wieder aus dem Sinn gekommen, hatten eine magische Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Da war ein Geheimnis, das sie lösen mußte. Ein Geheimnis aber, das nach ihrem Herzen zu greifen drohte. Sie rief, ihre Hemmung abschüttelnd, Rüsternort dringend an. Hier mußte sie ihre bürgerliche Empfindlichkeit besiegen, durfte nicht kleinlich und zimperlich sein. Sie überwand ihre Scheu, als sie Frau Jacobas verwundert zurückhaltenden Ton hörte, und fragte tapfer, ob sie noch einmal nach Rüsternort kommen dürfe, es handle sich um die Bilder. Frau von Tirschenreuth, die sich mit gegebenen Situationen schnell und geschickt abzufinden wußte, bejahte liebenswürdig.

Gefion floh aus Michaels Wohnung. Sie floh ihn zum zweitenmal. Aber es wäre ihr in dieser Stunde nicht möglich gewesen, ihm zu begegnen.

* * *

 


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