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Die Kriminalzentrale hatte sich bereits in die Bearbeitung des Falles Kapsdorf eingeschaltet und festgestellt: Der Wach- und Schließmann Schüller fand auf seiner Morgenrunde die Haustür unverschlossen und sah aus dem Privatkontor, dessen Tür nur angelehnt gewesen, einen Lichtschein kommen. Schüller war in das Zimmer hineingegangen und hatte Kapsdorf, den er gut kannte, anscheinend tot auf seiner Couch gefunden. Das war der Tatbestand. –

Die diensthabende Mordkommission, deren Leiter Kriminalrat Fabricius war, bestieg sofort nach dem Eintreffen der Meldung die Wagen und fuhr durch den kühlen, dämmernden Morgennebel im schärfsten Tempo nach der Oschatzer Allee. Die Signalhupe der Polizeiwagen schrillte schaurig durch die aufgeschreckten Straßen, in denen der erste Morgenverkehr die Ouvertüre des kommenden Tages spielte, um bald in das Fortissimo des jagenden Großstadtlärms überzugehen.

Fabricius unterhielt sich mit dem Sachbearbeiter, der neben ihm saß. Beide wunderten sich, daß Kapsdorf zurückgekommen war, denn als man ihn am gestrigen Tage wegen der Leda-Fälschung hatte einvernehmen wollen, da war er mit unbekanntem Ziel verreist gewesen. Man hatte also schon auf Flucht getippt, aber nun war der Mann am späten Abend zurückgekommen. Nichts ahnend? Das konnte nicht gut möglich sein. Dazu war dieser alte Fuchs viel zu hellhörig. Daß er sich anderseits in der Bilderangelegenheit unschuldig gefühlt haben könnte, war doch eigentlich auch nicht denkbar. Jedoch, es gibt immer Überraschungen, es mußte wohl irgendwie an dem sein. Denn wieso hätte sonst der Schuldige sich aus seinem gesicherten Untertauchen wieder voll ins Licht der Öffentlichkeit gestellt?

Der Wagen fuhr vor der Oschatzer Allee 13 vor. Die Beamten stiegen aus. Der vom nächsten Revier telephonisch sofort beorderte Wachtmeister meldete, daß niemand mehr das Haus betreten habe. Der Portier stand aufgeregt dabei; seine Frau versuchte zu Wort zu kommen. Nun trat der Leiter der Mordkommission, Fabricius, nachdem er seine Schuhe mit Riemen umwickelt hatte, damit seine Spur sich gegen die vorhandenen abzeichne, in das Haus. Das gleiche tat der Polizeiarzt, als er ihm ein wenig später folgen durfte. Zunächst galt es festzustellen, ob es sich hier um einen Fundort oder um den Tatort handle. Vielleicht war Kapsdorf außerhalb Berlins ermordet worden und der Mörder hatte nur die Leiche in der Nacht nach hier gebracht, um so die Aufdeckung des Verbrechens zu erschweren. Das würde mit der gestrigen Flucht gut in Übereinstimmung zu bringen sein.

Fabricius betrat das Privatkabinett Kapsdorfs und vermied, an der Schwelle Spuren zu hinterlassen, die etwa vorhandene stören könnten. Er schaltete das Licht voll ein. Auf der Couch lag Carl Kapsdorf. Das Gesicht war fahl, gelblich, die Kinnlade ein wenig herabgesunken. Vielleicht wirkte es dadurch ins Faunische verzerrt. In den aufgerissenen Augen standen noch das Grauen und die Angst. Speichel war ihm in den Spitzbart geträufelt.

An der rechten Schläfe hatte er eine dunkel umrandete Wunde, die länglich und gezackt war. Schwärzliches Blut war bis zum Ohr gelaufen und geronnen. Die linke Hand hatte sich über dem Herzen in den Anzug verkrampft, die rechte war zur Seite des Körpers auf der Couch zur Faust geballt. Der Todeskampf mußte sehr schmerzvoll gewesen sein, denn die Nägel hatten sich tief in das Fleisch gebohrt. Auf dem Fußboden lag die zerbrochene Brille Kapsdorfs. Daneben eine antike Bronzefigur, deren unterer Rand zum Teil ausgebrochen und darum wie unregelmäßig gezahnt wirkte. An diesem Rande klebte Blut. Fabricius ließ den Arzt zu der Leiche treten, der den Tod feststellte. Eine genauere spätere Untersuchung würde ergeben, wie lange der Mann schon tot war.

Der Sachbearbeiter Kriminalinspektor Tettenborn wurde zugezogen und die Frage erörtert, ob Leiche und Tatort unverändert wären, was den erfahrenen Kriminalisten aus mancherlei Gründen unwahrscheinlich dünkte. Besondere Spuren eines stattgehabten Kampfes konnten nicht gefunden werden. Hier sah eigentlich alles zu ordentlich aus für einen gewaltsamen Tod.

Das mußte auch Fabricius zugeben, der mit dem Kriminalinspektor nicht einer Meinung war. Dieser nämlich führte aus, daß der Schlag mit der Bronzefigur nicht so heftig gewesen sein dürfte, daß dadurch der Tod eingetreten sein könne. Der Arzt konnte auch bei der äußeren Untersuchung keine Schädelzertrümmerung feststellen.

Die Lage der Leiche war seit der Auffindung noch nicht verändert worden. Nun machte der Beamte vom Erkennungsdienst, der sein Gerät inzwischen bereitgestellt hatte, die ersten Aufnahmen von dem Tat- oder Fundort, was noch immer nicht entschieden war, alsdann auch von mehreren Seiten von der Leiche, die auch von oben photographiert wurde. Dann kamen die wichtigsten Messungen. Wesentliche Punkte, Abstand des Kopfes von der Kante der am Boden liegenden Bronzefigur und anderes wurden markiert und die Messungen mitphotographiert. Von der Verletzung wurde eine Großaufnahme gemacht.

Der Sachbearbeiter glaubte, daß die Tat außerhalb geschehen und die Leiche hierher transportiert sein könne, und zwar von keinem zünftigen Verbrecher, denn der würde am Ort Spuren eines Kampfes vorgetäuscht haben, um im Falle seiner Festnahme von Kampf, Notwehr und Totschlag reden zu können. Der Polizeiarzt hielt den Schlag nicht für tödlich, wahrscheinlich aber habe der Überfallene durch die Schädelverletzung und den Schreck einen Herzschlag bekommen, an dem er krampfartig verstorben sei. Die Anzeichen wiesen darauf hin. Alles Nähere würde sich dann durch die gerichtsärztliche Obduktion ergeben.

Dem stimmte der Sachbearbeiter zu und blieb bei seiner Meinung, dies hier wäre arrangiert, wäre Fundort, nicht Tatort. Dafür sprach auch die verhältnismäßig nur geringe Menge des ausgetretenen Blutes.

Fabricius hatte dem stumm zugehört. Nun nahm er von einem altmodischen Postament, das halb seitlich hinter der Couch stand, ein kleines Stück Bronze und hielt es vorsichtig an die blutverkrustete Kante der auf dem Boden liegenden Figur. Die Beamten vom Erkennungsdienst und von der Ermittlung, die schon leise über den Fall ihre Meinungen austauschten, sahen auf und bestätigten die Ansicht ihres Leiters: dies hier war der Tatort.

Das Stück Bronze, das nun auch photographiert wurde, erbrachte den Beweis. Es paßte an die Bruchstelle. Die Figur war heruntergerissen, mit ihr war das Opfer erschlagen worden. Sonnenklar. Sofort mußten die Fingerabdrücke festgestellt werden.

Der Kriminalrat konnte seinen jungen Beamten nicht beipflichten. Da die Figur und ihre Lage sowohl photographiert wie gekennzeichnet waren, konnte er sie jetzt aufheben. Diese Figur steht auf dem leichten Postament sehr unsicher. Sie wackelt. Bei dem geringsten Stoß droht sie herabzufallen. Ich bin der Meinung, daß Kapsdorf auf die bereits am Boden liegende Figur aufgeschlagen ist. Wer den Ohnmächtigen auf die Couch legte, das festzustellen, wird unsere Aufgabe sein. Ebenso, wodurch alsdann der Tod eingetreten ist.«

Die Herren vom Ermittlungsdienst konnten dieser Ansicht ihres Vorgesetzten nicht beipflichten.

Die Hände Kapsdorfs, die sehr hart verkrampft waren, wurden unter Zuhilfenahme einer Lupe untersucht, ob an ihnen etwaige Kampfspuren oder irgendwelche Stofffasern einer anderen Kleidung zu finden wären, die Anzeichen und Rückschlüsse zuließen, mit was für einem Täter man es zu tun habe. Leider fand sich aber trotz peinlichster Untersuchung nicht das geringste. Ein dunkler Fall. Man kam nicht recht weiter.

Der Sachbearbeiter warf nun die Frage bezüglich Selbstmord auf. Kapsdorf wußte um die Entdeckung seiner Verbrechen, mußte mit Verhaftung, Verurteilung, langer Zuchthausstrafe rechnen. Warum sollte dieser Mann, der sich stets räuberisch alle Vorteile zuzuschanzen wußte, nicht sich auch räuberisch sein Leben nehmen, ehe die Polizei zugreifen konnte? Einer der Männer stimmte dieser Meinung zu, der Beamte vom Erkennungsdienst aber hielt das für ausgeschlossen. Der Arzt, der nunmehr die Leiche genau untersuchte, stellte fest, daß der Tod vor etwa sieben Stunden, also gegen elf Uhr eingetreten sei. Todesursache wäre Herzkrampf, wie er bereits vorausgesehen habe.

Fabricius machte ein bedenkliches Gesicht.

Der Beamte vom Erkennungsdienst rekonstruierte jetzt den Fall, wie er sich, seiner Meinung nach, abgespielt habe. Ein Mann bekam Streit mit Kapsdorf. Vielleicht hatte er auch eine alte Rechnung mit ihm, kurz, er ergriff in seiner Wut die Figur am Oberkörper und schlug zu. Der Mann war Linkshänder, denn der Schlag wurde wohl kaum mit beiden Händen getätigt, da hätte er eine größere Wunde verursachen müssen, und der Schlag wurde von links ausgeführt, denn die Zacken des unteren Randes sind ein wenig von links nach rechts gerutscht.«

»Ausgezeichnet, Quade; das war mir noch entgangen. Aber Sie haben recht«, unterbrach Fabricius seinen Helfer. Der schilderte nun, wie der Täter wahrscheinlich erschrocken gewesen sei, da Kapsdorf sofort wie tot zusammensackte. »Für das Zusammensacken spricht eine Falte im Teppich, auch da haben Sie recht«, unterbrach Kriminalrat Fabricius zum zweiten Male. »Und dann legte der Täter den Toten auf die Couch, meinen Sie?«

»Gewiß, Herr Kriminalrat.« Auch die übrigen Beamten pflichteten dieser Darstellung bei. Nur Fabricius war mit alledem nicht einverstanden. Er meinte, das alles seien nur Teilwahrheiten, die Sache müsse noch anders zusammenhängen. Dann wandte er sich an den Arzt und fragte, ob er Giftspuren feststellen könne. Der Polizeiarzt verneinte. Der ältere der Ermittlungsbeamten meldete sich zum Wort: er halte nach all dem Gesagten einen Selbstmord doch für möglich; der Mann habe Gift genommen, sei gestolpert, habe die Figur heruntergerissen, sei dann auf sie gestürzt, habe sich noch aufraffen können und sei auf die Couch zurückgesunken, wo er starb. Die andern lächelten.

Nun wurde zunächst der Wachmann Schüßler vernommen zu der wichtigen Frage, ob am Tatort alles noch so wäre, wie er es gesehen hatte, oder ob in der Zwischenzeit bis zum Eintritt der Mordkommission Veränderungen irgendwelcher Art an der Leiche selbst, beziehungsweise an der Umgebung oder sonst in diesem oder andern Räumen vorgenommen worden wären?

Schüßler, der sich gewichtig vorkam und sich selbst so etwas wie ein Polizeier höherer Grade dünkte, schaute mit ernster Miene überall umher, konnte aber zu seinem Leidwesen keine Veränderungen wahrnehmen. Da dachte er mit seiner Phantasie nachzuhelfen, doch Fabricius las ihm die Süchte aus den Augen ab, dankte für seine weiteren Bemerkungen und befahl, den Hauswart in den Hauptgeschäftsraum zu rufen, wohin sich die Beamten alsdann begaben.

»Portier Bruno Albert«, stellte sich ein aufgeregter Mann vor, der sichtlich vor Übereifer und Mitteilsamkeit zu platzen drohte. »Ick habe wichtige Aussagen zu machen, Herr Kommissar. Wat meine Frau is, die is Ihnen schon siebzehn Jahre hier in dem Hause, dat heeßt, da gehörte es noch anständigen Leuten, nich solchen, die nachher dafür ermordet wer'n, was se vorher sich ingebrockt ham. Wat der olle Kaps war, det war een Luder, Sie können es glauben, Herr Kommissar. Wat sin de armen Leute manchmal heulend aus dem Hause gekommen! Aber dene Reichen, den hat er den A...«

»Schon gut, Herr Albert. Und wie lange sind Sie selbst hier?«

»Nu so'n Stücker neun oder wenn mans janz genau nimmt, erst acht Jahre. Ick hab nämlich meine Anna da erst geheiratet, wie sie dat zweete Kind bekam. Da sin wer gleich uffs Standesamt, Herr Kommissar, man weeß doch, wat sich gehört. Na, und weil wir nu verheiratet waren, da habn wir ooch die feine Portiersstelle hier bekommen bei dem Herrn Kommerzienrat, der hier früher wohnte, ehe der Bilderschieber sich det Haus ergaunert hat; wissen Se, wenn ick auspacken wollte ...«

»Da ständen wir noch heute abend hier, ganz recht«, unterbrach ihn Fabricius. »Zur Sache. Was haben Sie gestern abend beziehungsweise nachts für Beobachtungen gemacht? Oder haben Sie nichts Besonderes wahrgenommen?«

»Aber natürlich hab ick. Ick sagte jleich zu meiner Ollen, wat de Anna ist: Wenn det man gut nausgeht! So wie die sich gestritten haben. Bei so ner Unterhaltung, da fällt bei uns der Kalk von die Decke, det können Sie glauben, Herr Kommissar«, er zuckte die Achseln, »oder meinswegen ooch nich. Mir schiet ejal.«

»Sie werden hier amtlich vernommen, enthalten Sie sich gefälligst solcher Ausdrücke. Sagen Sie kurz und klar, was Sie gehört haben.« Man merkte Kriminalrat Fabricius an, daß seine Geduld zu Ende ging. Bruno Albert fuhr es in die Knochen, und er berichtete, etwas kleinlaut geworden, was er gehört und gesehen hatte. Gegen zehn war Kapsdorf nicht mit seinem Wagen, sondern mit einer Taxe nach Hause gekommen, hatte aufgeschlossen, ihn nur so im Vorbeigehen gegrüßt, doch dann von der Flurtür zurückgerufen, daß niemand hereingelassen werden solle. »Det war mir nur recht, denn oft habe ick det nachts uffsitzen müssen. Un richtig, so halber elfe rum, wie wir uns gerade in die Falle hauen wollen, da kommt doch wieder mal die ›Graue Eminenz‹, der immer nur des Nachts gekommen war früher. Ick staune. Er klingelt ooch wie nich jescheit, und ick öffne natürlich und laß ihn rin wie jewöhnlich. Wie könnt ick denn denken, dat det een Mörder war. Een feiner Herr, der nie nich mit de Trinkgelder jeknappst hat, un nu so wat!«

»Sie würden den Mann also stets wiedererkennen?«

»Aber natürlich. Der Olle machte ooch sofort Krach mit mich, dat ick den Herrn injelassen hätte. Dann zankte er sich aber jleich mit die Graue Eminenz, der es ihm aber nich schlecht gesteckt hat. Der konnte brüllen, dat es durch das ganze Haus gellte. Die beeden ham so geschrien, dat wir reen nischt verstehen konnten, leider. Aber dann sin se ins Privatbüro gegangen, und da versteht man nur noch wat, wenn man det linke Ohr an de rechte Wand von unsere Schlafstube legt. In unsere Wohnstube is nischt zu verstehen, obwohl die doch jenau drunter liegt. Is dat nich komisch? Jrade wie meine Olle ihre Schlappen in de Luft wirft wie so'n Feuerwerk, det kann se nich lassen, un ins Bette kippt, da höre ick, wie die beeden da oben sich wejen eenes Mächens streiten, wejen eene Liddy mit nem Schwan oder so wat Verrücktes.«

Fabricius horchte auf. »Dieser Ausspruch ist außerordentlich wichtig. Den werden Sie später zu beeiden haben. Es wurde also von einer Leda mit dem Schwan gesprochen? Wissen Sie das ganz genau?«

»Richtig. Leda hieß det Mächen. Sagen Sie bloß, wat macht die mit 'm Schwan?«

Fabricius überhörte die Frage und gab Befehl, eine Verbindung mit der Bilderfälschungszentrale herzustellen.

Der Hauswart schilderte, wie dann das Gespräch leiser geworden sei und sie beide eingeschlafen wären, denn wenn Kapsdorf noch was gewollt hätte, so hätte sich ja der in der tiefsten Nacht nich geniert, 'n Menschen aus dem besten Schlaf zu klingeln. Er habe auch ein späteres Türenzuschlagen und Fortgehen nicht gehört. Seine Frau, die nunmehr auch vernommen wurde, bestätigte die Angaben ihres Mannes. Alle Aussagen waren protokolliert worden. Inzwischen trafen auch die Angestellten der Kunsthandlung ein und mußten auf ihre Einvernahme warten. Die einzelnen wurden voneinander getrennt, was den Schwestern Mangelin unangenehm zu sein schien.

Die Bilderfälschungszentrale meldete sich am Apparat. Fabricius unterrichtete den Beamten in seiner kurzen, prägnanten Weise. Dann fragte er, wer die Graue Eminenz sei. Zu seiner sichtlichen Befriedigung erhielt er die Antwort, das wäre Michael Spranger, der großartige Bilderfälscher, der die Sprangersche Ahnengalerie gemalt habe und wahrscheinlich auch der Maler der sensationellen »Leda mit dem Schwan« von Correggio wäre?

Fabricius dankte. Die Spuren begannen sich zu decken. Täter und Tatgrund schienen gefunden zu sein. Jetzt galt es, Sprangers habhaft zu werden. Fabricius sprach mit der zuständigen Dienststelle und veranlaßte das Nötige, um Michael Spranger in seiner Berliner oder Rüsternorter Wohnung zu verhaften. »Ich habe hier noch einige wichtige Vernehmungen«, schloß Fabricius seine Anordnungen. Der Fall schien sich rasch aufzuklären und abzurollen. Nicht immer war es so leicht. Fabricius rief die Prokuristin Ottgebe Mangelin heran und fragte sie nach den Verhältnissen im Betrieb aus, erwähnte, daß sie die Aussage verweigern könne, wenn sie glaube, sich selbst oder ihre Schwester zu belasten. Doch Ottgebe Mangelin erklärte frei heraus, daß sie nichts zu verbergen habe. Nach dem Personal gefragt, gab sie alles klar an. Sie verwunderte sich, daß der Herr des Kundendienstes, Baron Anton von Czerna, heute gar nicht komme; seine Dienstzeit beginne halb zehn, und so spät sei es doch längst schon geworden. Sie gab auch zu, den Maler Ignaz Räscher zu kennen, der die Übermalung des Leda-Bildes besorgt habe. Von Schiebungen mit gefälschten Bildern jedoch wollte sie nicht das Geringste wissen. Das habe der Chef wohl privat und geheim abgemacht. Diese Dinge kümmerten Fabricius im Augenblick weniger. Aber er schickte Beamte zu einer Haussuchung in die Wohnung der Schwestern Mangelin, ehe sie etwas verbergen oder wegsenden könnten, denn ihm schien, als wäre diese Ottgebe, die so lange bei Kapsdorf war, doch eingeweihter, als sie zugab. Der anonyme Brief an den Zolldirektor in Neuyork fiel ihm ein. Er ließ nach einer Schreibmaschine ältesten Datums besonders fahnden.

Während er nun Annette vernahm, die einen völlig verstörten Eindruck machte und aus der nur schwer das Einfachste herauszufragen war, so daß sie keineswegs unverdächtig erschien, kam ein Anruf aus der Stadt, daß Michael Spranger nicht in seiner Wohnung sei, wohl aber heute in den ersten Morgenstunden mit seinem Wagen, der einen scheußlichen Lärm gemacht habe, weil der Motor nicht anspringen wollte oder der aufgeregte Fahrer sonst ein Versehen gemacht habe, davongebraust sei.

Daß Annette Mangelin in die Geschäftsgeheimnisse und des ganze Gebaren nicht sonderlich eingeweiht war, wurde leicht offensichtlich. Fabricius entließ sie vorläufig und wandte sich dem Hausdiener Lehnsmann zu, der sich allerlei Gedanken gemacht hatte über den Laden und seinen Chef, aber nie hinter die Kulissen hatte gucken können. Der Olle wäre viel zu gerissen gewesen, meinte er. Die Ottgebe sei immer gleichmäßig und die Seele vom Geschäft. Sie habe sich rein tot gearbeitet für den Herrn Kapsdorf; was die jüngere Schwester wäre, aus der sollte ein anderer klug werden. Erst habe sie immer gekalbert und gekichert, dann sei sie wie eine verklärte Sonne herumgelaufen, aber beileibe hätte sie nie etwas verlauten lassen. Zugeknöpft wie eine Gräfin wäre sie immer gewesen. Später hätte sie eines Tages gefehlt und sei darauf als eine ganz Veränderte wiedergekommen, über Nacht hager geworden, mit dicken Schatten unter den Augen, und seitdem habe sie verschiedentlich Drohreden gegen Kapsdorf ausgestoßen, was ihr die Ottgebe einmal verwiesen habe. Diese Ausführungen waren interessant, aber nicht gerade aufschlußreich. In der Wohnung der Grauen Eminenz sei er nie gewesen, er kenne ihn auch nicht, da dieser meist nur nachts hergekommen sein sollte. Die Untersuchung der Bronzefigur auf Fingerabdrücke war durchgeführt. Es ergab sich, daß keinerlei Fingerabdrücke von Michael Spranger zu finden gewesen waren, wohl aber ein schwacher des Malers Ignaz Räscher. Die übrigen Fingerabdrücke schienen von Kapsdorf selbst und Ottgebe Mangelin zu stammen. Man hatte vom Personal natürlich inzwischen Fingerabdrücke genommen.

Still und sehr nachdenklich fuhr Fabricius in sein Amt.

*

Ein Auto raste die Rampe von Haus Rüsternort herauf und hielt schurrend mit quietschenden Bremsen. Gefion fuhr aus einem unerquicklichen Hindämmern auf, sprang von der Couch, rannte zur Tür und schloß sie auf.

In dem Augenblick wurde die Tür von außen aufgerissen. Ihre Hand, die noch auf der Klinke lag und in unsinniger Angst festhielt, zog ihren Körper mit, und sie wäre auf Michael getaumelt, wenn der nicht entsetzt und mit allen Zeichen der Verstörtheit vor ihr zurückgewichen wäre. Mit schreckhaft weiten Augen starrte er sie an. »Du hier?! So ein Wahnsinn!«

»Michael, mein Michael, Gott sei Dank, daß du da bist. Ich habe mich so geängstigt.« Sie machte den scheuen Versuch, sich an seine Brust zu lehnen, aber es blieb bei einer halben Bewegung, denn er sah sie feindselig von der Seite an und schob sie weg.

Einen Augenblick stand er regungslos. Nur seine Augen irrten verstört umher. Dann, als gäbe es ihm einen Stoß, raste er aus dem Raum in sein angrenzendes Schlafzimmer. Die Tür wurde wie in höchster Angst zugeworfen, der Schlüssel knirschte im Schloß. Knirschte ein zweites Mal.

Gefion sank fassungslos auf einen Stuhl, der unter dem unsicheren Hinsetzen schwankte. Ihr Gesicht wurde hart. Versteinte. Dann liefen über diese Maske eines Menschen die Tränen. Körper und Gesicht waren stumm und völlig unbewegt. Keine Gebärde und keine Miene des Schmerzes linderten die furchtbare Not, die hinter dieser erstarrten Schale geisterte. Nur die Tränen rannen, liefen langsam über die Backe, tropften auf das Kleid und auf die Hände im Schoß, ohne daß dieses weinende Wesen von alledem etwas wahrnahm. Ein Marmor. Eine Mater dolorosa, aus der die Tränen perlen.

Der Anblick hätte Michael umgeworfen.

 

Manchmal lauschte Spranger aus seinem Schlafzimmer, in dem hastigen Herumhetzen einen Augenblick verharrend, auf die ihm rätselhafte Stille im Herrenzimmer nebenan. Doch er hatte keine Zeit, sich darüber Gedanken zu machen, warf die Kleider vom Leibe, riß die Heidesachen aus Schrank und Kommode, zog sich fieberhaft um. Halb angekleidet, schoß er zum Waschtisch, goß sich Wasser über den Kopf, änderte die hochgekämmte Frisur, änderte noch einmal, kämmte sich das Haar in die Stirn, riß sich so heftig einen Scheitel, daß es weh tat, stöhnte auf, fuhr herum. Ihm war, als habe er in der Halle ein Geräusch gehört. Diese Gefion würde ihn doch nicht aufzufangen versuchen! Unstet rannte er bald hierhin, bald dorthin, packte allerlei in seinen Rucksack, riß einiges wieder heraus, konnte das Scheckbuch auf den Namen Wendhusen nicht finden. Doch da lag es zuunterst im Rucksack. Wahnsinn, Wahnsinn das Ganze! Fort, fort, ehe es zu spät war!

Er warf den Rucksack um, als wolle er eine Fußwanderung machen – ohne Proviant? Er konnte in die Speisekammer gehen. Aber das Personal ... Unentschlossen fuhr er sich über die Stirn. Schweiß netzte die Hand. Er schüttelte die Nässe ab. Betrachtete tiefsinnig einen Lehnstuhl. Zusammenbrechen. Alles über sich ergehen lassen. Auslöschen.

Nie! Freiheit finden, halten, sichern! Durch! Mit einem Satz sprang er zur Tür. Leise drückte er die Klinke herab, aber sie gab doch einen feinen Ton. Er bebte vor Zorn. Nur nicht ein heulendes Mädel jetzt.

Er schlich sich in die Halle. Eben durchbrach die Sonne das graue Gewölk, schwarze Wolkenfetzen wanderten in einem trägen Wind über den Horizont. Ein Sonnenstrahl drang durch das äußerste rechte Fenster in die Halle; die schwarzweißen Fliesen leuchteten einen Augenblick unangenehm blendend auf.

Warum ging er nicht weiter? Was stand er wie gebannt? Es kam auf jede Sekunde an. Jedes Verweilen konnte ihn die Freiheit kosten.

Das Licht ward zu einer gleichmäßigen, wohltuenden Helle.

In ihr stand ein Mädchen. Ein schlankes, großes Mädchen in einem beigefarbenen Kostüm, alles an ihr wirkte ganz hell, selbst die Russenstiefel an ihren schmalkleinen Füßen, die etwas auswärts standen, waren von derselben hellen Farbe. Das Mädchen war nicht hübsch. Aber um das rötliche Haar leuchtete eine Sonnenaureole. Michael sah eine klare, gerade Nase und darüber eine schöne Stirn, hinter der ein seltsamer Reichtum wohnen mußte.

War er wahnsinnig geworden? Fort, fort!

Wachte der Maler in ihm auf, um ihm einen vernichtenden Streich zu spielen? Er selbst nahm ja das alles nicht wahr. Sein eigentliches Ich sah dieses Mädchen nicht. Sah es nicht, bis sein unsteter, geängstigter Blick einmal an den Augen des Mädchens vorüberjagte und alsdann langsam, wie magisch gezogen, zu diesen Augen zurückkehrte.

Tiefblaue Augen von gewaltiger Kraft. Der blitzende Blick eines königlichen Geistes.

Michael stand noch immer unverändert. Langsam beugte sich jetzt sein Oberkörper vor. Er wurde angesogen von diesem überirdischen Blick. Solchen Eindruck mochte einst ein Mensch empfangen haben, der einer Heiligen in ihrer Entrückung begegnete.

Er hatte von menschenwandelnden Augenblicken gehört.

»Letzte Weisheit ist wie Gott das All-Eine still.«

Die Worte des Mädchens stehen im Raum, wie sie im Licht.

Michael fährt sich über die Augen, reißt den Rucksack von der Schulter und stürmt zum Ausgang. Noch einmal schrickt er zusammen, sieht sich in der Tür mit fassungslosem Erstaunen um. Ein zweites Wort klingt leise zu ihm herüber.

Das Mädchen geht aus der Sonne, schreitet in das rückwärtige Dunkel der Halle.

Die Eingangstür klappte hinter Michael zu. Er sprang in seinen Wagen.

*

In der Abendbesprechung auf der Kriminalzentrale stand als Wichtigstes der Mord an dem Kunsthändler Kapsdorf zur Erörterung.

Nach den bisherigen Ermittlungen schien Michael Spranger, der Maler, Schriftsteller und Fälscher, der Täter zu sein. Kriminalrat Fabricius hatte in seiner ernsten, manchmal karg-gemessenen Art vollständigen Bericht erstattet. Der Fall wurde von ihm psychologisch aufgebaut. Spranger war durch seinen Onkel und durch Kapsdorf auf die verbrecherische Bahn gelockt worden.

»Es scheint, daß er durch Beide große Gewinne erzielt und ganz wie ein verschwenderischer Künstler gelebt hat, er war ein veränderlicher, schwacher Charakter. Zunächst hat er nur Freude an seiner Geschicklichkeit gehabt, dann ist die Gier nach Geld hinzugekommen, er hat nicht widerstehen können, und schließlich beging er Fälschung auf Fälschung. Doch ein Rest von Haltung und Anstand hinderte ihn, die Bilder zu signieren und ihnen damit den betrügerischen Stempel scheinbarer Echtheit aufzudrücken. Gegen das Signieren hat er sich mit eingeborenem Selbsterhaltungstrieb gewehrt, hat vielleicht auch nie eine Signatur nachgeahmt und auf seine Kopien oder seine den alten Meistern angeglichenen Bilder gesetzt, er wollte so dem Zuchthaus entgehen. Da erfuhr er, daß Kapsdorf, der seine Bilder als echte alte Meister verschob, diese signierte. Deswegen kam es alsdann zum Streit, und die amerikanische Sensationsangelegenheit mit dem Correggio gab den letzten Anlaß zum Ausbruch der Feindseligkeiten. Es ging hart auf hart. Der Hauswart hat heftigen Streit und Worte über die Leda gehört, der Mann erfindet so etwas nicht. Er hat Spranger als die früher oft nächtens kommende ›Graue Eminenz‹ erkannt; das eminente Können der ›Grauen Eminenz‹ haben die Kollegen von der Bilderfälschungszentrale vorhin klargelegt. Vielleicht war das Geschehen mehr Totschlag als Mord. Irgend etwas sträubt sich in mir, diesen Michael Spranger als den Mörder anzusehen. Dennoch müssen natürlich die begonnenen Fahndungen fortgesetzt werden. In Rüsternort sind die Beamten ja leider zu spät gekommen. Es lag dienstliche Abhaltung vor.«

Der Chef bedankte sich für die Umsicht und den klaren Vortrag. »Wir kennen Ihre Gewissenhaftigkeit, lieber Fabricius, und schätzen sie. Aber in diesem Falle gehen Sie wohl zu weit. Alles weist auf die Täterschaft des Michael Spranger hin. Der Baron Czerna hat sich heute morgen selbst gestellt. Sein Alibi für die Mordnacht erscheint einwandfrei, nicht wahr? Danke. Also kommt der nicht in Frage. Den Maler Ignaz Räscher haben wir festgesetzt. Die Verhöre ergaben kein belastendes Material. Der Fingerabdruck auf der Bronzefigur erscheint alt und für das Zupacken, um einen Totschlag auszuführen, zu schwach. Die besagte Nacht war er bei einem Straßenmädchen, nicht gerade erstklassiges Alibi, aber da auch noch zwei – sagen wir mal – Kunden seine Anwesenheit bestätigen, so scheidet er doch wohl auch aus. Bei dem Kapsdorf, den ich einmal persönlich kennenlernte, hatte ich nicht den Eindruck, als habe er sich im Leben unnötig Todfeinde gemacht. Er war eine verspielte Natur, dem Jeu ergeben in jeder Richtung. Es war ihm ein unstreitig-königlicher Genuß, seine gefährlichen Fälschungen und Nachahmungen zu sammeln. An Spielereien großartiger Mechanik hatte er seine Freude wie das 18. Jahrhundert. Der Mann wollte das Leben mit einer verteufelten Kennerschaft genießen, die aber alle harten Zusammenstöße vermied. Also: ein Stubenmensch, dessen Kennzeichen Vorsicht und Feigheit war. Solch ein weicher Mensch macht sich wissentlich keine Feinde.« Nun wurde noch einmal alles durchgesprochen, was schon geschehen war und was noch geschehen mußte, um den mutmaßlichen Mörder dingfest zu machen. Großfahndung im ganzen Land wurde angeordnet. Durch Rundspruch wurden alle Polizei- und Gendarmeriestationen, die Bahnpolizei und Forstbehörden verständigt; die motorisierte Verkehrsbereitschaft wurde eingesetzt und die Alarmierung der Autosperrketten in die Wege geleitet, in den Teilen Deutschlands, die für die Flucht Michael Sprangers in Betracht gezogen werden konnten. Er mußte in den angrenzenden Bezirken, die er heute erreicht haben konnte, dem Fahndungsdienst in die Hände fallen. Zur weiteren Sicherung wurde die Einwohnermeldekartei herangezogen, das Paßbild Sprangers vergrößert und im DK-Blatt abgedruckt, Plakatanschlag und Säulenaushang angeordnet.

Auch das Seemannsamt in Hamburg wurde verständigt, ebenso die Schiffahrtsgesellschaften. Wieviel Arbeit und Kosten macht ein so'n lumpiger Mörder dem Staat, dachte Inspektor Kraus.

Kriminalrat Fabricius war etwas bedenklich. Nach seinen langjährigen Erfahrungen lag dieser an sich schwierige Fall mit seinen bisherigen Ergebnissen zu logisch und die Schlußfolgerungen waren allzu rasch gezogen worden. Schwere Verbrechen pflegen nicht so einfach gelagert zu sein. Großverbrecher sind irrational.

 

Michael fährt. Bald hetzt er, bald entschließt er sich aus Trotz, zu verweilen. Sein Blick flackert. In jedem Wagen, der hinter ihm herkommt, sieht er einen Verfolger. Jeder Schupo, der eine Straße überquert, geht dort nur seinetwegen. Jede Bahnschranke, die heruntergelassen ist, wurde nur seinetwegen nicht geöffnet.

Warum gab er nicht auf? Hatte es wirklich Zweck und Sinn, zu fliehen in diesem markanten roten Sportwagen? Heller Wahnsinn! Es ging um seine Freiheit! Um das Wichtigste, was der Mensch hat. An einem Teich übergoß er den Wagen mit Wasser. Dann bewarf er ihn mit Staub und Schlamm. Die grelle Farbe verschwand, der Wagen wirkte wie grau gestrichen. Verrückt, sich einen roten zu kaufen. Wenn man zudem seit Jahren bereits mit einem Fuß im Zuchthaus steht.

Weiter, weiter!

Aber das Ziel ... Michael, wohin? Wer sich selbst entfliehen könnte! Ein anderer Mensch hatte er werden wollen. Ein neues Leben mit Gefion aufbauen. Sie sollte ihn ändern von Grund auf. Er merkte nicht, daß er gesagt hatte, sie sollte ihn ändern. – »Um mich zu ändern, war diese Gefion zu schwach«, dachte er, so wie man über einen lange gehegten Irrtum abschließend nachdenkt. Wie wenig sie ihn verstand, das hatte sie ja neulich deutlich genug gezeigt. Wie wenig sie dem Bilde glich, das er sich von ihr gemacht, das hatte er bitter erlebt.

Die helle Erscheinung auf dem dunklen Grunde von Rüsternort kam ihm ins Gedächtnis, erstand leuchtend vor seinem innern Auge. Wie konnte er weiterleben, ohne sie wiederzusehen ... Er müßte umkehren. Wie dieser junge Mund sprach. Wie diese Augen einen durchdrangen!

»Das Wunschbild ändern, Michael Spranger«, hatte sie leise gesagt, als er sich in der Tür noch einmal umgedreht. Fast unhörbar waren diese Worte gewesen, so daß er nicht wußte, ob sie den Gedanken nicht nur gedacht habe. Aber dann könnte er doch diese ihm fremden Worte, die er kaum begriff, nicht so getreu in sich aufgenommen haben.

Verdammte Bauernlümmel. Schlafen auf ihren Strohwagen und haben keine Idee davon, daß ein Mensch um sein Leben fahren muß.

Michael ahnte nichts von Polizeifunk, von Rundspruch und Autosperren, die ihm längst weit vorausgelaufen waren. Weg von Berlin, von Rüsternort, das war sein einziger klarer Gedanke. Wenn man diese Torheit einen klaren Gedanken nennen konnte. Er raste weiter. Endlich hielt er erschöpft in einem Walde, schleppte sich müde ins nächste Dorf, kaufte ein. Er ist nicht wiederzuerkennen, als er sich in dem halbblinden Spiegel eines ländlichen Kramladens sieht. Die Frisur und das geklebte Schnurrbärtchen verändern ihn völlig. Die vom Alex, die können ihm ...

In seinen Wagen zurückgekehrt, ißt er. Aber mitten darin jagt ihn die Unruhe auf. Er fährt wieder los, ändert die Richtung, hat einen neuen Plan. In einem Wald kurz vor der Elbe hält er. Freiheit liegt nicht in der Flucht, sondern im Geborgensein.

»Alle Weisheit ist still«, hatte die helle Erscheinung gesagt. Still werden. Im Nichts, im All, in der Masse verschwinden. Irgendwo nichts als eine Zahl sein, einem armen Hund seine Papiere abkaufen, untertauchen. Eine tätige Null in der namenlosen Menge werden, aber frei sein, frei! Die Nerven geben nach. Er vermag nicht mehr wach zu bleiben. Er schläft eine kurze Spanne. Als er aufschreckt, ist es Nacht. Er fährt zur Elbe, steigt aus. Läßt den Wagen stehen, erkundet eine flache Böschung in der Nähe. Dorthin fährt er leise. Die Nacht ist still. Still wie – Gott das All-Eine. Ob es wirkliche Wahrheit ist, daß es das allumfassende Gottsein gibt? Er hat an anderes zu denken. Was lockt ihn die helle Erscheinung heim? Fort, in die Freiheit will er. Soll er sich ausliefern? Wer geradeaus geht, kommt zu sich selbst. Unsinn.

Michael lauscht und späht die Gegend ab. Nichts regt sich. Er nimmt den Rucksack und steigt aus. Stellt die Steuerung fest, gibt Vollgas, nimmt es weg und springt vom Trittbrett. Er sieht sein Auto im Wasser verschwinden. Wellen schlagen hoch. Von dem Sportwagen ist keine Spur mehr zu sehen. Gut so. Vielleicht gleiten die Zillen darüber hin. Die Elbe führt viel Wasser in diesem Herbst.

Der Fahndungsdienst konnte lange nach seinem Wagen umherspähen. Den würden sie nie finden. Michael lachte. Er schlief noch ein paar Stunden. Auf einmal hatte er keine Eile mehr. Als es Morgen war, wanderte er nach Nordwesten.

Ein neuer Plan war in ihm aufgetaucht. In einem Dorf traf er einen Landgendarm. Mit dem fing er ein Gespräch an. Kopist von hohen Graden und Schauspieler, der er war, vermochte er auch Dialekte täuschend nachzuahmen. Jetzt sprach er sächsisch. Der weiche, gutmütige Tonfall hatte etwas Beruhigendes für seine gefolterten Nerven. Dieser Ton tarnte gut. Das merkte er bald. Leider konnte der Gendarm ihn nicht bis zur Kleinbahn begleiten. Er mußte von der Chaussee abbiegen, doch wünschte er guten Weg. Michael wünschte ihm dienstliche Lorbeeren. In einem kleinen Bahnhof studierte er die Fahrpläne. Dann kaufte er eine Karte, die ihn zur Schnellzugstrecke nach Hamburg brachte. Auf dem Hamburger Bahnhof sprach ihn ein Polizeibeamter in Zivil an, ließ sich aber durch das unverfälschte Sächsisch täuschen, spähte rasch weiter nach einem Mann, der dem Steckbrief von dem Mörder Spranger ähnlich sähe.

Michael nahm eine Elektrische und fuhr zu dem kleinen Händler und Hehler, den er dem Namen nach von Kapsdorf her kannte. Die Ladentür war verschlossen, die Wohnungstür ebenfalls. Kein Mensch öffnete auf sein ungeduldiges Klingeln. Er klopfte heftig. Eigentlich war es unklug von ihm, hier so Lärm zu schlagen. Eine alte Frau kam eilig die Treppe heruntergeschlurft; sie hatte es wichtig. Die Verständigung mit dem Mann aus Sachsen war schwierig, aber sie konnte ihm doch erzählen, daß der Händler gestern festgenommen worden war. Sein Laden wurde von der Polizei geschlossen.

Michael traf diese Nachricht doppelt hart. Nicht nur, daß der Mann hopps genommen worden war, auf den er seinen Fluchtplan aufgebaut, sondern es zeigte sich, daß die Kriminalpolizei diese Verbindung zu Kapsdorf kannte.

Auf der andern Straßenseite schlendert ein Mann. Er sieht nicht gerade kräftig aus. Aber er scheint ausdauernd zu sein. Die minderwertigen Auslagen der kleinen Läden ziehen ihn immer wieder an. Er dreht um. Er kommt zurück. Er kreuzt melancholisch die Straße, schiebt sich gelangweilt auf das Haus des Hehlers zu. Als Michael aus der Tür treten will, ist er mit einem Satz vor ihm.

»Kriminalpolizei! Weisen Sie sich aus.«

»Eenen Ausweis? Ach Herrje, ich hab Sie ja gar geenen mit.«

Dann landet Michael blitzschnell seinen gefürchteten Linken. Der neugierige Mann taumelt. Michael hilft nach, der Mann sinkt der schwatzhaften Alten in die Arme. Im Hausflur rollen beide zu Boden. Michael schließt die Tür und geht ruhig weg.

Hinter der nächsten Straßenecke begann er zu rennen. Eine Elektrische kam. Er sprang auf. Der Fahrer schimpfte. Es sei verboten, aufzuspringen. Ehe ein Schupo sich von der hintern Plattform durch den überfüllten Wagen zu der vorderen durchgedrängt hatte, war Michael schon wieder abgesprungen. Er sah ein Schild: Autovermietung und Reparaturwerkstatt. Da ging er hinein. Der Schupo hatte ihn wegen seines Aufspringens nicht verfolgt. Wahrscheinlich hatte er andere dienstliche Verpflichtungen. Der Autohändler machte einen verdammt zweifelhaften Eindruck. Ein pfiffiges Gaunergesicht kam hinter einer Biedermannsmaske unerwartet plötzlich zum Vorschein. Er hatte einen alten Fiat dastehen, der verkäuflich war. Der Motor noch ausgezeichnet, die Ballonreifen neu. Das Ding war seine zweitausend Emmchen wert.

»Du wirst mir gern acht braune Lappen geben, Junge«, sagte der von der Reparaturwerkstatt, was Michael so verblüffte, daß er vergaß, sächsisch zu antworten.

Der Kerl griente. »Also hopp, achttausend«, sagte er in unverfälschtem Hamburgisch. »Mit jeder Minute wird es teurer. Mensch, verstehste noch immer nich? Na, da komm man.« Er ergriff Michaels Arm, der dem Mann vor Erstaunen ruhig folgte. Links vom Torweg stand eine Litfaßsäule. Der Autohändler führte Michael um sie herum, wies auf ein rotgerändertes Plakat: »Junge, Junge, da staunste! Wat? Also mach's kurz. Neun Lappen. Komm.« Er zog ihn rasch in den Hof zurück.

Michael hob die Füße merkwürdig hoch, als ob er sich durch schlammigen Grund tappe. »Können Sie mir einen Kutter besorgen, der mich heute nacht nach England bringt?«

»Du bist wohl 'n Neuer? Dich fährt keiner. Wenn du schon an der Säule hängst, schöner wie auf'm Standesamt, da is all die ganze Schiffahrt natürlich längst verständigt. Da läufst du denen vom Berliner Alex direkt in die Fangarme. Bist ja doof! Rücke zehn Lappen raus und hau ab nach Luxemburg. Da biste in 'n paar Stunden. Na, wenigstens, wenn du dich ranhältst. Mußte doch. Die Karre hier is prima. Die steht das durch. Also zehn Lappen. Willste nich? Nee? Verpfeif ich dich. Krieg ich fünfe. Hab nischt zu riskieren und behalte meinen guten Wagen. Verstehste?«

Michael lachte dem andern ins Gesicht. »Un een guden Stand hätten Se ooch noch obendrein bei der Kripo. Gönnte Ihnen so bassen, Freindchen. Nischt zu machen. Sechse will ich Ihnen gäben. Eenen mehr als de Kripo.«

»Gemacht, Kamerad. Ich helf dir weiter. Die Karosserie machen wir runter und hauen einen Lieferkasten drauf. Einen feinen Fahrerausweis für nen Lieferwagen gebe ich dir, für ne Kleinigkeit, versteht sich. Un Kisten mit leeren Flaschen an meinen Freund Norwich in Luxemburg, Rue de Bruxelles 117, kriegste auch. Glatte Sache.«

Die Erscheinung stand vor Michael. Er sah durch den Autofritzen hindurch, so daß diesem unheimlich wurde. »Allerhand, was man so erlebt«, murmelte der betroffen und hatte Eile, den sonderbaren Kerl vom Hof zu kriegen. Michael beschloß, sich durch den nächsten Schupo auf die Kriminalpolizei bringen zu lassen.

»Faß an! Stier nich in den Mond. Dat kannste im Kittchen noch lange genug. Wenn sie dir für deinen Kopp nich dat kleine Fensterloch von's Schafott offenhalten. Een Blick genügt, mein Herr. Det Ding geht glatt durch Ihren Hals durch, unter Garantie.«

Freiheit! dachte Michael, warf den Rock ab und packte zu. Er eignete sich nun einmal für keinen andern Beruf als den der freien Künste, in dem man arbeiten durfte, soviel man wollte, arbeiten konnte, wann es einem paßte und arbeiten mußte, wenn der Geist über einen kam oder der Dämon einem wie ein Nachtmahr im Nacken hockte. Frei mußte er bleiben. Ein Bürokrat ist immer eingesperrt, aber einen Künstler hinter Gefängnismauern stecken, einen Adler in eine winzige Zelle, wo er sich den Schädel seines Geistes einstößt, da ist für ihn jeder Tag gleich einer Woche und der Monat gleich einem Jahr, das Jahr wie ein Jahrzehnt. Es gibt kein gleiches Recht für alle. Die Justitia ist blind und ein Notbehelf. So und ähnlich sprachen die beiden Männer. In abgerissenen, zugeworfenen Sätzen, in den kurzen Pausen des Verschnaufens während des harten Zupackens. Endlich war die Karosserie ausgewechselt, der Lieferkasten aufgesetzt und die Kisten mit den leeren Weinflaschen verladen.

Michael erwarb noch von dem andern eine flache Mütze und eine Fahrerjoppe. Ein Kollege hatte inzwischen Führerschein und Paß fertiggestellt, die von echten gar nicht zu unterscheiden wären, betonte er. Auch er sei ein Künstler. Michael wurde es übel, es würgte ihm im Hals. Er nahm seine Brieftasche und zahlte. Gut, daß er immer große Summen in seiner Wohnung statt auf der Bank gehabt hatte. Die beiden ehrlichen Gauner bekamen Stielaugen bei dem Anblick all der Scheine, die noch in der Brieftasche blieben.

Michael stieg rasch auf, um loszufahren. Da trat der Mann von der Autoreparatur nochmals an ihn heran. »Einen guten Rat, mein Junge! In Luxemburg läßt du dir von dem, was der Norwich ist, einen Bratenrock und Zylinder kaufen. Dann machste dicke Trauerflöre rum und nimmst nen großen Kranz. Damit fährst du so sicher wie in Abrahams Schoß durchs Elsaß nach der Schweiz. Also, mach's gut. Und schreib mal ne Ansichtskarte.«

Michael fuhr ab. Er war etwas benommen und vermochte sich nicht recht klarzumachen, ob diese Ratschläge Sinn und Verstand hätten. Hatte er überhaupt klug daran getan, sich mit diesen Leuten einzulassen? Der Blick, den sie sich über seine gefüllte Brieftasche hinweg zugeworfen hatten, war reichlich verdächtig.

Als er mit seinem Lieferwagen die Vorstädte Hamburgs passiert hatte, traf er auf einen Autosperrposten. Erst schreckte er zurück. Dann war ihm alles egal. Er hielt und zeigte die Papiere.

 

Kriminalrat Fabricius gab die Leiche Kapsdorfs noch nicht zur Beerdigung frei. Er hatte das Gefühl, daß dieser Michael Spranger bald in die Hände der Polizei liefe. Er wollte den mutmaßlichen Mörder mit der Leiche konfrontieren. Das ergab bei überraschender Gegenüberstellung meist ein Geständnis.

Zu seiner Verwunderung hatte die Fahndung nach dem roten Sportwagen noch kein Ergebnis gezeitigt. Da lief aus Hamburg die Meldung ein, daß Spranger dort gesichtet worden sei. Vor der Wohnung des festgenommenen Hehlers in der Pestalozzigasse. Leider habe er den etwas schwächlichen Kriminalassistenten Krebs durch einen Boxhieb mit der linken Hand an die rechte Schläfe für eine Weile handlungsunfähig gemacht. Erst hatte der Beamte noch Zweifel gehegt, doch der harte Schlag mit der Linken habe Spranger verraten. Nur so habe der sich durch Flucht seiner Verhaftung entziehen können. Eigentlich hatte man an dieser wichtigen Stelle einen robusten Fahndungsbeamten angesetzt gehabt, jedoch dieser sei im Dienst an einem Gallenanfall erkrankt, und man habe daher für kurze Zeit den Krebs eingeschoben, weil zur Zeit kein anderer Beamter frei gewesen wäre.

Die Antwort der Kriminalzentrale war nicht gerade freundlich.

Fabricius war sehr verstimmt.

Dann lief die Meldung ein, daß der rote Sportwagen in der Elbe bei Buxdorf gefunden und geborgen worden sei. Ein Schleppkahn mit kleinem Hilfsmotor hatte durch den Wagen Havarie an seiner Schiffsschraube gehabt, ankerte und benachrichtigte die Strompolizei.

Der Weg, den Michael Spranger genommen hatte, wurde in den Akten aufgezeichnet. Aus Hamburg durfte der Bursche nicht herauskommen. Die Aufmerksamkeit wurde verdoppelt, aber auch diesmal hatte man kein Glück. Einige Stunden später wurde Fabricius der Anzug, den Michael Spranger in der Mordnacht getragen hatte und der von Rüsternort hierhergesandt worden war, vorgelegt. An einer Stelle am linken Ärmel war ein winziger Blutspritzer. Diese Feststellung brachte die neue Vermutung, die Fabricius aufgedämmert war, wieder ins Wanken. Sollte doch eine äußerliche Gewalttat Herzschlag und Tod herbeigeführt haben? Er versank in Nachdenken und ging die Mordszene zum soundsovielten Male im Geiste durch. Es stimmte irgend etwas nicht. Trotz der Blutspur, die allerdings sicher nicht von dem Träger des Anzugs selbst herrührte. Fabricius erwartete von Stunde zu Stunde das Ergebnis der Obduktion Kapsdorfs. Es mußte ein Giftmord gewesen sein! Als er in seinem Arbeitszimmer auf und ab ging, knöpfte er den Rock auf. Seine Brust hob sich in einem tiefen Atemzug. Ihm ward freier zumute. Sicher war er nun auf dem richtigen Wege. Allerdings betraf das wohl weniger den Täter, als die Ausführungsart der Tat. Bald würde er Näheres, vielleicht Entscheidendes hören. Doch die Augenblicke wohliger Befreiung verflogen nur allzu rasch. Neues Spüren und Warten setzte ein.

Michael fuhr nach Süden. Dann bog er ein wenig nach Westen aus. Er vermied die Städte, nahm oft Landwege, rastete in Wäldern und fuhr auch des Nachts. Die Autosperrkette hinter Hamburg hatte den Lastwagen durchgelassen, eine zweite vor Braunschweig ebenfalls.

Eine kurze Zeit hatte ihn dann ein grüner Wagen, wahrscheinlich ein Polizeiwagen, verfolgt; durch ein Hakenschlagen in einem Walde war er ihn losgeworden; es war eine aufregende Fahrt. Wenn er erst die Grenze von Luxemburg passiert hatte, dann winkte ihm die Freiheit. Seinen Besitz konnte man ihm nicht nehmen; es würde gelingen, unerkannt zu bleiben. Und schließlich verjährte ja jedes Vergehen – warum nicht das seine?

Die lichte Erscheinung tauchte vor seinem innern Auge auf. »Das Wunschbild ändern, Michael Spranger!«

Gefion ... sie war wie weggewischt. Seltsam.

Da war wieder der grüne Wagen! Polizei!

Nun kreuzte er schon das Nahetal, die Grenze war nicht mehr weit. Nur jetzt nicht schlapp machen. Aus dem alten Fiat herausholen, was rauszuholen war!

Es wurde wieder Abend. Er wagte nicht, Licht zu machen. Bald senkte sich die Nacht herab. Tempo und Fahrt verlangten das Letzte von ihm. Er mußte den Landweg verlassen und bog auf eine bessere Straße ein, die direkt südwestwärts führte.

Vor ihm tauchten Lichter auf. Menschen. Die Lichter verlöschten. Er zog die Bremsen an, nahm das Gas weg. Da war etwas Gefahrdrohendes.

Im selben Augenblick splitterte Glas, knallten die Reifen. Der Wagen drohte sich zu überschlagen, schlidderte, schlingerte, stieß gegen einen Baum.

Männer kamen angerannt. Taschenlampen blitzten auf, blendeten Michael in das Gesicht. »Rück dein Geld raus! Vorwärts, mach's kurz!« kommandierte der Mann, der dem völlig erschöpften Spranger am nächsten stand, und hielt einen Revolver in den Lichtkegel.

Eine Autofalle! Michael brach in hohnvolles Gelächter aus. Die Männer sahen ihn verdutzt an.

»Junge, ich muß über die Grenze. Sie sind mir auf den Fersen. Verdammt, zu spät!«

Die Kerle, die schon seine Joppe gepackt hatten, ließen ihn los und sahen erschrocken auf ein zweites Auto, das versucht hatte, den Glasscherben auszubiegen, aber doch links vorn einen Plattfuß bekommen hatte. Zwei Leute sprangen von dem Wagen, den sie im Feld zum Stehen gebracht hatten. Rannten herbei. Einer der Fallensteller begann lebhaft zu drohen.

Ein Wortwechsel entstand. Von allen Seiten wurden Taschenlampen angedreht. Es war keine Polizei. Es waren der Hamburger und sein Komplice. Sie behaupteten, Michael habe vergessen, ihnen einen Teil dessen zu geben, was sie verlangten. Er habe zehn Tausender versprochen.

Nun begann ein wilder Streit um die Beute. Die Joppe ging in Fetzen. Die Hosentaschen zerrissen. Michael wehrte sich nach beiden Seiten. Es war eine krachende Keilerei.

Die drei Parteien waren so ineinander verfilzt, daß sie das Anbrausen eines Motorrades mit Beiwagen überhörten. Erst als das Scheinwerferlicht groß aufzuckte und alle blendete, begriffen sie, was los war. Doch da war es zu spät.

»Hände hoch!« erscholl das scharfe Kommando.

Eine der motorisierten Streifen hatte einen großen Fang getan. Widerstand erschien zwecklos. Zudem waren die Kerle durch den Kampf aller gegen alle erschöpft. An Flucht war nicht zu denken, zumal das Mondlicht jetzt die Gegend ziemlich erhellte.

Den Männern wurden die Waffen abgenommen. Dann mußten sie selbst den zweiten Wagen wieder fahrbereit machen und die Glassplitter von der Straße entfernen. Als alles in Ordnung war, bestiegen die sechs den Wagen. Die Hände waren ihnen gefesselt oder gebunden. Einer der Beamten setzte sich ans Steuer. Das Motorrad fuhr nebenher. Der Mann auf dem Soziussitz hielt mit entsicherter Waffe die Brüder im Zaum. Noch in der Nacht wurde Bingen erreicht.

Der das Verhör leitende Kommissar erkannte plötzlich in einem der übel zugerichteten Gesellen, dem auf der Oberlippe der Schnurrbart abgegangen war, den gesuchten Mörder des Kunsthändlers Kapsdorf und sagte ihm das auf den Kopf zu. Die Wirkung der Worte ging wie ein Rauschen durch die kleine Polizeistube. Die Wegelagerer bedauerten, daß sie einem Großen ihrer Zunft den Untergang bereitet hatten.

Michael Spranger bekannte sich zur Person, leugnete aber den Mord und die Fälschungen.

Die nervenzerfressende Hetzjagd war zu Ende. Es war entschieden. Nachdem er die Entscheidung passiv über sich hatte ergehen lassen, fiel er in tiefe Erschöpfung und wurde noch in der Nacht nach Berlin transportiert, ohne daß er eigentlich recht begriff, was mit ihm vorging. Wenn er aus seinem schweren Schlaf manchmal aufschreckte, konnte er gar nicht zusammenfinden, was es mit Freiheit und lichten Erscheinungen auf sich gehabt hatte. Alles versank in dem einzigen Wunsch nach Ruhe, nach innerem Frieden.

 

Kriminalrat Fabricius stand vor einer ganz neuen Sachlage. Sein Spürsinn hatte recht behalten. Dr. Cigalla von der kriminalmedizinischen Abteilung konnte nach schwieriger Untersuchung einwandfrei feststellen, daß Kapsdorf an Gift gestorben war. Er hielt dem Gruppenleiter »B« Vortrag. Es sei ein in Europa fast unbekanntes indisches Gift, das ätzend wirke, wenn es mit Sauerstoff in Verbindung komme, das die Magenwände zerfresse und in wenigen Sekunden oder Minuten, je nach der Dosis, unter krampfartigen Erscheinungen unweigerlich den Tod zur Folge habe. Die Herren von der Mordkommission und auch Dr. Spahn vom Fälscherdezernat hielten Spranger nach wie vor für den Täter. Es kam ja gar kein anderer in Betracht.

»Wenn Michael Spranger Kapsdorf vergiftete, woher der laute Zank, der heftige Streit, die Wunde am Kopf des Opfers, die Blutspur an dem Anzug des Täters? Bitte! Giftmischer pflegen auf leisen Sohlen zu gehen. Da kommt es zu keinem Kampf, kommt nicht zu blutigen Schlägen mit schweren bronzenen Figuren«, gab Fabricius zu bedenken.

Da kam eine überraschende Meldung: das Alibi von Baron Czerna war falsch.

* * *

 


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