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Ein kleiner roter Sportwagen brauste in fast wahnsinnigem Tempo auf Rüsternort zu, kletterte schließlich die Rampe vor dem sogenannten Schloß hinauf und hielt mit quietschenden Bremsen. Der Herr des Hauses betrat die Halle und ging in sein rechter Hand liegendes Wohnzimmer. Im ersten Stock waren Mutter Jacoba und Tochter Ute an die Fenster getreten, Frau von Tirschenreuth, wie immer, halb verdeckt von der Gardine. Ute dagegen drückte sich die entzückende Stupsnase fast an der Scheibe breit.

»Schnittiger Wagen, patenter Kerl!« bewunderte sie rückhaltlos. Jacoba überhörte das. Sie ärgerte sich: »Eine Taktlosigkeit, den Wagen einfach auf der Rampe stehenzulassen.« Gefion trat aus ihrem Zimmer. Eine von scheußlichen Träumen gestörte kurze Nacht. Der Kopf schmerzte. Sie war jetzt wieder entschlossen, doch zu fahren, trotz der lockenden Aufgabe, zu der ihr ja aber hier das notwendige Arbeitszeug fehlte. Sie schritt die Treppe zur Halle hinunter. Auf dem Tisch am Kamin stand das Telephon. Der alte Spranger hatte es nicht in seinem Herrenzimmer haben wollen. Gefion hob den Hörer ab und bestellte die Verbindung mit Berlin, mit der Kunsthandlung Kapsdorf. Eines der Fräulein Mangelin würde ihr dort schon die Stichworte geben, um hier eine sofortige Abreise zu erklären.

Während sie auf die Verbindung wartete, trat aus dem Herrenzimmer ein schlanker, großer Mann, den der Kammerdiener Fedor mit »gnädiger Herr« anredete. Die beiden gingen langsam durch die Halle.

Gefions Augen weiteten sich. In dieser Sekunde fiel der Blick jenes Fremden auf sie. Es sah aus, als wolle er sie freudig überrascht begrüßen, aber dann verneigte er sich nur und ging in den Park. Gefion starrte ihm entgeistert nach.

Da schrillte das Telephon, und sie schreckte zusammen. Mechanisch hob sie den Hörer ab und meldete sich.

Das Fernamt. Was hatte sie telephonieren wollen? »Einen Augenblick!« rief sie in die Muschel. Der alte Diener kam zurück und sie winkte ihn heran. Sie mußte Gewißheit haben, sie konnte nicht warten. »Wer war der Herr?« rief sie ungeduldig.

Fedor sah sie erstaunt an. »Herr Michael Spranger, der Besitzer ...«

»Ich verzichte, ja doch, ich verzichte«, rief sie in den Hörer und ließ ihn fallen.

Fedor legte ihn korrekt zurecht.

»Michael Spranger? Dann bleibe ich«, sagte sie scheinbar unmotiviert, worauf Fedor mißbilligend sein Haupt schüttelte. Die Bleiplatten eines Taucherstiefels konnten nicht schwerer sein als Gefions Füße. Nahm diese Treppe kein Ende? Halb erwachend blickte sie verzweifelnd auf die vielen Stufen, die sie noch überwinden mußte. Michael Wendhusen spielt Michael Spranger! Ein eisiges Grauen stach nadelscharf durch ihre fröstelnden Poren. Wie ist das nur möglich? Wohin ist es mit ihm gekommen?

Warum bleibe ich? Ich hätte doppelt und dreifach Grund, jetzt sofort abzureisen. Was hält mich wie magisch hier fest, hier, wo das Unglück mit tausend Fühlern auf mich zukriecht?«

Wenn sie jetzt nur niemandem begegnete!

Vielleicht war das Ganze nur eine Einbildung. Vielleicht narrte sie eine Ähnlichkeit. Die halbdunkle Halle, das flüchtige Vorbeigehen – wie konnte sie glauben, unter diesen Umständen einen Menschen wiederzuerkennen, den sie seit fast einem Jahrzehnt nicht gesehen hatte? Und doch war sie geneigt gewesen, zu glauben, der Fremde sei jener Michael Wendhusen, den sie gekannt, obwohl er hier unter dem Namen Spranger auftrat. Absurder Gedanke.

Aber selbst wenn er es wäre, wenn er sich einen falschen Namen beigelegt und sich hier in ein großes Erbe eingeschlichen hätte – so konnte er vor ihr sicher sein. Sie, nein, sie würde ihn nicht verraten. Das würde sie nicht über sich bringen. Aber war es nicht ihre Pflicht? Mußte sie es nicht tun?

Gefion stand in ihrem Zimmer und kühlte sich den Kopf, obwohl ihr kalt war vor Grauen.

 

Frau Jacoba war das Warten zu lang geworden, sie hatte sich zum soundsovielten Male die Mappe mit den Auskünften über Michael Spranger und die zwei teuren Gutachten über seine Handschrift hervorgeholt, und Ute durfte diesmal all das mitlesen, was das Mädel begeisterte.

Sie besah Stück für Stück. Mit ungewohnter Geduld ließ ihr Frau Jacoba die Schriftsätze. Das junge Mädel studierte mit Eifer. Einiges kannte sie ja schon aus den Erzählungen der Mutter. Dennoch entlockten ihr manche der Schlußfolgerungen Ausrufe des Staunens oder des glühenden Interesses. Wie kam es, daß Michael Spranger vor drei Jahren aus Berlin abgereist und damit für alle Nachforschungen verschwunden war? Die polizeiliche Abmeldung lautete: Auf Reisen. So reich konnte er nicht gewesen sein, um dauernd in Hotels zu leben.

Das Testament. Die Klausel war etwas über drei Jahre alt; sie war sieben Monate vor Michaels Abreise aus Berlin eingesetzt und datiert. Also war er an ihr mitschuldig. Mußte an ihr mitschuldig sein, behauptete Jacoba. Sie verwahrte sich leidenschaftlich gegen einen Versuch Utes, den Helden ihrer Backfischträume reinzuwaschen. »Es fehlt bei Rechtsanwalt Ahlström jegliche Notiz, jeder Beleg über diese Angelegenheit. Kein Anwalt macht so etwas umsonst, er stürbe ja lieber. Und Ordnung herrschte immer in seinem Büro. Also die Klausel ist gefälscht. Das wird immer deutlicher. Der saubere Herr hat dich um anderthalb Millionen betrogen, meine arme kleine Ute!« Mit jener romantischen Zärtlichkeit, die Jacoba bisweilen überfiel, umarmte sie die reizende Tochter, die sich ihrer kaum erwehren konnte; bis der zärtliche Orkan schließlich an Utes Teilnahmlosigkeit verebbte.

»Mutter, der Rechtsanwalt muß doch noch von der Sache wissen.«

»Mein Schäfchen, du vergißt, daß er vor einem Jahr starb. Der Nachfolger Ahlström weiß nichts.«

Ute beharrte auf ihrer Meinung, daß Michael »so etwas« nicht getan haben könne, dazu wirke er viel zu vornehm. Außerdem habe er ein steifes Ellbogengelenk, das behindere ihn sicher. Ein Handschriftenfälscher müsse doch wohl gerade voll beweglich sein. Sie fände ihn bezaubernd, er habe so etwas Weltmännisches und sähe so geistig bedeutend aus. Daß er eine dunkle Vergangenheit haben sollte, wäre sicher nur gelogen. »Und wie er spricht! Wie ein Don Juan, prima!«

Es klopfte und Fräulein Doktor Dankwart trat ein. Wie wächsern sie aussieht, dachte Jacoba. Wieviel Haltung sie hat, bewunderte Ute. Sie beschloß in diesem Augenblick, Kunsthistorikerin zu werden. Ein eleganter Beruf, der einzigmögliche für eine Dame. Und wenn in drei Jahren Michael sie heiratete, dann bekam er wenigstens eine Frau, die etwas von Kunst verstand. Allerdings läge dazwischen noch eine Universitätszeit mit viel Lernen – ärgerlich.

Inzwischen hatte Frau von Tirschenreuth Gefion gefragt, ob sie etwas von Handschriftendeutung verstünde, was diese bejahte. Daraufhin wurden ihr die drei Briefe Michaels mit einigermaßen objektiven Erklärungen vorgelegt.

Briefe von Michael. Waren es wirklich Briefe jenes Michael, den sie gekannt hatte, oder waren es Briefe dieses Fremden? Jetzt würde sie Gewißheit bekommen. Es schien, als ob das Schicksal ihr helfen wollte.

Jacoba dünkte es, als wenn das zarte Gesicht des Fräulein Doktor noch um eine Schattierung blasser wurde unter dem feinen »Sonnenbrand«, der geschickt hauchdünn aufgelegt war.

Lange besah Gefion Blatt um Blatt, ohne ein Wort zu sagen. Allmählich kehrte Farbe in ihre Wangen zurück, und als sie dann diese Handschriften zurückgab, verschönte ein leises Erröten ihre durchscheinenden Züge.

Wie aus chinesischem Porzellan, dachte Jacoba.

»Diese Schriftzüge haben etwas Unreifes, wirken fast wie die Schreibart eines modernen Schulmädels von sehr gutem Charakter«, sagte die Kritikerin. »Hier ist auch nicht ein Anzeichen von Schuld und Fehle«, schloß sie mit einem Versuch, zu scherzen.

Das war nicht die Handschrift Michael Wendhusens.

»Und wenn das Ganze Verstellung wäre?«

»Nein, Frau von Tirschenreuth, es gibt wohl kaum einen Menschen, der seine Handschrift dauernd zu verstellen vermöchte. Hier ist nicht ein Strich, der einmal ein Mißlingen der Verstellung verriete.« Sie nahm die Blätter erneut zur Hand. Lange prüfte sie, von Unruhe gepackt – konnte Jacoba recht haben? War nicht da und dort doch eine Kleinigkeit, die verdächtig erschien? Jetzt kam es ihr beinahe so vor. Fälschungen aufzudecken, war in letzter Zeit ihr Steckenpferd geworden. Aber vielleicht überwog in ihr der Wunsch, nichts Ungünstiges zu sehen. Jedenfalls gab sie die Blätter mit einem Kopfschütteln zurück.

Jacoba war unzufrieden und hätte am liebsten etwas Beleidigendes gesagt. Doch sie bezwang sich, und es gelang ihr, den wichtigen Gast auf das liebenswürdigste aufzufordern, mit ihr in den Ahnensaal zur Untersuchung der Gemälde zu gehen.

Gefion sprang wie befreit auf und hatte es fast eilig, zu den Bildern zu kommen.

Als sie über den Treppenpodest gingen, stand Michael Spranger unten in der Halle und spähte herauf.

Wie das Gesicht jetzt voll beleuchtet war, konnte es kaum einen Zweifel geben. Es mußte Michael Wendhusen sein.

Jacoba rief schon ungeduldig aus dem Saal nach Gefion. Die schreckte zusammen und folgte ihr eilig. Das nächsthängende Gemälde riß sie herab, hastete damit zum Fenster. Mit ein paar Handgriffen nahm sie den Reynolds aus dem Rahmen.

Lange starrte sie auf das Bild, ohne doch von Malweise, Stil und Signatur etwas wahrzunehmen.

Jacoba reichte ihr eine Lupe, Ute aber begann unzählige Fragen zu stellen, versuchte, mit kunstgeschichtlichen Kenntnissen zu prunken. Gefion fand das Geschwätz lästig und erleichternd zugleich. Frau von Tirschenreuth, die in höchster Spannung war, drängte auf genaue Wertangaben. Immer war ihr der mutmaßliche Preis nicht hoch genug. Das machte Gefion noch nervöser. Mit allen Sinnen lauschte sie schon einige Zeit nach der Tür. Ihr war, als wenn ein Mensch da herangeschlichen wäre und jetzt sein gedämpfter, unruhiger Atem gegen den Türspalt stieße. Es war spannend und unheimlich. Würde die Tür sich öffnen und dieser Michael Spranger hereintreten? Oder würde bei einem raschen Aufstoßen der Tür jemand vom Personal eine Kopfnuß bekommen? Gefions Unruhe teilte sich den andern mit, und wegen einer Geringfügigkeit gerieten die Frauen plötzlich in Streit. Beiderseitige Feindschaft schoß für Sekunden aus dem glatten, alles verdeckenden Mantel der gesellschaftlichen Form. Aber man blieb Dame und glich mit farbloser Höflichkeit den gefährlichen Riß wieder aus.

Doch die Gärung brodelte darunter weiter. Gefion erklärte plötzlich, erschöpft zu sein. Ein andermal wolle sie den Rest begutachten und schätzen. Es sei auch zuviel Verantwortung dabei, und es gehe um ihren Ruf, da sich Frau Jacoba ja die Schätzungswerte genau notiere. All das Gesagte sei nur vorläufig und bedürfe genauer Nachprüfungen. Die Leinewanden seien allerdings alle alt und die Farben und Firnisse auch, dennoch könne sie mit diesem geringfügigen Hilfsmittel natürlich nicht sagen, ob die Bilder wirklich von den jeweiligen Meistern stammten. Die angegebenen Preise verstünden sich selbstverständlich nur für echte Stücke.

»Nach allem, was Sie sagen, verstehe ich nicht, wieso Sie den geringsten Zweifel an der Echtheit dieser Bilder haben!« Jacobas Stimme klang schon wieder gereizt. Gefion erwiderte: »Ich sagte schon mehrfach: Um endgültige Urteile abzugeben, bedarf es eingehenderer und fachlicherer Untersuchungen, als ich hier ohne Hilfsmaterial anstellen kann.«

»Warum haben Sie dies denn nicht mitgebracht oder wenigstens sofort geholt? Ich habe Sie doch nur zu diesem Zweck hergebeten.«

Gefion warf zornig den Kopf in den Nacken. »Frau von Tirschenreuth, ich habe glauben dürfen, daß ich hier Gast wäre.«

Jacoba biß sich auf die Unterlippe. Es ist nie ganz angenehm, daran erinnert zu werden, daß man sich nicht gut benimmt. Sie versuchte sofort auszugleichen, arrangierte mit beachtlichem schauspielerischen Talent eine reizende Versöhnungsszene, und bot als besonderes Zeichen ihrer Gunst Gefion an, heute nachmittag auf ihrem Rappen auszureiten, ein Angebot, das Gefion nur zu gern annahm. Wenn die Gedanken das Gemüt heiß machen, dann ist es das beste, daß der Körper sich müde arbeitet.

Sie ahnte nicht, daß ihre begeisterte Zusage Jacoba plötzlich auf einen Gedanken brachte. Wenn dieser, ihr auf die Dauer schon lästige Gast außer Haus war, so bot sich ihr vielleicht eine Gelegenheit, diesen Michael Spranger einmal näher »anzusehen«. Auf solch eine Möglichkeit hatte sie schon lange gewartet. Aber um den großen Schlag durchzuführen, mußte sie ohne Zeugen sein. Blitzschnell überlegte sie. Ute würde sie durch Charlott von Rentmeister abholen lassen, diesem Liebling der ganzen Gegend, den der Volksmund »Hellfriede« nannte. In Hohennostritz war heute nachmittag Kino. Dahin konnte sie das Hauspersonal beurlauben, und Michaels Diener, den alten Fedor, wie konnte sie den aus dem Hause schaffen? Ah, die neue Livree! Dem würde sie einen Anruf des Schneiders bestellen.

Jacoba setzte ihre Gedanken sofort in die Tat um, und nachdem sie alles geordnet, saß sie wie öfters einsam in der Ahnengalerie, ihren quälenden Gedanken hingegeben. Irgend etwas zerrte an ihr, riß sie bald hierhin, bald dorthin. Bisweilen beneidete sie Menschen, die stetig dahinleben konnten, einem bestimmten Ziel zusteuerten, eine klare Linie hatten. Die um einen bewußten Kern lebten. Und bei ihr das unruhig Zerfahrene. Ewig neu aufschießende Projekte, allzu häufiges Abirren vom Wege. Wie kam es? Lag es wohl daran, daß sie ein so großes Verlangen nach Liebe hatte und daß es doch ihr Schicksal zu sein schien, all die innig begehrten Zärtlichkeiten zu verjagen? Wohin sie kam, säte sie Haß oder versengende Leidenschaft, nie erntete sie aufbauende, warmherzige Liebe. Leidenschaft? Sagte man nicht, daß Leidenschaft den Mann abhängig macht von der Frau? Ihn ihr hörig macht? Ob Michael Spranger nicht einer von den Männern war, die eine Frau auf diese Weise regieren konnte? Bisher hatte sie ja Kunst und Kraft nur an untaugliche Objekte verschwendet.

Michael Spranger hatte einen unruhigen Tag. Nachdem ihm, völlig überraschend, in der Halle eine Dame begegnet war, von der er nicht wußte, ob sie ihm Freund oder Feind sei, ging er wie benommen in den Park und saß lange unbeweglich in dem Borkenhäuschen.

Wie konnte das Schicksal ihm diese Frau hier an den einsamen Strand spülen? Wie konnte er ahnen, daß hier in dieser Verlassenheit, wo er ein gefährliches Erbe übernommen hatte, dieses Mädchen vor ihm stehen würde, wie aus dem Boden gewachsen, gerade sie, die sein Leben entschieden, deren Absage die Weiche seiner Lebenslinie ins Zigeunerhafte gelenkt hatte? Kein Spuk, nein. Wahre Wirklichkeit. Abreisen? Flucht? Ausharren, den Kampf aufnehmen? Abwarten, was sie ihm bringen würde, oder in Abwehrstellung gehen gegen ein erneutes Zuschlagen der Nemesis? Ein rasender Quirl ging in seinem Hirne um. Qualvoll.

Was verband die einst und noch immer Geliebte mit der unruhvollen, gefährlichen Frau des Hauses, deren Opposition er vom ersten Augenblick an so stark gespürt hatte und in deren Hand er bis zu einem gewissen Grade war? Was taten diese beiden Frauen stundenlang in der »Ahnengalerie«, die jene Bildersammlung barg, die er so ungern in Frau Jacobas Händen sah? Obwohl er sich dazu erniedrigt hatte, wie ein Lakai an der Tür zu horchen, war es ihm nicht gelungen, aus den leisen Gesprächen etwas zu entnehmen. Das Mittagessen schmeckte ihm wenig, obwohl es ausgezeichnet zubereitet war. Immer wieder störte ihn der Gedanke an Gefion. Daß sie es war, erschien ihm unzweifelhaft. Zu unverlierbar hatte sich sein Künstlerauge ihr Bild eingeprägt. Wenngleich ihre heutige Erscheinung sich zu damals verhielt wie ein vollendetes Gemälde zu einem bezaubernden Entwurf. Sollte er den Versuch machen, sie zu sprechen? Würde er auf eisige Ablehnung stoßen? Oder konnte er das Feuer der Leidenschaft wieder entfachen? Wie, wenn sie jetzt schon abreiste, vielleicht durch sein Auftauchen davongetrieben? Nun gut, dann sollte der dumme Zufall entscheiden. Er trank einige Kognaks und legte sich schlafen.

Zu der Zeit, da Michael einschlummerte, zog Gefion sich um und pendelte dann zum Gutshof hinüber, der ein paar Minuten vom Herrenhaus entfernt lag und ein geschlossenes Viereck rings um einen riesigen Düngerhaufen bildete. Die Dächer waren noch größtenteils mit längst schon dunkelgewordenem Stroh gedeckt und vielfach bemoost. Auf einer Scheune schwebte ein bereits vereinsamtes und verlassenes Storchnest. Hoch in den traurig singenden Lüften machten die Adebars ihren letzten Übungsflug. Bald würden sie ihrer andern Heimat zusegeln, diese Zugvögel, die scheinbar immer dem Überfluß nachgehen.

Gefion stand vor dem Pferdestall, der Knecht führte den Rappen heraus. Wie ruhig das Tier war. Kein Muskel zitterte. Der Hengst schnaubte nicht ängstlich. Gefion klopfte ihm den Hals, legte die Zügel zurecht und stieg mit leichtem Schwung in Bügel und Sattel. Vom Pferd aus sah sie auf der Koppel einen toten Storch liegen. Der Knecht war ihren Blicken gefolgt und sagte traurig: »Tjä, gnä Fröln, det war unserer. Hei is den andern zu schwach gewesen. Sie haben ihn heut morgen dotgestochen mit den Schnäbeln. Morgen früh sind sie nich mehr da. Dat is sicher.« Gefion grüßte freundlich, legte die Schenkel an und trabte los. Gesäß im Sattel, festen Knieschluß, Fußgelenke spielen lassen, so hatte Hans Brinkmann stets kommandiert. Schon. Wenn man es einmal konnte, so verlernte man es nie wieder, genau wie Schwimmen. Sie ritt an dem toten Storch vorbei. Die Natur will, daß alles Schlechte und Schwache untergehe, dachte Gefion und trabte schärfer an.

Nach einer Weile begegnete ihr ein Reiter, verhielt, wandte sein Pferd, grüßte höflich und sprach sie an. »Das ist doch der Rappe von Frau von Tirschenreuth! Aber welch eine anmutige Reiterin trägt er heute. Entschuldigen Sie bitte, ich habe mich selbst noch gar nicht vorgestellt: Doktor von Rentmeister«, damit verbeugte er sich im Sattel. »Der Hengst geht ja unter Ihnen lammfromm, als ob er 'nen Preis auf der Olympiade gewinnen wollte. Donnerwetter, haben Sie in allem so eine leichte Hand, gnädiges Fräulein, oder muß ich gnädige Frau sagen?«

Gefion lachte und schüttelte die quälenden Gedanken über den doppelnamigen Michael ab. »Fräulein Doktor Dankwart«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln, denn sie wollte ihr Licht nicht unter den Scheffel stellen, auch nicht auf die Gefahr hin, als ein hoffnungsloser Blaustrumpf zu erscheinen.

»Sind Sie auch Philosophin wie meine Tochter Charlott?«

Gefion berichtete, daß sie Kunsthistorikerin sei und bei Frau Jacobi zu Gast, eigentlich wohl mehr zur Beurteilung und Abschätzung der Ahnengalerie eingeladen.

Rentmeister erzählte Schnurren über den alten, adelstollen Spranger, der in der ganzen Gegend viel belacht, allerdings auch gefürchtet worden war. Dann kam man auf den neuen Herrn zu sprechen, doch da gab Gefion ihrem Pferd unauffällig Galopphilfe und tat, als ob der Rappe sich von selbst in Tempo gesetzt hätte. Das Gespräch kam ins Stocken, nur einzelne Sätze wurden herüber- und hinübergeworfen, denn Gefion steigerte die Gangart.

Das Mädel denkt wohl, ich und mein Fuchs halten nicht mit? Rentmeister zeigte sich durchaus der Sache gewachsen und amüsierte sich über die eingeschlagene Richtung, denn da kamen Gräben und Hecken; der Rappe sprang schlecht. Aber Hans Brinkmann war ein ausgezeichneter Reitlehrer gewesen, und der Rappe, einmal ohne harte Hand, tummelte sich wie neugeboren unter der ihm vorbehaltlos trauenden Reiterin, nahm Gräben und Hecken mit sicherem Sprung, so daß Herr von Rentmeister, als sie endlich auf einen Sandweg einbogen und in Schritt fielen, »Hut ab, gnädiges Fräulein«, sagte und mit ritterlicher Artigkeit grüßte. »Ich hatte mir nicht träumen lassen, daß mir der Himmel heute noch eine so entzückende Begleitung gönnen würde.«

»Meinen Sie die Störche, die da über uns hinziehen?« lachte Gefion, um abzulenken, denn für Schmeicheleien dieses Landkavaliers war sie heute weniger als je zugänglich. »Was mag es wohl sein, was diese Zugvögel zwingt, zweimal im Jahre die weite und gefahrvolle Reise von einem Erdteil zum andern zu machen?« sagte sie sinnend und schaute der gegen den Horizont immer kleiner werdenden Schar nach.

»Ich kann es Ihnen nicht verraten, Fräulein Doktor. Meiner Meinung nach rücken sie hier bloß aus, weil es nichts mehr zu pappen gibt.«

»Das kann der Grund nicht sein. Denn am Nil hätten sie das ganze Jahr genug zu fressen. Da brauchten sie doch nicht wieder hierherzukommen.«

»Wird wohl also die Ansicht meiner unheimlich gescheiten einzigen Tochter, mit der ich alter Kavallerist geschlagen bin, die richtige sein. Sie meint, jede Heimat hat ihr Zentrum, einen Pol, der das Leben ansaugt. Mensch und Säugetier haben nur eine Heimat, bloß die Zugvögel haben zwei, sagt Charlott, eine Doppelheimat mit zwei Polen. Bald lädt sich der eine magnetisch, bald der andere, und saugt dann mit unwiderstehlicher Gewalt die Zugvögel an. Etwa wie das Heimweh gleich einem unsichtbaren Gummiband in der Fremde unentrinnbar am Herzen des Menschen zerrt, bis der endlich dem Druck nachgibt und sich alsdann in der Heimat mit dem Kraftstrom des Genius loci, des Heimatgeistes, auflädt, um alsbald, befreit und beschwingt, dem Fernweh wieder folgen zu können. Denn die Pole solch einer Ellipse sind die Kehren, die Wendepunkte, sagt Charlott, und die muß es ja wissen.«

»Doppelte Pole der ewigen Acht, ein großartiger Wechsel, Sinnbild des ganzen Lebens«, stimmte Gefion nachdenklich zu.

»Donnerwetter, Sie scheinen das ja zu kapieren. Mir geht das ein bißchen über die Hutschnur. Aber Charlott meint, immer häufe ein Pol Anziehungskraft und der andere gäbe ab, bis der Wechsel Wirklichkeit werde. So fänden selbst Jungvögel, die die andere Heimat gar nicht kennen, allein und ohne Führung zu ihr. Sehen Sie, Fräulein Doktorchen, ich mit meinem bescheidenen Untertanenverstand habe mir von dem Ganzen auch ein Bild gemacht. Die Störche sind wie die Körner in einer Sanduhr, die willenlos nach einer bestimmten Richtung laufen müssen, und wenn sie dort sind, dreht der liebe Jott die Sanduhr wieder um.«

»Wie der Wandel zwischen Wachen und Schlaf, wobei in den Zellen auf bioelektrischem Wege ein Mineralstoffwechsel eintritt – eine Wanderung elektrisch geladener Moleküle und Atome –, so wechselt also auch die Anziehungskraft der zwei Heimatpole der Zugvögel, das leuchtet mir ein. Alles ist antipodisch, gegensätzlich bestimmt. In Deutschland mindert der Saft der Mistel den Blutdruck, in Amerika erhöht er ihn. Über diese wundersamen Naturerscheinungen wurde oft bei meinem Vater gesprochen.«

Rentmeister sah sie betroffen von der Seite an und kam sich belemmert vor. Er drückte sein Pferd von ihr weg, suchte verzweifelt nach einem guten Abgang, denn hier schien er ja vom Regen in die Traufe zu kommen.

Gefion lächelte und kam ihm zu Hilfe. »Sie machen sicher einen zu großen Umweg. Wahrscheinlich müssen Sie heim«, sagte sie freundlich.

Rentmeister schaute auf die Uhr. »Donnerwetter, was werden sich meine Kerls freuen, daß ich so lange weg bin. Die Gespanne dürften schön gebummelt haben. Aber es war mir eine Freude, Sie zu treffen. Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder.« Damit verabschiedete er sich und trabte davon.

Gefion brauchte lange, ehe sie den richtigen Weg nach Rüsternort erfragt hatte.

 

»Wenn Sie kommen, Baroneßchen«, sagte Cordula mit einem schüchtern angedeuteten Lächeln, .dann scheint immer die Sonne. Hellfriedchen bringt eben immer Sonne mit.«

An Cordula vorbei stürzte Ute zur Haustür hinaus, rannte, raste ... und blieb plötzlich wie angenagelt stehen. »Char ... lott!« Das war alles, was sie herausbringen konnte.

Charlott von Rentmeister lächelte in sich hinein. Wie war doch diese Überraschung gelungen. »Ja, du dachtest, ich käme mit dem alten Dogcart aus Großmutters Handkörbchen. Nein, mein Kleines, Vater hat mir zur Feier meiner zwölften Korberteilung das neue Gespann geschenkt.«

»Dieser ganz helle Jagdwagen und zwei Isabellen! Die schönen weißen Schwänze, Mensch, prima! Und du ganz in beige, ganz groß! Sogar beigefarbene Russenstiefel«, bewunderte Ute. »Daß es so was überhaupt gibt. Aber ich kann mich ja gar nicht dazusetzen. Ich verderbe dir mit meiner grünen Fahne und den Tiroler Kniestrümpfen den ganzen blonden Zimt.«

Charlott war gar nicht zu Worte gekommen. Jetzt benutzte sie ein fassungsloses Atemholen ihrer jungen Freundin, die sie geistig ein wenig bemutterte, packte sie lächelnd beim Schopf und tat, als wolle sie das Mädel, wie weiland Münchhausen sich selbst, am Zopf aus dem Sumpf ziehen. Cordula hatte den gleichen Gedanken. Wenn sie solcher Worte fähig gewesen wäre, so hätte sie formuliert: Dieser Griff ist mehr denn ein Symbol; auf geistiger Ebene ist das die einzige Hoffnung für Ute. Charlott ist der Mensch, der ihr den Ruck ins Helle, auf die Lichtseite des Lebens, zu geben vermag. Cordula konnte gewiß solche Sätze nicht denken, aber in einem undeutlichen Gefühl lebte diese Vorstellung in ihr. Ein Mensch aus dem Volke, der den rechten Herzenstakt hat, ist Gott nahe.

Golden umflutete die Sonne das lichte, abtrabende Gespann. Als der Wagen für die lächelnd Nachschauende kleiner und kleiner wurde, hörte sie die beiden Mädchen singen. Ein linder Wind trug die weichen, hellen Melodien herüber. Der Himmel hatte ein blausamtenes Tor aufgetan, da hinein fuhren die singenden Mädchen. –

Gefion ritt auf Rüsternort zu. Je näher sie kam, um so mehr lasteten die schmerzenden Gedanken auf ihr. Hatte das dumpfe Empfinden in ihr recht, das ihr sagte, daß sie an einer Kehre angelangt sei? In den Kurven und Wenden des Geschehens lagert sich die Weisheit Gottes. Wie ein Bogenstrich an einer Glasplatte den Sand darauf zu Figuren zwingt.

Geist wird über Formel zur Form.

Das hatte sie im Hause ihres Vaters gelernt. Warum, dachte Gefion und hielt das Pferd an, warum scheut der Mensch vor dem Schlechten, wenn es in die ewige Weltenordnung von Gott als unerläßlich eingebaut ist? Warum entsetze ich mich vor Michael Wendhusen, der hier, erbschleichend, den Michael Spranger spielt? Aber wieso? Hatte die Handschrift ihr nicht die Gewißheit gegeben, daß er es nicht sei? Warum sagte ihr nun wieder ihr Gefühl, daß er es doch sein müsse? Vielleicht hatte er jene Briefe gar nicht selbst geschrieben. Daß die kluge Frau Jacoba nicht auf diesen naheliegenden Gedanken gekommen war. Aber wohin mochte der echte Spranger verschwunden sein? Ihre Gedanken wurden plötzlich so verwirrt und nervös, daß sich das auf den Rappen übertrug und er sich benahm, als ob Jacoba im Sattel säße. Je mehr sie ihn zu meistern suchte, um so aufgeregter und ungebärdiger wurde das Tier. Schrecken jagten durch Gefion. War der echte Michael Spranger ermordet worden? Von wem?

Warum fliehe ich nicht diese Stätte des Grauens, wo mich doch nichts zum Bleiben zwingt? Was bannt mich dämonisch an diesen schaudervollen Ort?

Das Pferd scheute vor der Hucke einer alten Holzsammlerin und brach aus.

Herrisch klopfte es an Michaels Tür. Er fuhr aus dem Schlaf auf.

Jacoba von Tirschenreuth stand im Eingang.

Michael gab seiner Freude Ausdruck über diesen unerwarteten, aber darum mit um so lebhafterer Befriedigung begrüßten Besuch.

Er bot Cocktails an, ging zur Hausbar und mixte.

Jacoba, in einem bernsteingoldenen Kleide, das, wie Michael fand, für die Gelegenheit reichlich feierlich war, aber, wie er anderseits zugeben mußte, zu ihrem tiefschwarzen Haar und den faszinierenden Augen ausgezeichnet stand, lehnte mit verschränkten Armen dicht neben ihm an der Wand. Sie beobachtete unter halbgesenkten Lidern seine Bewegungen. Er fühlte förmlich diese Blicke. Unwillkürlich wurde er etwas benommen. Ein flirrendes Locken ging von ihr aus.

Drei Jahre Einsamkeit in der Heide. Primitive Abenteuer, an denen hatte es nicht gefehlt, gewiß. Aber eine Frau, eine Dame, eine Leidenschaft, das war nicht dagewesen. Eine schöne, eine gefährliche Frau!

Wie still es war in dem großen Haus.

Michaels Blick glitt zu Jacoba hinüber. Wie schön die längliche Perle zwischen den Brüsten schimmerte, wie erregend der Schwung dieser Hüften war!

»Wir sind ganz allein im Schloß.« Jacobas Stimme klang wie ein aufrührerisches Werben, In einem heimlichen Triumph begann sie zu lächeln. Das große Spiel konnte beginnen. Deshalb hatte Gefion ausreiten, deshalb Ute wegfahren müssen, deshalb wurden die Mädchen ins Kino geschickt, deshalb war Fedor zum Schneider bestellt worden. Die Bahn war frei.

Würde es gelingen, diesen schwer faßbaren, immer entgleitenden Mann, diesen ganz männlichen Mann mit den kühn geschnittenen Zügen und dem verwegenen Blick, der sicher seinerseits mit den Frauen spielte, in die Hand zu bekommen, so daß sie dann verfahren konnte mit ihm nach ihrem Belieben? Sie würde diesem Seeräuber den Wind aus den Segeln nehmen! Ihr Lächeln vertiefte sich.

Das betont aufreizende Parfüm, das Jacoba zu benutzen pflegte, erfüllte allmählich beherrschend den Raum. Die Jalousien – waren herabgelassen. In den Sonnenstreifen, die durch die schräg gestellten Holzbrettchen fielen, tanzten letzte Mücken einen Tanz von verwirrender Unermüdlichkeit.

Die beiden Menschen rührten sich nicht.

Kein Wort fiel.

Jacoba und Michael standen Blick in Blick.

Dicht vor den Fenstern jagte sich ein Pfauenpaar mit verliebtem Gekecker. Von den Bäumen taumelten rotgoldene Blätter in der großen Trunkenheit des Herbstes. Die Stimmung lud von Sekunde zu Sekunde auf. Der Raum vibrierte von ungestillten Süchten. Den Vorgenuß hinausdehnen, das war Michaels einziger Gedanke. Der Spieler in ihm wurde geweckt. Sein Gesicht bekam eine hellwache Lebendigkeit. Der genießerische Trieb des Raubtiers, das seine angeschlagene Beute scheinbar entwischen läßt, um sie wieder und immer wieder um so sicherer einzufangen, gewann in ihm die Oberhand.

Jacoba streckte die Hand nach dem Silberbecher aus, In dem das fertig gemischte Getränk längst bereit stand. In dieser Bewegung lag etwas Herrisches. Das spürte sie selbst. Das spürte auch der Mann, den diese Nuance auf der Palette störte. Nicht verführt wollte er werden, er wollte erobern. Der Don Juan bezaubert ein Weib, er liegt ihm nicht zu Füßen. Etwas Finsteres und Angriffslustiges kam in seinen Blick. In der gleichen Sekunde änderten sich Jacobas Mienen. Sie wandelte die starre Straffheit ihres Körpers zu einer Weichheit der Glieder, die eine einzige große Lockung war. Das Weibliche in seiner letzten Intensität schwang durch den Raum. Die Frau siegt, indem sie unterliegt. Das ist uraltes Gesetz. Michael spürte nur die Unterwerfung. Jacoba schob sich um eine Linie näher an ihn heran.

Wie diese Frau zu stehen wußte! Wie raffiniert dieses nur an Hüften und Brust ein wenig gefältelte Kleid! Wie, sehnsüchtig verlangend der Ausdruck dieses leicht geöffneten Mundes.

Den richtigen Augenblick packen, lehren die Meister der Liebe, lehren es immer wieder, lehren es als das einzige, was zu lehren ist. Michael Spranger war kein schlechter Schüler!

»Du bist ein Draufgänger!« jauchzte Jacoba.

Es war, als ob zwei Wildwässer ineinanderstürzten.

Mit Vernunft hatte das Ganze nichts mehr zu tun. –

Und dennoch war nur die Vernunft Antrieb des Ganzen gewesen. Das zeigte sich, als wenig später Jacoba, nachdem sie das derangierte Kleid mit einem andern vertauscht hatte, von neuem sein Zimmer betrat. »Übrigens, Micha, du unterschreibst mir wohl, daß die Bilder der Galerie mein Eigentum sind. Es ist ja eine Selbstverständlichkeit, nicht wahr? Da der ganze erste Stock mir gehört. Also bloß eine Formalität. Bitte!« Sie schob ihm ein Blatt hin.

Michael Spranger fuhr auf und war grenzenlos nüchtern. »Wir wollen die Dinge nicht vermischen. Das Wohnrecht, sagt das Testament, nicht das Besitzrecht.«

»Aber bester Micha, ich will ja gar nicht hier wohnen. Ich will wegziehen. Ich will die Bilder nur verkaufen, um unabhängig zu sein.«

»Die Bilder verkaufen? Nie. Niemals.«

»Was liegt schon an den alten Schinken, an dieser verrückten Galerie des braven Gottwalt.«

»Frau von Tirschenreuth, ich untersage Ihnen in aller Form, auch nur ein einziges dieser, gerade dieser Bilder zu verkaufen!«

Jacoba sah ihn ganz verdutzt an. War er verrückt geworden?

»Sie brauchen mich nicht so anzusehen. Ich bin völlig klar. Ich bin der Herr dieses Hauses. Ich untersage den Verkauf auch nur eines einzigen Bildes. Sollten Sie den Versuch machen, so greift die Staatsanwaltschaft ein. Ich spaße nicht. Hüten Sie sich.«

Jacoba war wie vor den Kopf geschlagen. War dies der Ausgang ihrer Schäferstunde, dies das Ergebnis ihres Sieges? Hatte sie sich so vollkommen vergaloppiert? Hatte sie diesen Mann ganz falsch eingeschätzt? Aber warum war er so wachsbleich? Warum ereiferte er sich so, warum vergriff er sich so maßlos im Ton? Einem Ton, von dem er bei kühler Überlegung hätte wissen müssen, daß es der einzige war, der Jacobas Widerstand voll auf den Plan rief! Dahinter steckte doch etwas. Da stimmte doch etwas nicht. Ihre enttäuschte Wut schlug jäh in ein wildes Rachegelüst um. Nur mit Mühe beherrschte sie sich. »Sie haben sich selbst zuzuschreiben, was nun geschehen wird!« Mit ein paar heftigen Schritten ging sie aus dem Zimmer.

Michael tappte schwerfällig zu den Fenstern. Mühsam zog er die Jalousien hoch. Die Sonne war untergegangen. Schwarze Wolken wälzten sich über den düster brodelnden See. Ein verspätetes Herbstgewitter grollte. Der Horizont glimmte schwefelgelb.

Es roch nach Hölle.

*

An der Einbiegung der Oschatzer Allee in den Tiergarten zu Berlin hatte der Kunsthändler Carl Kapsdorf eine palaisartige Villa, in deren langhingestrecktem Erdgeschoß die Verkaufs- und Arbeitsräume seiner Kunsthandlung lagen. Er hatte dieses prunkvolle Grundstück vor einer Reihe von Jahren dank einer Serie glücklicher Verkäufe erstehen und ganz nach seinem ein wenig bizarren Geschmack ausbauen können.

Heute war ein Großkampftag. Die melodischen Glockenstangen am Toreingang das geräumigen Hauses wollten gar nicht zum Stillstand kommen. Der weltgewandte Herr von Czerna, der in den Hauptgeschäftsstunden als Empfangschef durch die mit Bildern, Plastiken und Mappen voller Stiche angefüllten Räume geisterte, bildete einen Anziehungspunkt für nichtskaufende Damen, die Kapsdorfs ständiger Ärger waren. »Barönchen«, rief Annette Mangelin lustig, »da kommt ihr pfälzischer Geschäftsfreund, der auf der Van-Gogh-Suche ist«, und stieß den kleinen, beweglichen Herrn freundschaftlich in die Seite, als ob sie ihn in Trab setzen wolle. Doch das war gar nicht nötig. Der schoß schon im Handgalopp auf den eintretenden Kunden zu und überschüttete ihn mit einem Schwall liebenswürdiger Phrasen.

»Mangelin-O, wo bleiben Sie denn mit den farbigen Fragonard-Stichen?« erklang eine die Fisteltöne streifende Stimme aus dem hinteren Verkaufsraum. Das war der Chef. Ottgebe Mangelin kniff ihre Hasenscharte ein und enteilte einem Laufkunden, der sich seit einer halben Stunde nicht für eine von zwei wenig verschiedenen chinesischen Vielfraßfiguren entscheiden konnte. Mangelin-O überließ ihrer wesentlich jüngeren Schwester Annette diesen faulen Kunden und eilte nach den Regalen der farbigen Stiche. Dort faßte sie mit sicherem Griff die richtige Mappe. Dann rannte sie nach hinten, denn der nervöse Kapsdorf wartete nicht gern. Auf dem Wege wurde sie zu ihrem Ärger von einem ziemlich verwahrlost aussehenden Menschen aufgehalten, dem man den Maler und Bohemien von weitem ansah.

»Der Olle will mich haben, ich ihn aber nicht; wenn der Ziegenbock doppelt zahlt, können wir vielleicht 'ne Sache machen.« Er hatte unwirsch begonnen und griente am Schluß seiner Rede halb höhnisch, halb unterwürfig. Eine fragwürdige Pflanze, dieser Ignaz Räscher, dachte Mangelin-O, und erstattete ihrem Chef leise Bericht.

Kapsdorf horchte auf. Eine unwillige Falte stellte zwischen seinen Brauen auf und verschwand sogleich wieder, als er sich einen Augenblick in einem venezianischen Spiegel sah. Er unterließ es diesmal auch, mit seinen schlanken, überschmalen Fingern gewohnheitsmäßig an die goldenen Bügel seiner uneingefaßten Brillengläser zu greifen, an denen er sonst bei kleinen Erregungen spitzfingerig zu rucken pflegte. Er überließ den Kunden Ottgebe Mangelin, die seit mehr denn einem Jahrzehnt bei ihm tätig war und einen Vertrauensposten in verschiedener Hinsicht innehatte, halb Prokuristin, halb private Chefsekretärin. Was Ottgebe an Schönheit abging, das ersetzte sie durch unentwegte Tüchtigkeit, während bei Annette die zarte Schönheit der Hauptanziehungspunkt war; so bildeten die beiden Schwestern das A und O dieser vornehmen Kunsthandlung.

Kapsdorf zog Ignaz Räscher in sein Privatbüro, einen merkwürdigen Raum, den Räscher noch nicht betreten hatte und in dem seine flinken kleinen Augen deshalb voller Neugier herumflitzten. Was mochte in den breiten Schränken, in den verhängten Regalen aufbewahrt sein? Sicherlich kurioses Zeug. Sein Blick blieb auf einem niederen Tischchen haften, auf dem allerlei Tinkturen und Mixturen standen; mehrere der Flaschen trugen Etiketten mit Giftkreuz. Ein kleines Fläschchen, dessen herzförmiger roter Glasstöpsel ein weißes Kreuz hatte, fiel ihm besonders auf. Er hob es hoch, besah das Etikett und fragte, was das denn für eine komische Schrift wäre.

»Sanskrit«, sagte Kapsdorf, seinen Spitzbart streichend. Dann kam er sofort auf die geforderte Übermalung eines alten Bildes mit einer modernen Landschaft zu sprechen. »Genau wie Sie Correggios ›Leda mit dem Schwan‹ so hübsch mit einer mecklenburgischen Seenlandschaft überklecksten.«

Ignaz sperrte sich, redete große Töne, daß er sich nicht mehr mißbrauchen lasse, er sei immer ein dem Höchsten dienender Künstler gewesen und Kapsdorf solle ihn mit seinen unsauberen Anträgen in Frieden lassen. Feindschaft begann zwischen beiden zu schwelen. Als Kapsdorf die Verhandlung zu lange dauerte, holte er aus dem Wandschrank einige Schuldscheine, meist kleine, unbedeutende Summen, die er mit gemachter Langsamkeit zusammenzählte. Er fragte, wann er mit der Begleichung rechnen dürfe und ob Ignaz vielleicht einen kurzfristigen Wechsel über die ganze Summe ausfüllen wolle. Da erklärte sich Räscher zu der gewünschten Arbeit bereit. Es wurde ihm zugesichert, daß bei Ablieferung auch die Schuldscheine getilgt würden. Man trennte sich, aber es lag wie Mißtrauen und Feindschaft in der dumpfen Luft des Privatbüros, in dem nie fremde Hände lüften oder reinigen durften. Beim Weggehen stieß Ignaz Räscher mit dem Ellbogen gegen eine Bronzefigur, deren unterer Rand zum Teil ausgebrochen war. »Das ist ja 'ne verdammt wackelige Venus. Das Weibsbild ist leicht zu Fall zu bringen«, sagte er ärgerlich lachend. Das zu übermalende Bild hatte er unter den Arm geklemmt.

Als Ignaz gegangen, betrat Ottgebe nach kurzem Hineinspähen den Raum. Es war mehr ein Hereinhuschen, denn ein Eintreten. Die Art dieser Person ging Kapsdorf immer wieder auf die Nerven. Aber sie war ihm aus tausend Gründen unentbehrlich. Man sprach über die beabsichtigte Aktion. Vielleicht war Ignaz Räscher nicht mehr ganz ungefährlich. »Ich glaube kaum, daß er den Veronese, den er mitbekommen hat, für echt hält«, meinte Ottgebe, was Kapsdorf nicht gelten lassen wollte, da er Räschers geistige Fähigkeiten wesentlich geringer einschätzte. Er brach das ihm unangenehme Gespräch schroff ab und fragte nach den beiden Kunden, die Ottgebe bedient hatte.

Mit einer lässigen Gebärde wie gegen eine zudringliche Fliege wehrte das späte Mädchen ab: selbstverständlich hätten beide gekauft. Dann kam sie mit klebriger Beharrlichkeit auf das vorher angeschlagene Thema zurück. Schließlich klagte man über die schlechten Zeiten. Kapsdorf strich sich mit rasender Geschwindigkeit seinen Spitzbart, was ein Zeichen seines höchsten Unwillens darstellte. Da lächelte die Hasenschartige genußsüchtig und ging mit ihren Blicken auf allen Runzeln im Gesicht ihres Chefs ausgiebig spazieren. »Die goldenen Zeiten der ›Grauen Eminenz‹ sind vorbei. Ein Jammer, daß der es nicht mehr nötig hat. Aber Sebastiano del Piombo malte auch nur, wenn er unbedingt Geld brauchte.«

Man müsse den Mann um seinen Besitz erleichtern, sann Kapsdorf vagen Möglichkeiten nach. Erbschaften könnten sich anfechten lassen.

»Man sollte einen übergangenen Erben ausfindig machen«, fiel Ottgebe hellhörig ein. »Sonst fürchte ich, daß die Graue Eminenz Ihnen auf immer entwichen ist.« Dazu lachte sie höhnisch, wodurch ihre Hasenscharte rot anlief, was durchaus nicht zur Verschönerung der fahlfarbigen Person beitrug.

Annette kam mit rotem Kopf, was ihr ausgezeichnet stand, in das Kabinett gebraust. Sofort wurde Kapsdorf kriecherisch freundlich, und Ottgebe ging in kampfbereite Gluckenstellung.

»Ein Herr von der Polizei ist da, und ich weiß nicht was er will.« Das zarte blonde Mädchen mit den großen dunkelblauen Augen bekam dabei wieder den rührend hilflosen Zug, der so unzeitgemäß war, aber merkwürdigerweise Kapsdorf und Ottgebe in ihren Gefühlen vereinte.

»Polizei?« Kapsdorf pfiff leise durch die Zähne. »Ich komme sofort.«

Ottgebe griente schadenfroh hinter ihm drein. Die Schwestern folgten dem Chef. In dem großen Verkaufsraum ging ein markanter Herr interessiert von Bild zu Bild. Kapsdorf besann sich auf seine Millionen und begrüßte den Herrn wie jeden andern Besucher von Rang mit jener Mischung von Mäzen, Kunstkenner und Kaufmann, die ihm gut zu Gesicht stand. Der Herr fragte nach einem Rembrandtstich, er wolle die berühmte »Mühle auf der Bastion«, von der Heinrich Wölfflin gesagt hatte, sie stünde da wie ein Völkerschlachtendenkmal, diesen Stich wolle er gern erwerben.

Kapsdorf rühmte den echten Kunstsinn und konnte ein kleines Amüsiertsein nur schwer unterdrücken, als er das aufrichtige Bedauern des Herrn bemerkte, der etwas ungehalten darüber war, daß er einen echten Rembrandtabzug nicht bekommen könne, da die wenigen noch vorhandenen im Besitz von Mäzenen oder in Händen von Sammlern wären, die so ein Werk erst recht nicht herzugeben willens seien. Kapsdorf empfahl eine ausgezeichnete moderne Reproduktion, und Ottgebe, die gerade nichts zu tun hatte, pflichtete ihm bei. Der Herr lehnte ab. Daran habe er nur wenig Freude.

Man sprach über den Wert und Unwert der Reproduktionen.

»Ich bin Ministerialrat in der Kriminalzentrale und habe da so viel mit Unechtem, mit Betrug und Verbrechen zu tun, daß gerade ich einen empfindsamen sechsten Sinn für das Echte habe.«

Kapsdorf und seine Assistentin nahmen diese Mitteilung mit scheinbarem Gleichmut auf. Kapsdorfs Mienen aber belebten sich und seine Augen begannen zu glitzern.

»Und wenn ich Ihnen nun eine Kopie vorlegen würde, die sich nicht im geringsten vom Original entfernt, die kein Kenner als ein Nichtoriginal ansehen würde, was meinen Sie dazu? Ist ein Kunstwerk dieser Art nicht ein doppeltes Kunstwerk, eine Einmaligkeit im schöpferischen und kunstfertigen Sinne zugleich? Ich habe einen merkwürdigen Hang für solche sonderbaren Dinge und habe mir in meinem Privatkabinett eine kleine Sammlung bewunderungswürdiger Kopien angelegt, die von höchstem Reiz ist.« Er machte eine fragende Pause, sah, daß Ottgebe erbleicht war, und fuhr darum rasch fort: »Darf ich Ihnen diese Kuriositäten vielleicht einmal zeigen? Ich betone, daß es eine rein private Sammlung ist, und daß weder Publikum noch Käufer sonst je zu ihr Zutritt haben.«

Warum betont er das? dachte der Abteilungschef der Kriminalzentrale und bekam Berufsinteresse in die Augen.

Warum spielt er so mit der Gefahr? dachte Ottgebe.

Es entstand eine kleine Spannungsatmosphäre zwischen den drei Menschen. Kapsdorf löste sich als erster daraus, ging nach seinem Kabinett und lud den Ministerialrat mit liebenswürdiger Geste ein, näher zu treten. Der Herr folgte der Aufforderung. Die Tür fugte hinter den beiden Männern lautlos in die Wand.

Ottgebe mußte sich an einen antiken Wandschrank lehnen, aber als hätte sie einer Otter getraut, riß sie ihren Rücken von ihm ab. Sie kannte die Entstehungsgeschichte dieses »antiken« Schrankes. Sie wußte alles. Eines Tages mußte ein Ende mit Schrecken kommen, das fühlte sie.

Als sie von ihrer Schwester gerufen wurde, um eine gewichtige Kundin zu bedienen, machte sie zum erstenmal seit Jahren eine Pleite. Die Kundin ging, ohne etwas gekauft zu haben; sie war entrüstet und warf einen verachtungsvollen Blick auf die minderwertige Verkäuferin.

Wieder betrat an diesem Tage ein Fremder das »Allerheiligste«. Auch seine Augen wanderten durch den Raum, aber der Blick war prüfend, abschätzend, beurteilend. Kapsdorf entnahm in Besitzerstolz und Sammlerfreude den jetzt geöffneten Wandschränken und Regalen eines der Stücke seiner geliebten Sammlung nach dem andern. Er geriet in glühenden Eifer. Es galt, diesen Gegner des Scheins zu überzeugen, zu besiegen. »Nicht wahr«, sagte er, indem er seine besten Truppen ins Feld führte, »wer soll hier noch echt von unecht unterscheiden? Ja, was ist hier noch echt und unecht? Sehen Sie hier, dieses ›Hundertgüldenblatt‹ – berühmter noch als die Mühle, die Sie suchen, aber die ich Ihnen gleich zeigen werde –, würden Sie auch nur an eine Fälschung denken, wenn Sie dieses Meisterwerk einer Kopie sehen? Und diese Fayence, in Bautzen gemacht, aber von einer alten holländischen nicht zu unterscheiden. Und was halten Sie von dieser holzgeschnitzten Madonna? Meister Pacher selber hätte sie unter seinen eigenen nicht herauskennen können.« Kapsdorf hatte die Befriedigung, daß die Miene des Ministerialrats immer erstaunter und interessierter wurde, während dieser kopfschüttelnd ein Stück nach dem andern in die Hände nahm, es hin und her drehte, es betrachtete, es untersuchte.

»Jawohl«, sagte Kapsdorf, »ich sehe es Ihnen an, Sie spüren den ungeheuren Reiz dieser Sammlung. Auch Sie überkommt angesichts dieser vollendeten Fälschungen, dieser falschen Vollendetheiten etwas von dem Schauer, den auch ich empfinde; so etwa mag einem Seiltänzer zumute sein, wenn er auf schmalstem Draht zwischen Tod und Leben balanciert. Auf der Grenze zwischen Wirklichkeit und Schein. Wo ist die Wahrheit? Wo das Wirkliche?« Kapsdorf tänzelte betriebsam hin und her. »Warum geben die Menschen Unsummen für sogenannte ›echte‹ Steine aus, wenn sie die synthetischen für einen Bruchteil der Summe bekommen können? Warum zahlen die Bildersammler schwindelnde Preise, wenn kein Sachverständiger zwischen einem Bilde und seiner Kopie unterscheiden kann? Habe ich unrecht, das eine Fiktion zu nennen? Eine dieser Einbildungen, an denen unser Leben, unsere Welt so reich ist und die uns im Grunde nur das Dasein erschweren.«

»Diese Fälschungen sind in der Tat eine Technik für sich«, warf der andere ein.

»Eine Technik, die in ihrer Art durchaus bewundernswert ist«, betonte Kapsdorf. »Hier, in diesem Regal, habe ich das ganze Material, das ich zu diesem Thema gesammelt habe. Zeitungsausschnitte, Broschüren, Photos. Darin zu blättern, ist für mich ein wirklicher Genuß. Man staunt immer wieder über die Genialität der neuen Einfälle, über die Schlauheit und Gerissenheit der menschlichen Gehirne ...«

»Und dennoch, sind die Fälscher Verbrecher.« Der Ministerialrat zündete sich eine Zigarette an.

»Zweifellos«, sagte Kapsdorf rasch, »aber mit einem genialen Einschlag. Man ist geneigt, sie zu entschuldigen da sie im Grunde nur den Snobismus der Menschen ausschlachten. Oder nennen Sie es nicht Snobismus, wenn jemand sich ein Bild nicht deshalb an die Wand hängt, weil es eben ein schönes Bild ist oder weil es ihm persönlich gefällt, sondern nur weil es von einem gewissen Rembrandt ... oder Rubens ... oder Tizian ... oder Correggio gemalt wurde? Und wenn jemandem ein alter stockfleckiger Stich lieber ist als die vielleicht viel schönere Arbeit eines zeitgenössischen Künstlers, der unglücklicherweise noch keinen Namen hat und vielleicht auch niemals einen bekommen wird, weil ... ja weil die Konkurrenz der Toten allzu groß ist?« –

Als der Ministerialrat nachdenklich nickte, fuhr Kapsdorf fort: »Mein Traum ist, eines Tages ein Buch über die Geschichte der Fälschungen zu schreiben. Man muß weit zurückgehen. Selbst Michelangelo gehört unter die Fälscher, selbst Andrea del Sarto, der dem Herzog von Mailand ein Papstbildnis Raffaels als echt verkaufte.«

Dem Herrn von der Kriminalzentrale schwirrten Namen und Anekdoten um die Ohren. Kapsdorf sprudelte das alles hervor mit jener Leidenschaft, die Kenner und Liebhaber befällt, wenn sie ihr abgöttisch angebetetes Steckenpferd genießerisch vorführen.

Das Ergebnis war, daß der Ministerialrat mit einer Rembrandt-Kopie das geheiligte Privatkabinett verließ.

Kapsdorf strahlte, als er in der offenen Tür dem weggehenden Herrn nachsah.

»Bist du wahnsinnig geworden?« flüsterte Ottgebe.

 

Im Amt bat der Abteilungschef den Leiter der Reichszentrale zur Bekämpfung von Kunstfälschungen zu sich und erzählte dem Kriminalrat von seinem Besuch im privaten Kabinett des Herrn Kapsdorf. Dann zeigte er ihm die Rembrandt-Kopie. »Eine geniale Hand ist da am Werk.«

»Wie bei der ›Leda mit dem Schwan‹ von Correggio. Das Bild mit der darübergemalten Landschaft ist in Neuyork einpassiert. Wir bekommen eben den Bericht. Ich traue der Echtheit nicht«, sagte der Kriminalrat nachdenklich.

»Verfolgen Sie bitte die Angelegenheit. Der Fuchs hat sich verraten«, antwortete nachsinnend der Entdecker der Kapsdorfschen »Kuriositätensammlung«.

*

Der Wind brauste um das Herrenhaus zu Rüsternort und fauchte in den Kaminen. Gefion hatte gesagt, ihr sei nicht wohl, und auf ihrem Zimmer gegessen. Sie mochte keinen Menschen sehen. Es wurde dunkler und dunkler draußen, ein früher Abend legte sich atembeklemmend um das Haus. Nebelfetzen jagten an den Fenstern vorbei. Wenn die Wolken für Sekunden den aufblendenden Vollmond freigaben, sah sie, wie die Schwarztannen und Weimutskiefern sich im Sturm stöhnend beugten. Die Tiere hielten sich still. Nur zwischen den Böen konnte Gefions feines Ohr ein verhaltenes Wimmern hören, aus dem sie entnahm, daß dieses Unwetter seinen Höhepunkt noch nicht erreicht haben mochte. Die Angst der Kreatur knisterte durch die Umwelt.

In solcher Nacht mochte Lady Macbeth ruhelos durch die Räume von Fotheringhay gewandert sein und sich in manischem Zwang die trockenen Hände »gewaschen« haben, immerzu gewaschen, ohne je die Schuld von ihnen abstreifen zu können. Gefion mußte an Holbeins Bild von Lady Seymour denken, die auch ständig die waschende, reibende Bewegung machte, und dann übertrugen ihre aufgepeitschten Sinne diesen furchtbaren Zwang ins Dunkle, in die Düsternis des Verbrechens. Mörderhände.

War es nicht dasselbe, ob man einen Menschen mit einem kalten Eisen getötet oder ob man ihn durch Seelenkälte ermordet hatte? Seine Seele – stranguliert. Weil man sich nicht überwinden konnte, ihm das Wort zu halten, weil man aus mädchenhaftem Trotz sich gescheut hatte zu gestehen, was man für den andern empfand. Schuldig war sie geworden. Schuldig an einer großangelegten Seele, die deswegen auf eine schiefe Bahn gekommen sein mochte.

Ein Käuzchen flog an die Scheiben und stierte in das matte Licht, das aus dem Hintergrunde des Zimmers herüberglomm.

Gefion schreckte auf. Das unheimliche Tier schlug mit, dem schweren Kopf an die klirrende Scheibe.

Und schrie. Und klagte.

 

Frau Jacoba hatte die nur ihr bekannte Tür, die in die obere Hälfte des Turmes führte, zu dem es sonst keinen Zugang gab, an dem Geheimknopf aufgedrückt. Dort oben hatte sich Jacoba einen Ruheplatz geschaffen, fernab der Menschen, zwischen Eule und Kauz. Niemand wußte davon. Die scheuen Tiere flogen sie an und ließen sich von ihr kraulen, was sie heute mechanisch tat. In der Verlassenheit dieses halb zerfallenen Turmes konnte Jacoba den Tränen des Haders mit Gott und ihrem Schicksal freien Lauf lassen. Sie rannen auf ihre Hände, die naß wurden und die sie rieb und rieb und nicht trocken bekommen konnte.

Welch ein Zufluchtsort für einen Menschen!

Aufgestaute Zärtlichkeiten, die keiner begehrte, hier fanden sie willige Freunde. Aber kein menschliches Wesen erwiderte sie. Ins Leere ging der Schrei ihrer brünstigen Sehnsucht.

Nie würde so eine Stunde mit Michael wiederkehren. Der Haß stand Wache davor. Und der Groll gegen sich selbst. Zum erstenmal in ihrem Leben hatte sie sich weggeworfen, ohne ihr Ziel zu erreichen. Zum erstenmal? Manches Mal war die Leidenschaft mit ihr durchgegangen. Und der Erfolg war der Ekel des folgenden Morgens gewesen. Ekel, der sie würgte, der ihren Stolz zerfleischte.

Was zwang sie mit unentrinnbarer Gewalt, Handlungen zu begehen, die sie dann bereute? Furchtbar ist das Los der Menschen, die geboren werden, ohne einen Zusammenhang mit Gott zu finden. Wut wurrte in ihr, weil sie sich weggeworfen hatte, vergeblich weggeworfen. Diese Wut rang mit der Profitgier. Sie riß das Käuzchen, das ihr auf die Schulter geklettert war, mit heftigem Griff herunter und schleuderte es in eine Ecke. Die Eule kreischte zornig auf, das Käuzchen mauzte. Feindschaft sprang auf. Auch hier.

Sie zürnte sich ob ihrer Unbeherrschtheit. Bisweilen haßte sie sich selber.

Ob Michael einen Ausweg wußte aus diesem Labyrinth?

Gleichgültig. Zuerst Rache nehmen. Rache für die Schande, die er ihr, der Dame, angetan. Die Anzeige wegen der Testamentsfälschung mußte morgen früh hinaus. Michael, hüte dich!

Gier fraß an ihrem Herzen.

 

Muß ich dich anzeigen? dachte Gefion in dieser Nacht zum soundsovielten Male. Ich, die ich dich geliebt und – verraten habe? Ich, die ich schuld bin an deinem Verbrechen, wenigstens sicher der Anlaß zu dem Abkommen vom geraden Wege? Wie kannst du hier einen spielen, der du nicht bist? Michael!

Wider Willen mußte sie sich gestehen, daß dieser Mann ihr auch heute noch gefährlich werden konnte, dieser Mann mit dem kühn und verwegen geschnittenen Kopf, mit seinem früh ergrauten Haar, das an den Schläfen schon weiß wurde und so dem jungen Gesicht einen packenden Rahmen verlieh. Alle Frauen sahen sich wohl nach ihm um. Wie viele mochten ihm gehört haben! Selbst diese Jacoba, das fühlte sie mit jäh erwachender Eifersucht, war diesem Manne gegenüber keineswegs gleichgültig. Da spielte irgend etwas. Die zur Schau getragene Gehässigkeit hatte sicher verschiedenartige Hintergründe. Furchtbar, dieses Haus, in das sie geraten war, wo der Totenvogel gegen die Scheiben klopfte um Mitternacht. Und jetzt – was geschah?

Ihr fuhr es eiskalt über den Rücken ... jetzt bewegte sich wieder etwas in der Wand. Ein leises, zeitweise aussetzendes Schlurfen ... Sie fühlte, wie ihr die Hände kalt wurden und die Schläfen schmerzten. Es war doch Wahn, Einbildung, Irrsinn, daß sie ein leises Atmen in den Wänden zu hören glaubte. Und doch! Ein Mensch oder Tier lauerte da! Sie wollte schreien. Aber es kam kein Ton aus ihrer Kehle.

Endlich gelang es ihr, aufzulachen und sich von dem Spuk zu befreien. Wir sind doch im zwanzigsten Jahrhundert. Ich bin ein junger Mensch einer neuen Generation, eines neuen Zeitalters.

Der Eindruck, als bewege sich jemand hinter den Tapeten, wiederholte sich nicht. Lange lauschte sie. Alles blieb still. –

Da – da war das Atmen wieder.

»Michael Wendhusen ... bist du es?!« Gefion stand vorgeneigt und spannte alle Nerven an. Deutlich glaubte sie zu hören, wie eine Ratte davonlief. Und darüber hatte sie fast den Verstand verloren. In ein paar lumpigen Minuten. Dieses verwünschte Haus!

Sie kleidete sich aus und ging zu Bett. Schlaf konnte sie nicht finden. Der innere Frieden fehlte ihr. Schuld fraß an ihrem Herzen.

 

Michael stand in seinem Zimmer, das zum Teil unter dem Saal lag. Er hatte kein Licht und starrte in Sturm und Nacht. Welcher Dämon hatte ihn hierhergeführt? Welcher Alp sich hier auf ihn gelegt? Welche Teufelin hatte ihn mit heißen Griffen verführt? Er hätte am liebsten vor sich selbst ausgespuckt. Wie schmachvoll, in diesem Hause bereitwillig sogleich einer Verlockung zu erliegen, hier wo unter demselben Dache die Frau atmete, die – sein ganzes Leben zum Guten hätte wenden können.

Die Hunde jaulten im Hof. Die Pfauen schrien im Park. Der Sturm heulte in stöhnenden Stößen um das alte Schloß, das von außen wie eine Kaserne wirkte, aber innen Leben und Geheimnisse barg, die nicht alltäglich und kommißhaft waren. Eine Eule zankte sich kreischend mit mehreren Käuzchen, die sie gell und höhnisch auszulachen schienen. Vom Modderpfuhl strich ein fauler Ruch herüber. Michael schloß das Fenster, ihm war noch nie so sterbenstraurig zumute gewesen. Was sollte aus ihm werden? Was nützten Geld und Hof, was Erfolg, was Talente, die das Glück besonderer Stunden schenkten, wenn der Mensch ein Ausgestoßener war, der sich selbst verachtete? Nichts und abermals nichts. Wer den inneren Frieden erringen könnte!

Er kannte sich nicht wieder. Was hatte die eine einzige Begegnung mit dieser Frau aus ihm gemacht, mit diesem Mädchen, dessen Bild seine Seele nie verlassen hatte? Um Gefion hatte er gearbeitet und sich in Gefahr begeben, immer in dem unterbewußten Wunsch, sie eines Tages doch noch zu erringen, zu erobern. Um sie hatte er dieses dreimal verfluchte Erbe angetreten, er, Michael Wendhusen, der ein Dichter zu werden hoffte.

Trotzig hob er den Kopf: das Böse hat sein gutes Recht in der Welt. Die Menschen mußten sich damit abfinden. Und hatten es ewig getan. Lachhaft. Er würde sich Sorgen machen.

Da stieg vor seinem inneren Auge die Bildersammlung der Ahnengalerie auf, die da oben über ihm verhängnisvoll drohte.

Es war, als ob seine Sinne da hinaufgerufen würden. Er starrte gedankenlos zur Decke und spürte mit einem Male: dort schlich ein Mensch, da oben. Da waren undefinierbare leise Geräusche. Wer hantierte da in dem Ahnensaal nach Mitternacht? Sollte er nachsehen?

Laß es gehen, wie es will! Zu Bett und geschlafen. Schluß für heute. Der Tag war erbärmlich genug gewesen. Aber Michael fand keine Ruhe. Gier fraß an seinem Herzen.

 

Über Ute lag es wie Frühlingszauber. Auf ihrem Gesicht stand das Lächeln seligen Glücks, das nur Reinheit zu schenken vermag. Sie lag in ihrem Bett und träumte. Träumte von – Hellfriede. Die Freuden des Tages und der Welt waren wie weggelöscht. Weder Pferde noch Wagen, weder Kostüm noch all der zusammenklingende Schick hatten Echo in ihren Träumen, nur das feierliche Grüßen der Leute, die ihnen begegnet waren, die in Ehrfurcht, in Staunen oder bewundernder Freude grüßten, nur das wellte an den Rand ihres Traumbewußtseins. Ute lächelte durch die für sie so unendlich friedvolle Nacht. An ihr Ohr klang nicht das Kreischen der Pfauen, nicht das Jaulen der Hunde, nicht das angstvolle Blöken der Rinder vom Gutshof her, nicht das Schreien der Eulen aus dem Turm, nicht das belfernde Lachen der Käuzchen und nicht die raschelnden Schritte in Wänden, hinter Türen und Tapeten, nicht flogen die Totenvögel gegen ihre Fenster, hinter denen nur ein inneres Licht brannte. Auf Utes völlig gelösten Zügen lag ein Schimmer des Wunderbaren, ein Abglanz jener Welt, in der Hellfriede heimisch war, und in die Ute heute nachmittag zum erstenmal einen Blick hatte tun dürfen. In den Stunden, die sie nach der Wagenfahrt bei Hellfriede gesessen hatte, war das Gespräch auf Dinge und Zusammenhänge gekommen, über die Ute noch nie nachgedacht. Nachdem am Vormittag ihr die Mutter Vertrauen geschenkt hatte, war sie dann auch von Hellfriede für voll genommen worden. Die Freundin hatte von all dem gesprochen, worin sie lebte, hatte ihr eine Ahnung zugebracht von dem Zauber des Ewigen, hatte das vor ihr geöffnet und ausgebreitet, was noch höher ist als der innere Friede: Das Wissen um die Schönheit Gottes.

* * *

 


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