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Neues Wiener Tagblatt, 15.5.1921
Die neue Bewegung, die alle Bewohner dieser Stadt wie ein Fieber befallen hat, die Siedlungsbewegung, verlangt neue Menschen. Menschen, die wie Leberecht Migge, der große Gärtner, so richtig sagt, moderne Nerven besitzen.
Wir haben es leicht, den Menschen mit den modernen Nerven zu schildern. Wir brauchen unsere Phantasie nicht anzustrengen. Sie leben schon fix und fertig, allerdings nicht in Österreich, sondern etwas weiter westlich. Die Nerven, die die Amerikaner heute besitzen, werden unsre Nachkommen erst erhalten.
Im Amerikaner ist der Städter und der Bauer nicht so scharf getrennt wie bei uns. Jeder Bauer ist ein halber Städter, jeder Städter ein halber Bauer. Der amerikanische Stadtmensch hat sich von der Natur nicht so weit entfernt wie sein europäischer Kollege oder, besser gesagt, wie sein kontinentaler Kollege. Denn auch der Engländer ist ein rechter Bauer.
Beide, Engländer und Amerikaner, empfinden das Wohnen mit anderen Leuten unter einem Dache als unerquicklichen Zustand. Jeder, arm oder reich, strebt nach seinem eigenen Heim. Und wenn es nur ein Cottage, eine verfallene Hütte mit tief herabhängendem Strohdach, wäre. Und in der Stadt spielen sie Theater und bauen Zinshäuser, deren Einzelwohnungen in zwei Stockwerken angeordnet sind, die durch eine eigene Holztreppe verbunden sind. Übereinander gestülpte Cottages.
Und da komme ich zum ersten Programmpunkte meiner Ausführungen. Der Mensch im Eigenheim wohnt in zwei Stockwerken. Er trennt sein Leben scharf in zwei Teile. In das Leben bei Tage und das in der Nacht. In Wohnen und Schlafen. Man darf sich das Leben in zwei Stockwerken nicht unbequem vorstellen. Schlafzimmer nach unserem Begriff gibt es allerdings nicht. Dazu sind sie zu klein und unwohnlich. Das einzige Möbel ist das weißlackierte Eisen- oder Messingbett. Schon ein Nachtkästchen wird man vergeblich suchen. Und Kästen gibt's schon gar nicht. Das oder besser der »closet«, der Wandschrank, wörtlich der Verschluß, tritt an Stelle der Schränke. Diese Schlafräume dienen wirklich nur zum Schlafen. Sie sind leicht aufzuräumen. Aber eines haben sie unserm Schlafzimmer voraus, sie haben nur eine Eingangstür und können niemals als Durchgangszimmer benützt werden. Des Morgens kommen alle Familienmitglieder zu gleicher Zeit herunter. Auch das Baby wird herunter gebracht und bleibt nun tagsüber bei der Mutter in den Wohnräumen.
In jeder Familie gibt es einen Tisch, um den sich die ganze Familie zur Mahlzeit versammeln kann. Also wie bei den Bauern. Denn in Wien können das nur 20 Prozent dieser Stadt tun. Wie machen's die übrigen 80 Prozent? Nun, einer sitzt beim Herd, einer hält einen Topf in der Hand, drei bei Tisch, die übrigen okkupieren die Fensterbretter.
Und nun soll jede Familie, die ein eigenes Heim bekommt, einen Tisch erhalten, der sich wie der Tisch des Bauern in der Wohnzimmerecke befindet. Wie bei den Bauern. Das wird eine schöne Revolution geben! Man hört Stimmen für und wider. »Na, na, dös tun mer not! Dös hab' ich bei den Bauern in Ober-Österreich gesehen. Dort sitz'n s' um an Tisch und essen alle aus derselben Schüssel. A na, wir san so was not g'wöhnt. Wir essen einzeln.« Und ein vorsorgender Vater meinte: »Was, um an Tisch? Daß sich meine Kinder das Wirtshausgehen angewöhnen!«
Und wenn ich das erzähle, so lachen die Leute. Aber ich weine innerlich.
Des Tisches wegen werden wir uns nicht streiten. Man wird schon bald dahinter kommen, daß das gemeinschaftliche Frühstück Geld erspart. Das Wiener Frühstück – einen Schluck Kaffee stehend am Herd und das Stück Brot, das zur Hälfte auf der Treppe, zur anderen Hälfte auf der Straße verzehrt wird –, verlangt um zehn Uhr ein Gulasch, also einen Magenbetrug, und da das Gulasch schön papriziert ist, ein Krügel Bier. Diese Mahlzeit, die der Engländer und Amerikaner nicht einmal dem Namen nach kennt, heißt bei uns Gabelfrühstück, offenbar deshalb, weil dabei nur das Messer in Aktion tritt. Man soll zwar nicht mit dem Messer essen – »aber womit essen S' denn nacher die Soß?!«
Dieses zweite Frühstück sei dem Hausvater gegönnt, so lange er sich mit dem Schluck schwarzen Kaffee zu Hause begnügen muß. Aber seine Frau wird bald dahinter kommen, daß um dieses Geld die ganze Familie einen herrlichen amerikanischen Frühstückstisch erhalten kann, so sättigend, daß man bis mittag nichts essen kann. In der amerikanischen Familie ist das Frühstück die schönste Mahlzeit. Alles ist durch den Schlaf erfrischt, das Zimmer behaglich, frisch durchlüftet und warm. Der ganze Tisch ist mit Speisen besetzt. Zuerst ißt jeder einen Apfel. Und dann teilt die Mutter das oatmeal aus, diese herrliche Speise, der Amerika seine energischen Menschen, seine Größe und seine Wohlfahrt verdankt. Die Wiener werden allerdings lange Gesichter machen, wenn ich ihnen verrate, daß oat – Hafer und meal – Speise bedeutet. Aber wir werden in Lainz den Ausflüglern die Hafergrütze nach amerikanischer Art zubereitet vorsetzen und hoffen, ganz Wien zu Haferessern zu bekehren. Was nützen uns die mit Hafer gefütterten schönen Pferde, auf die wir so stolz sind! Auch die Menschen sollten bei uns »trockene« Köpfe, ausdrucksvolle Gesichter bekommen.
Ob arm oder reich, Bauer oder Milliardär, die Hafergrütze fehlt in Amerika auf keinem Frühstückstisch. Alles übrige, der billige Fisch oder das teure Kalbskotelett, richtet sich nach den Verhältnissen. Natürlich gibt es Tee und Brot, das merkwürdigerweise auch zu Mittag und Abend serviert wird.
Das Mittagessen ist eine sehr einfache Sache. Der Vater ist nicht zu Hause, die Mutter hatte den ganzen Vormittag zu tun, um das Haus in Ordnung zu bringen. Denn einen Dienstboten hat die Hausfrau nicht. Und dieses Fehlen des dienstbaren Geistes hat es mir sich gebracht, daß die Speisen im Wohnraum zubereitet werden. Denn die Frau des Hauses hat ein Anrecht darauf, ihre Zeit nicht in der Küche, sondern im Wohnzimmer zu verbringen.
Diese Anordnung aber bedingt eine Zweiteilung des Kochens. Diese Arbeit zerfällt in zwei scharf getrennte Teile. Der eine Teil ist die Arbeit beim Feuer, die Arbeit am Herde. Der andre Teil ist die Vorarbeit und die Reinigung des Geschirres. Der erste Teil wird im Wohnzimmer, wo sich der Herd befindet, absolviert. Dazu ist allerdings notwendig, daß der Herd sich dem Blick des Bewohners so viel als möglich verbirgt.
Was ist nicht alles in Amerika erfunden worden, um dieses Problem zu lösen! Erst neulich sah ich in einem Blatte eine Photographie, vielmehr zwei Photographien. Das eine Bild zeigte einen Herd, der in einer Wandnische untergebracht war, das zweite einen Schreibtisch. Es war dieselbe Nische in der Wand: ein Druck auf einen Knopf und wie bei einem Tabernakel dreht sich, je nach Bedarf, durch elektrischen Strom getrieben das Werk um.
Aber eine solche Anordnung verlangt mehr, als die Technik hervorbringen kann. Sie verlangt Menschen, die sich vor dem Kochen nicht fürchten. Wir, die wir alle ein gelindes Grauen vor dem Kochen empfinden, ein Gefühl, das Bauern, Engländer und Amerikaner nicht besitzen, wundern uns, daß diesen Exoten in den Hotels Speiseräume geboten werden, in denen vor den speisenden Gästen gekocht wird. Rostraum hieß dieser Raum während des Krieges, Grillroom heißt er jetzt wieder. Aber der einfache Siedler wird ihn Wohnküche oder Kochzimmer nennen und wird es so nobel haben wie ein englischer Lord. Oder so ordinär wie ein österreichischer Bauer.
Wer siedeln will, muß umlernen. Das städtische Zinshauswohnen müssen wir vergessen. Wenn wir aufs Land wollen, müssen wir beim Bauern in die Schule gehen und sehen, wie er's macht. Wir müssen wohnen lernen.