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Das Sitzmöbel

Neue Freie Presse, 19.6.1898

Das Otto-Wagner-Zimmer – das moderne Schlafzimmer und Bad in der Kunstgewerbe-Abteilung des Gewerbevereines – ist schön, nicht weil, sondern obgleich es von einem Architekten herrührt. Dieser Architekt ist eben sein eigener Dekorateur gewesen. Für jeden anderen ist dieses Zimmer unrichtig, weil es seiner Eigenart nicht entspricht, daher unvollkommen, und daher kann von Schönheit nicht mehr die Rede sein. Das ist wohl ein Widerspruch.

Unter Schönheit verstehen wir die höchste Vollkommenheit. Vollständig ausgeschlossen ist daher, daß etwas Unpraktisches schön sein kann. Die erste Grundbedingung für einen Gegenstand, der auf das Prädikat »schön« Anspruch erheben will, ist, daß er gegen die Zweckmäßigkeit nicht verstößt. Der praktische Gegenstand allein ist allerdings noch nicht schön. Dazu gehört mehr. Die alten Cinquecento-Leute haben sich wohl am präzisesten ausgedrückt. Sie sagten: Ein Gegenstand, der so vollkommen ist, daß man ihm, ohne ihn zu benachteiligen, weder etwas wegnehmen noch zugeben dürfe, ist schön. Das wäre die vollkommenste, die abgeschlossenste Harmonie.

Der schöne Mann? Es ist der vollkommenste Mann, jener Mann, der durch seinen Körperbau und durch seine geistigen Eigenschaften die beste Gewähr für gesunde Nachkommen und für die Erhaltung und Ernährung einer Familie bieten kann. Das schöne Weib? Es ist das vollkommene Weib. Ihr liegt es ob, die Liebe des Mannes zu entflammen, die Kinder selbst zu stillen, ihnen eine gute Erziehung zu geben. Sie hat dann die schönsten Augen, praktische, scharfe Augen und nicht kurzsichtige, blöde, sie hat die schönste Stirne, das schönste Haar, die schönste Nase. Eine Nase, durch die man gut atmen kann. Sie hat den schönsten Mund, die schönsten Zähne, Zähne, mit denen man die Speisen am besten zerkleinern kann. Nichts in der Natur ist überflüssig, den Grad des Gebrauchswertes, verbunden mit der Harmonie zu den übrigen Teilen, nennen wir reine Schönheit.

Wir sehen also, daß sich die Schönheit eines Gebrauchsgegenstandes nur in Bezug auf seinen Zweck erklären läßt. Für ihn gibt es keine absolute Schönheit. »Seht doch, welch schöner Schreibtisch!« – »Schreibtisch? – Der ist ja häßlich!« – »Es ist aber gar kein Schreibtisch, es ist ein Billard.« – »So, ein Billard, gewiß, es ist ein schönes Billard.« – »O, sehen Sie doch, welch herrliche Zuckerzange!« – »Waaas, herrlich, ich finde diese Zuckerzange geradezu fürchterlich!« – »Aber es ist ja eine Kohlenschaufel!« – »Ja dann, gewiß, es ist eine herrliche Kohlenschaufel!« – »Welch wunderschönes Schlafzimmer Herr – setzen Sie den Namen des dümmsten Menschen her, den Sie kennen – besitzt.« – »Was, Herr X. Y. Z.? Und das finden Sie für den wunderschön?« – »Ich habe mich geirrt, es gehört für den Ober-Baurat Professor Otto Wagner, C. M. (Clubmitglied), den größten Architekten seiner Zeit.« – »Dann ist es in der Tat wunderschön.« Die schönste, malerischste Osteria mit dem echtesten Schmutz wäre für andere Leute als italienische Bauern häßlich. Und da hätten die Leute Recht.

Und so ist es auch mit jedem einzelnen Gebrauchsgegenstande. Sind z. B. die Sessel im Wagner-Zimmer schön? Für mich nicht, weil ich schlecht darauf sitze. So wird es wohl allen anderen Leuten auch gehen. Es ist aber leicht möglich, daß Otto Wagner sich auf diesen Sesseln sehr gut ausruhen kann. Für sein Schlafzimmer, also einen Raum, in dem man keine Gäste empfängt, sind sie daher, vorausgesetzt daß meine Annahme zutrifft, schön. Geformt sind sie wie die griechischen Stühle. Aber im Laufe der Jahrtausende hat die Technik des Sitzens, die Technik des Ausruhens eine bedeutende Umänderung erfahren. Sie stand nie still. Bei allen Völkern und zu allen Zeiten ist sie verschieden. Stellungen, die für uns, man denke nur an die Morgenländer, äußerst anstrengend wären, können für andere Menschen als Ausruhen gelten.

Gegenwärtig wird von einem Sessel nicht nur verlangt, daß man sich auf demselben ausruhen kann, sondern auch, daß man sich schnell ausruhen kann. Time is money. Das Ausruhen mußte daher spezialisiert werden. Nach geistiger Arbeit wird man sich in einer anderen Stellung ausruhen müssen, als nach der Bewegung im Freien. Nach dem Turnen anders als nach dem Reiten, nach dem Radfahren anders als nach dem Rudern. Ja, noch mehr. Auch der Grad der Ermüdung verlangt eine andere Technik des Ausruhens. Dieselbe wird, um das Ausruhen zu beschleunigen, durch mehrere Sitzgelegenheiten, die nacheinander benützt werden, durch mehrere Körperlagen und Stellungen geschehen müssen. Haben Sie noch nie das Bedürfnis gehabt, besonders bei großer Ermüdung, den einen Fuß über die Armlehne zu hängen? An sich eine sehr unbequeme Stellung, aber manchmal eine wahre Wohltat. In Amerika kann man sich diese Wohltat immer verschaffen, weil dort kein Mensch das bequeme Sitzen, also das schnelle Ausruhen, für unfein hält. Dort kann man auch auf einen Tisch, der nicht zum Essen dient, seine Füße ausstrecken. Hier aber findet man in der Bequemlichkeit seines Nebenmenschen etwas Beleidigendes. Gibt es doch noch Menschen, denen man auf die Nerven treten kann, wenn man die Füße im Eisenbahncoupé auf die gegenüberliegenden Sitze streckt oder sich gar hinlegt.

Die Engländer und Amerikaner, die von einer so kleinlichen Denkungsweise frei sind, sind denn auch wahre Virtuosen des Ausruhens. Im Laufe dieses Jahrhunderts haben dieselben mehr Sesseltypen erfunden, als die ganze Welt, alle Völker mit eingeschlossen, seit ihrem Bestande. Dem Grundsatze gemäß, daß jede Art der Ermüdung einen anderen Sessel verlangt, zeigt das englische Zimmer nie einen durchgehend gleichen Sesseltypus. Alle Arten von Sitzgelegenheiten sind in demselben Zimmer vertreten. Jeder kann sich seinen ihm am besten passenden Sitz aussuchen. Eine Ausnahme bilden bloß jene Räume, die nur zeitweise von allen Insassen zu demselben Zwecke benützt werden. So der Tanzsaal und das Speisezimmer. Der Drawing room aber, unser Salon, wird seiner Bestimmung gemäß leichte, also leicht transportable Sessel aufweisen. Auch sind diese nicht zum Ausruhen da, sondern um bei leichter anregender Konversation die Sitzgelegenheit zu bieten. Auf kleinen, kapriziösen Sesseln plaudert sich's leichter als im Großvaterstuhl. Daher werden auch solche Sessel – man konnte sie im Vorjahre bei der Scala'schen Weihnachtsausstellung im Österreichischen Museum sehen – von den Engländern gebaut. Die Wiener, die entweder ihre Bestimmung nicht kannten oder vielleicht einen Patentsessel für alle Sitzeventualitäten im Auge haben, nannten sie daher unpraktisch.

Überhaupt möge man mit dem Wort unpraktisch recht vorsichtig umgehen. Ich habe schon früher darauf hingewiesen, daß unter Umständen eine unbequeme Stellung bequem sein kann. Die Griechen, die von einem Sessel verlangten, daß er der Krümmung des Rückgrates recht großen Spielraum gewähre – man denke nur an die zusammengekauerten Gestalten Alma Tademas – würden auch unsere Rückenlehnen unbequem finden, da wir unsere Schulterblätter gestützt haben wollen. Und was würden sie erst zu dem amerikanischen Schaukelstuhl sagen, mit dem wir nicht einmal etwas anzufangen wissen! Wir gehen nämlich von dem Grundsatze aus, daß man sich auf einem Schaukelstuhl auch schaukeln müsse. Ich glaube, daß diese falsche Anschauung durch die falsche Benennung entstanden ist. In Amerika heißt nämlich der Stuhl »Rocker«. Mit dem Worte rocking wird aber auch eine wiegende, wippende Bewegung bezeichnet. Der Rocker ist nämlich im Prinzip nichts anderes als ein Stuhl mit zwei Beinen, bei dem die Füße des Sitzenden die Vorderbeine bilden müssen. Entstanden ist er aus dem bequemen Sitz, den man sich verschafft, wenn man den Schwerpunkt nach rückwärts verlegt, so daß die Vorderbeine gehoben werden. Die Hinterkufen des Sitzmöbels verhindern das Umkippen des Stuhles. Vorderkufen, wie unser Schaukelstuhl, hat der amerikanische Rocker nicht, da es keinem Menschen drüben einfallen würde, sich zu schaukeln. Aus diesem Grunde sieht man in manchen amerikanischen Zimmern nur Rockers, während sie hier noch recht unpopulär sind.

Praktisch soll also jeder Stuhl sein. Wenn man den Leuten daher nur praktische Sessel bauen würde, würde man ihnen die Möglichkeit bieten, sich ohne Hilfe des Dekorateurs vollkommen einzurichten. Vollkommene Möbel geben vollkommene Zimmer. Unsere Tapezierer, Architekten, Maler, Bildhauer, Dekorateure etc. mögen sich daher nur, sobald es sich um Wohnräume und nicht um Prunkräume handelt, darauf beschränken, vollkommene, praktische Möbel in den Handel zu bringen. Gegenwärtig sind wir in dieser Beziehung auf den englischen Import angewiesen, und man kann leider unseren Tischlern keinen besseren Rat geben, als diese Typen zu kopieren. Gewiß hätten unsere Tischler, wenn man ihnen nicht den Kontakt mit dem Leben durchschritten hätte, ganz ohne alle Beeinflussung ähnliche Sessel erzeugt. Denn zwischen dem Tischlermöbel einer Kulturanschauung und ein und derselben Zeit gibt es nur so kleine Unterschiede, daß sie nur dem genauen Kenner auffallen können.

Recht komisch wirkt es, wenn sich zur Neige unseres Jahrhunderts Stimmen bemerkbar machen, die gebieterisch eine Emanzipation vom englischen Einflusse zu Gunsten eines österreichischen Nationalstiles verlangen. Auf den Fahrräderbau angewendet, würde dies beiläufig so lauten: Gebt das verwerfliche Kopien englischer Fabrikate auf und nehmt euch das echte österreichische Holzrad des obersteierischen Knechtes Peter Zapfel – oder hat der Brave anders geheißen? – zum Muster. Gewiß paßt dieses Rad besser zur Alpenlandschaft als die häßlichen englischen Räder. Und das erscheint für diese Richtung die Hauptsache.

Die Möbel haben von Jahrhundert zu Jahrhundert immer mehr ihrer äußeren Form nach verwandtschaftliche Züge angenommen. Schon am Anfange dieses Jahrhunderts konnte man die Unterschiede zwischen einem Wiener Sessel und einem Londoner Chair nur schwer unterscheiden. Das war zu einer Zeit, als man wochenlang in der Postkutsche sitzen mußte, um von Wien nach London zu kommen. Und nun finden sich sonderbare Heilige, die im Zeitalter der Expreßzüge und der Telegraphen künstlich eine chinesische Mauer um uns errichten wollen. Doch das ist unmöglich. Ein gleiches Essen wird ein gleiches Eßbesteck, ein gleiches Arbeiten und ein gleiches Ausruhen einen gleichen Sessel zur Folge haben. Eine Versündigung an unserer Kultur wäre es aber, wenn man die Forderung an uns stellen würde, unsere Speisegewohnheiten aufzugeben und wie der Bauer mit der ganzen Familie aus einem Napf zu essen, bloß weil die Art unseres Essens aus England stammt. Für das Sitzen gilt dasselbe. Unsere Gewohnheiten stehen den englischen viel näher als denen des oberösterreichischen Bauers.

Unsere Tischler wären also zu denselben Resultaten gekommen, wenn man sie hätte gewähren lassen und wenn sich nicht die Architekten hineingemischt hätten. Wäre in der Annäherung der Formen dasselbe Tempo eingehalten worden, wie es seit der Renaissance- bis in die Kongresszeit eingeschlagen war, dann gäbe es auch in der Tischlerei keine Länderunterschiede mehr, wie sie in den blühenden architektenfreien Gewerben schon lange nicht mehr bestehen: im Wagenbau, in der Juwelierkunst, in der Ledergalanterie. Denn zwischen einem Londoner und Wiener Tischlerverstand besteht kein Unterschied, zwischen dem Londoner Tischler und dem Wiener Architekten liegt eine ganze Welt.


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