Herrmann Löns
Der zweckmäßige Meyer und andere Geschichten
Herrmann Löns

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Unsere Kindermädchen

Bei schönem Wetter da lockt es uns
Hinaus in die Eilenriede,
Wo uns Frau Nachtigall empfängt
Mit ihren neuesten Liede
Wir freuen uns der grünen Pracht,
Da hören wir etwas quieken,
Mit den Kinderwagen kommen an
Marie und Stiene und Fieken.
In einer Reihe rücken sie an,
Versperrend des Weges Breite,
Sie hören nicht, sie sehen nicht,
Sie kümmern sich nicht um die Leute.
Nun rette sich, wer sich retten kann,
Jetzt fangen sie an zu jagen,
Zu furchtbarem Ernst wird das lustige Wort:
»Kommt nicht untern Kinderwagen!«

Es war ein wunderschöner Maientag, als ich zum Zoologischen wollte. In alle Vorgärten protzen bunte Hyazinthen, überall reckten sich blaue Meerzwiebeln, überall leuchteten aus hellem Grün weiße Blüten. Auf jeder Dachrinne lärmten die Spatzen, in jedem Hofe die Kinder und auf jedem dritten Gartenhaus saß ein dicker Amselhahn und sang nach der Schwierigkeit. Ich war so recht vergnügt. Die Sonne schien so schön warm aus dem blauen Himmel, daß ich den langweiligen Überzieher hätte zu Hause lassen können, und dann habe ich immer so ein sonntägliches Gefühl unter der Weste. Kein bißchen Beobachter war ich, kein bißchen Nörgler, nur fröhlicher, empfänglicher, harmloser Mensch, wie alle die, die den schönen Nachmittag benutzen, um draußen unter grünenden Zweigen sich zu freuen an Mailuft und Vogelsang, an Baumblüte und bunten Blumen. Und wie ich so langsam das Trottoir entlang schlenderte, träumend und vergnügt, da hörte ich hinter mir das Rollen, Knirschen und Quieken von Kinderwagen. Und ehe ich es mich versah, da schob sich ein Wagenvorderteil links an mir vorbei, in dem die schlafende Diminutivform von Homo sapiens lag und schlief. Und wie ich etwas nach rechts ausbog, da ratschte es an meiner hochpatenten Hose und eine hübsche Klinke entdeckten meine betrübten Augen, die die scharfe Achse eines zweiten Kinderwagens dort verursacht hatte.

Ein großes Unglück war das ja nun nicht. Ich ging in den ersten besten Hausflur, pickte mir mit zwei Stecknadeln die zerrissene Stelle wieder zu und schob eiligst nach Hause, um die andere Hose anzuziehen. Ich habe nämlich immer zwei von derselben Sorte, weil ein Rock gewöhnlich doppelt so lange lebt wie eine Hose. Ich mußte eine Viertelstunde bis zu meiner Wohnung gehen. Das war auch kein Unglück. Aber es war doch immerhin ärgerlich.

Und als ich wieder auf die Straße kam, da kam mir die Luft lange nicht mehr so warm, die Sonne lange nicht mehr so goldig, der Himmel lange nicht mehr so blau, das Grün viel weniger frisch, die Blumen nicht so herrlich und der Gesang der Amsel nicht mehr so lustig vor. Und ich war nicht mehr der harmlose, unbefangene, vergnügte Maibummler, sondern der kritische, kühle Beobachter. Und da ich soeben hart unter den Kinderwagen gelitten hatte – wenn das Loch auch nicht zu sehen ist, wenn es gestopft ist, da ist es nun doch – so war es sehr natürlich, daß ich neunundneunzig Prozent meiner Aufmerksamkeit den Kindermädchen und ihren Sportwerkzeugen zuwandte.

Sie wissen, daß ich kein Unmensch bin. Sie erinnern sich vielleicht, das ich früher ganz entschieden dafür eingetreten bin, daß dem Kinderwagen das Trottoir freigegeben wird, denn in dem hastigen Verkehr der Großstadt ist auf dem Straßendamm der Kinderwagen zu sehr gefährdet. Nach den Beobachtungen, die ich aber an jenem bösen Tage machte, bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß der Kinderwagen ein ebenso gefährliches, unangenehmes Vehikel ist wie das Rad, vorausgesetzt, daß es von gedankenlosen oder rücksichtslosen Personen benutzt wird.

Ich sah nämlich bald, nachdem ich wieder auf die Straße gekommen war, zwei Kindermädchen, die in eifrigen Gespräche ihre Karren schoben. Gerade erzählte die eine: »Jeden geslagenen Abend kümmt hei und fletget ünnern Kökenfenster rümme« – und dabei mußte sie so lachen, daß sie die Welt und die Menschen völlig vergaß und einem würdigen Greis, der sich kopfzitternd mühsam an seinem Stabe fortbewegte, derartig in die Hacken jagte, daß der alte Herr nur durch schnelle Umarmung eines Laternenpfahles vor der Gefahr bewahrt blieb, seine vertikale Stellung mit einer horizontalen zu vertauschen. Die beiden Mädchen wollten sich kaput lachen und drehten sich fortwährend nach dem hilflosen Manne um, der vor Schrecken kreidebleich geworden war.

Da man nun aber beim Umdrehen das nicht sieht, was vor einem ist, so begab es sich, daß die eine einen kleinen Jungen, der auf dem Trottoir seinen Pindopp schlug, derartig anfuhr, daß er so kurz wie er war hinschlug und so heftig mit dem weichen Näschen auf den bedeutend härteren Kantenstein schlug, daß zwei rote Bächlein über seine untere Gesichtshälfte rieselten. Das veranlaßte ihn, fürchterlich zu schreien, und die beiden Mädchen, wie verrückt von dannen zu jagen.

Gerade, als sie um die Ecke bogen, kam auch eine Familie und die Ecke. Vater und Mutter bekamen je einen Puff vor den Magen. Auch hier versuchten die Mädchen ihr Heil in der Flucht, doch hatten sie sich verrechnet. Der erzürnte Familienvater hielt die eine, sein Ältester die andere fest, und nun gab es ein Hin- und Hergeschimpfe, ein Fragen und Rufen, bis die Nationale der beiden Mädchen endlich festgestellt waren.

Ich freute mich in meiner schwarzen Seele und wanderte mit bedeutend erheitertem Gemüte weiter. Auf der Theaterstraße sah ich wieder so ein Gefährt. Ein spiederiges, mageres Ding schob den Wagen. Sie interessierte sich sehr für alle Läden und fuhr, da sie auf der linken Seite war, falsch. Infolgedessen mußten alle Menschen, die ihr begegneten, ihr ausweichen. In der Königstraße sah ich sieben Ehestandslokomobilen auf einmal. Stellenweise war die Passage auf dem Trottoir völlig gehemmt dadurch. Ausweichen gab es nicht, ganz gleich, wer auch ankam. Alles mußte den Mädchen aus dem Wege gehen, denn sie selber taten es nicht. Viele Leute sah ich, die die Stirn runzelten, wenn sie gezwungen waren, von Trottoir zu gehen, manche knurrten auch etwas von »Frechheit und Unverschämtheit«, aber nur ein einziger Mensch, seines Zeichens ein Hausdiener, hatten den Mut, nicht auszuweichen, sondern blieb stehen und apostrophierte sein vis-a-vis mit den Worten: »Na, du Döllmer, hest'e Sand in Ogen?« worauf die kugelrunde, dickarmige Kleine sich endlich bequemte, ihm Platz zu machen.

Am schönsten war es aber in der Eilenriede. Ich setzte mich ziemlich vorne auf eine Bank, steckte mir eine Zigarre an und nahm ein Notizbuch heraus, in das ich in kurzer Zeit folgende Notizen schrieb:

Nr. 1. Drei auf einmal nebeneinander. Erzählen sich was. »De Stine geiht nich mehr mit den Swatten, sei hett'n anneren.« Eine Familie, die ihnen begegnete, ist gezwungen, an den Seiten des Weges Front zu machen, bis die Kavelkade vorbei ist.

Nr. 2. Rothaarig, sommersprossig, mehr Knochen wie Fleisch. Absätze schief, Haar unordentlich. Fährt falsch, an den linken Seite. Zwingt eine junge Dame, die ihren sehr elend aussehenden, anscheinend auf der Genesung befindlichen Vater am Arm führt, zum Ausweichen und veranlaßt zwei ältere Damen, die vor ihr gehen, nach rechts und links auseinander zu prallen. Als die eine sagt: »Das ist doch stark,« lacht sie frech.

Nr. 3. Groß, dick, dumm aber gutherzig. Beugt sich mit ihrem dicken roten Kopf über das Kind und fragt: »Wo hat du denn dein Flaschen?« Schiebt dabei einen Studenten hinten eins vor. Wird blau vor Scham, als der Studio sie dafür mit strenger Miene in den Wurstarm kneift.

Nr. 4. Mimma heißt sie. Schiebt Sportwagen. Schwarzhaarig, temperamentvoll. Fährt wie toll los. Alles rennt, rettet, flüchtet. Schließlich Kontretanz zwischen ihr und zwei Krankenschwestern, die nicht wissen, wo sie hin wollen. Sieht zu blödsinnig aus, dieses Hin- und Herhopfen.

Nr. 5. Zwei nebeneinander. Eine kleine Stupsnase, Plappermaul. Die andere groß und still. »Ne, so dumm bin ich nicht. Die ganze Nacht aufsitzen, wenn der Panzen bölkt! Fällt mich nich ein. Da muß man se in de Augen pusten, dann hört's auf.« Erfahrene junge Dame. Schläfrig sagt die andere: »Doktors Ida gibt se denn immer Schnaps ein.« Aber davon will die andere nichts wissen. »Ne, das mach ich nich. Das riecht man. Und denn könn' se von dot bleiben. In den Augen pusten is's Beste.« Sie schieben vorüber und zwingen einen Offizier und dessen Gattin, ihnen höflich Platz zu machen.

Nr. 6. Dickes Trampel, sogenannter Feger. Gnade dem, der sie als Frau kriegt. Handschuhnummer 8¾. Schiebt drauf los, als gelte es, einen Rekord zu brechen. Natürlich immer links. Einer Dame ins Kleid. Es rascht, aber es klatscht auch. An die Unrechte gekommen. Die eine hat einen Riß im Kleid, die andere a tempo eine Backpfeife: »Passen Se auf, daß ich Se verklage. Dazu häöben Se kein Recht. Die Kläötern kann ich nicht bezäöhlen. Ich will Se schon zeigen, was das heißt.«

Nr. 7. Gedankenlos schiebt das Mädchen gegen einen Krankenfahrstuhl, in dem eine kreidebleiche Frau liegt. Der Fahrstuhl muß plötzlich ausweichen. Der Ruck spiegelt sich in dem Gesicht der Kranken als schmerzliches Zucken um dem Mund wider.

Nr. 8. Ein junges Ehepaar. Sie werden gezwungen, sich auf einige Zeit zu trennen, denn ein Mädchen schiebt direkt auf sie los.

Nr. 9. Zwei alte Herren. »Au, Mädchen, hast'e denn keine Augen?« – »Ach entschuldichen Se, ich hab's nich gesehen.« Hat dem alten Herrn, der sich hinten auf den Stock beim Plaudern stützte, den Stock weggefahren. Beinahe wäre er gefallen.

Nr. 10. »Ich laß mich gerade so eins machen. Weißt'e so unten herum mit'n schrägen Besatz, und die Bluse mit großem Kragen.« Dabei fährt sie mir gegen die Knie, während ihre Kollegin eine junge Dame stark schrammt, wobei das Kind mit seinem schmierigen Lutschring an dem hellen Jakett entlang streift.

Nr. 11. Hält sich rechts, paßt auf. Benimmt sich überhaupt gar nicht wie ein Kindermädchen. Wird wohl geisteskrank sein.

Nr. 12. »Laß doch endlich das Blärren sein. Wenns de nich still bist, dann kriegst'e aber eins an'n Kopp.« Merkt in ihrer Wut nicht, daß sie einen ehrbaren Herrn mit dem Schirm, den sie in der Hand hat, so vor den Leib gestoßen hat, daß er alle Würde verliert.

Ich habe noch mehr notiert, aber ich glaube, das genügt Ihnen, um einzusehen, daß ich recht habe, wenn ich verlange: nicht nur die Radfahrer, die Droschken, die Reiter und die Lastwagen sind der Fahr- und Reitordnung zu unterstellen, sondern auch die Kinderwagen.

Die aber am meisten.

Und wenn es eine Gerechtigkeit auf der Welt gibt, dann muß für sie der Nummerzwang eingeführt werden.

 


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